Freitag 19. April 2024
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

1. Katechese: Johannes Paul II. – Papst der Barmherzigkeit

"Jezu, ufam tobie! Jesus, ich vertraue auf dich!" - Wortlaut der 1. Katechese 2007/08 von Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 14. Oktober 2007 im Dom zu St. Stephan.

Mit großer Freude beginne ich diese neue Reihe der Katechesen. Es ist etwas vom Schönsten im bischöflichen Dienst, den Glauben zu reflektieren, über ihn nachzudenken, über den Glauben sprechen zu dürfen. Ich vertraue den Weg, den ich dieses Jahr in den Katechesen gehen möchte, Jesus an. Ich möchte zwei Worte Jesu in den Mittelpunkt stellen: "Seid barmherzig, wie es auch euer himmlischer Vater ist!" (Lk 6,36; vgl. Mt 5,48); und das andere aus den Seligpreisungen: "Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit finden" (Mt 5,7).


Aber was heißt "Barmherzigkeit"? Was ist Erbarmen? Was meint Jesus, wenn er sagt, wir sollen so barmherzig sein wie Gottvater es ist?

 

I.
Der "Fall Arigona" hat die Öffentlichkeit tagelang bewegt. Es konnte eine Lösung gefunden werden, die human und wenigstens zum Teil positiv ist. Aber natürlich stellt sich die Frage jeden Tag in den verschiedensten Zusammenhängen immer wieder neu: "Was ist wirklich Barmherzigkeit?" Wo ist zum Beispiel die Grenze zwischen Barmherzigkeit und Leichtfertigkeit? Wo wird aus angeblicher Barmherzigkeit Unrecht? Ist manchmal Strenge barmherziger als eine Haltung "everything goes", die alles laufen lässt? Wenn etwa Eltern ihren Kindern alles erlauben, ist das barmherzig? Ist es nicht notwendig aus Liebe heraus, auch Grenzen zu ziehen? Gibt es eine Barmherzigkeit ohne Gerechtigkeit? Gehört zur Barmherzigkeit nicht immer auch eine gewisse Strenge? Die Liebe erträgt alles, aber sie fordert auch viel. Wenn es um das Gemeinwohl geht: Wo ist die Grenze zum Missbrauch? Und wenn man zu barmherzig auf der einen Seite ist, begeht man dann nicht ein Unrecht anderen gegenüber?

In der Asyldebatte etwa geht es genau um diese Frage. Wo echte Bedrohung herrscht, muss Asyl gewährt werden. Das ist ein Menschenrecht, eine Forderung der Menschlichkeit. Man darf niemanden in eine bekannte Todesgefahr hinein abschieben. Aber wie ist das mit den Einzelfällen? Wo wird etwa mit dem Asylrecht auch Missbrauch getrieben? Wo braucht es humanitäre Lösungen, die vom Recht nicht voll abgedeckt werden können, weil nicht alles genau gesetzlich geregelt sein kann? Es muss auch im Gesetz immer einen gewissen Raum für die Barmherzigkeit geben. Die alten Römer sagten schon: "summum ius - summa iniuria". Das Recht, ganz und gar und rigoros durchgezogen, wird zum Unrecht.

Was heißt Barmherzigkeit etwa in der Arbeitswelt? Überlebt der Barmherzige in dem "gnadenlosen" Konkurrenzkampf? Wer ein Geschäft zu führen hat, kann sich nicht nur auf die Seite der Barmherzigkeit stellen, sonst muss er bald das Geschäft schließen und die harte Konkurrenz schaltet ihn aus. Ist das Gesetz dieser Welt nicht vielmehr das Überleben des Stärkeren?

Was heißt Barmherzigkeit in unseren Beziehungen? Zieht der Barmherzige nicht immer den Kürzeren? Muss man nicht sich behaupten, sich durchsetzen, auch in einer Partnerschaft, in Freundschaften, in Beziehungen? Ist Barmherzigkeit nicht letztlich so etwas wie "Schwäche", lebenshinderlich? So sah es etwa Friedrich Nietzsche. Für ihn war das Christentum die "Religion der Schwachen", lebensfeindlich und kraftlos (Antichrist §5). Einen Gott des Erbarmens hielt er für buchstäblich "erbärmlich"... Mitleid war für ihn eine Sache von "Untermenschen".

Rüstet einen die Tugend des Erbarmens überhaupt genügend aus für den Lebens- und Überlebenskampf? Geht heute nicht viel Psychologie in eine ganz andere Richtung: Behaupte dich! Setz dich durch! Verwirkliche dich selbst! Denke auch einmal an dich selber! Sagen wir nicht sofort, das sei der typische säkularisierte Geist, antichristliche Trend unserer Zeit. Wir müssen sehr genau hinschauen und auf das hinhören, was Jesus uns als Weg der Barmherzigkeit gewiesen hat, auch auf das, was von Kritikern vielleicht zu Recht an Fehlhaltungen der Barmherzigkeit kritisiert wird. Ist Barmherzigkeit nicht immer auch ein wenig in Gefahr zu demütigen, andere herablassend zu behandeln? Meint die Barmherzigkeit, von der Jesus spricht, so etwas wie: "Ich bin oben und du bist unten"? Ist der heute vielfach zu beobachtende "Ego-Trend" das eigene Ich in die Mitte zu stellen - nicht auch eine gewisse Anfrage an eine vielleicht falsch, einseitig verstandene Barmherzigkeit? Ein barmherzig scheinendes Verhalten kann auch ein Deckmantel für sehr egoistische Verhaltensweisen sein, für Fehlformen, etwa wenn man versucht, durch "übermäßige Barmherzigkeit" jemanden in Abhängigkeit zu halten. Das kann eine ungeordnete "Bemutterung" sein, eine gewisse Betulichkeit, die den anderen in Unselbstständigkeit festhalten will. Es tut uns durchaus gut, uns kritisch fragen zu lassen, wenn wir von Barmherzigkeit reden, ob wir nicht auch solche Fehlformen mit diesem Wort zudecken.

Oft wird die Frage gestellt: Ist die Kirche barmherzig? In gewisser Weise kann man mit Bischof Kapellari sagen, sie ist eine "Großmacht der Barmherzigkeit". Wenn wir nur bedenken, was weltweit an Werken der Nächstenliebe durch die Kirche geschieht, dann ist das Wort keine Übertreibung. Doch sind bei uns oft Vorwürfe zu hören, die Kirche sei unbarmherzig, etwa in der schwierigen Frage der wiederverheirateten Geschiedenen. Dann müssen wir die Frage stellen: Wie sieht das aus, wenn wir Jesus die Frage vorlegen? Dreht er nicht sehr oft unsere Fragen um, etwa bei der Frage der Ehescheidung? Als er gefragt wird, warum Mose erlaubt hat, einen Scheidungsbrief auszustellen, da antwortet Jesus: "Wegen eurer Herzenshärte", das heißt, wegen eurer Unbarmherzigkeit, "hat Gott im alten Bund die Scheidung erlaubt" (vgl. Mt 19,7-8).
So muss man manchmal die Frage stellen: Ist wirklich die Kirche unbarmherzig? Zuerst müssen wir immer die Frage an uns selber stellen: Sind wir barmherzig? Wenn wir genauer hinsehen, werden wir mit vorschnellen Urteilen vorsichtiger sein. Wo ist zum Beispiel die Barmherzigkeit den Kindern gegenüber, wenn die Eltern ihr Eheband zerreißen und damit das gemeinsame Band, das die Kinder mit den Eltern verbindet?
II.
Was heißt wirklich barmherzig sein? Der Frage möchte ich in den neun Katechesen dieses Arbeitsjahres nachgehen und hoffe, dass Gott mir dazu die Kraft und auch die richtige Einsicht gibt, um in rechter Weise darüber nachdenken zu können. Wie hat Jesus seine Lehre vom barmherzigen Vater verstanden? Wie hat er sie gelebt? Wie können wir heute konkret das leben, was Jesus gesagt und vorgelebt hat?

Ich nenne ein paar Themen, die auf der "Tagesordnung", auf dem Plan für dieses Jahr stehen. Ausgangspunkt ist für mich eindeutig Papst Johannes Paul II., den man den "Papst der Barmherzigkeit" nennen kann. Warum werde ich heute zu sagen versuchen. Wir müssen dann das Zeugnis des Alten Testaments anschauen. Vielfach herrscht in Österreich noch diese schrecklich falsche Vorstellung, der Gott des Alten Testaments, sei ein zorniger Gott, der Gott des Neuen Testaments ein barmherziger. In Wirklichkeit ist die Geschichte des Volkes Gottes als ganze ein einziges großes Zeugnis von der Barmherzigkeit Gottes. Sie beginnt mit Adam und Eva, mit Abraham, Isaak und Jakob, und hat den Höhepunkt in der Sendung des Sohnes Gottes, im Kommen Jesu Christi, der uns den barmherzigen Vater voll und ganz geoffenbart hat. Wir werden bedenken, was Jesus uns gezeigt hat und welchen Preis er es sich hat kosten lassen, uns seine barmherzige Liebe zu schenken: sein Leben.

Wir werden auch in die Geschichte der Kirche hineinschauen, die so überaus reich an Zeugen der Barmherzigkeit ist. Wir können sie nicht alle zu Wort kommen lassen. Einige davon sollen uns sagen, was sie von Gottes Barmherzigkeit erfahren haben. Der Apostel Paulus etwa sagt von sich selber: "Ich habe Barmherzigkeit erfahren" (1 Tim 1,13b). Die Geschichte der Kirche ist auch reich an Werken der Barmherzigkeit, an leiblichen und geistlichen. Wir werden über diese Werke der Barmherzigkeit, wie die Tradition der Kirche sie darstellt, sprechen: "Institutionen" der Barmherzigkeit für Leib und Seele, und die zahllosen unscheinbaren, nur bei Gott aufbewahrten Taten der Barmherzigkeit.

Dann geht es um die so wichtigen aber auch schwierigen Fragen des rechten Verhältnisses von staatlicher Ordnung und dem Spielraum für die immer größere Weite der Barmherzigkeit. Wie ist das Verhältnis von der staatlich geordneten Barmherzigkeit und dem, was immer noch an spontaner Barmherzigkeit darüber hinaus zu tun ist und dem, was der Staat nicht regeln kann und wohl auch nicht regeln soll, damit immer noch die Freiheit der tätigen Nächstenliebe ihren Platz behält. Besonders brennend wird die Frage nach der Barmherzigkeit, wenn wir uns dem Thema "Schuld" zuwenden. Ist Schuld nicht immer auch eine Art von Unbarmherzigkeit, Unbarmherzigkeit anderen, sich selber und auch Gott gegenüber? Sind Diebstahl, Lüge, eheliche Untreue, nicht stets neue Formen von fehlendem Erbarmen? Fordern sie deshalb nicht erbarmungslos Bestrafung? Darf der Mörder eines unschuldig hingemordeten Kindes Erbarmen erfahren, ohne dass damit ein schweres Unrecht geschieht denen gegenüber, denen größtes Leid zugefügt wurde, den Eltern, den Geschwistern und dem Opfer selber? Muss der Mörder nicht bestraft werden? Was aber heißt Barmherzigkeit in diesem Zusammenhang? Hierher gehört auch das große Thema des "Sakraments der Barmherzigkeit", des Bußsakraments, kurzum der Beichte.
Schließlich können wir, um das "Menü" abzuschließen, die letzte Frage nicht auslassen: Wird Gott allen Menschen ewige Barmherzigkeit erweisen? Ist eine ewige Verdammnis, wenn es sie gibt, mit der Barmherzigkeit Gottes vereinbar? Im Psalm heißt es: "Dein Erbarmen will ich in Ewigkeit besingen" (Ps 88,2 LXX). Tun das nur ein paar Auserwählte, oder vielleicht viele, aber eben doch nicht alle?

Das ist in Kürze das Programm, das ich, so Gott mir die Kraft dazu gibt, in diesem Jahr in den neun Katechesen behandeln möchte. Es wird nicht ausreichen, um das große Thema Gottes Barmherzigkeit auszuschöpfen. Wir werden dieses Geheimnis sicher nicht total erfassen, vielleicht erahnen. Wir haben es in unserem Leben, in unserem Nachdenken, aber auch in unserem Tun schon erfahren, aber mehr ahnungsweise. Denn die Unendlichkeit des Erbarmens Gottes können wir weder mit unserem Verstand noch mit unserem Erleben und leider auch nicht mit unserer Barmherzigkeit ausschöpfen.
III.
Treten wir also mit einem Blick auf den Papst der Barmherzigkeit, auf Papst Johannes Paul II., in dieses große Geheimnis ein. Ich beginne mit dem 2. April 2005, seinem "dies natalis", seinem Geburtstag zum ewigen Leben. Wir erinnern uns alle an diesen unvergesslichen Tag. Schon lange hatte sich die Krankheit des Papstes hingezogen. Er konnte die Ostertage nicht mehr selber feiern. Am Ostersonntag 2005 ist er vielen unvergesslich in Erinnerung. Er erschien an seinem Fenster und wollte einen Ostergruß sagen, aber es war nur mehr eine stumme Geste des Segens und dieses unvergesslich schmerzliche Gesicht des verstummten Papstes, der nur mehr stumm leiden und den Segen geben konnte.

Ich verbrachte die Osterwoche anschließend im Heiligen Land, und am Freitag der Osteroktav hatte ich das sehr seltene Glück und Privileg, in Jerusalem im Abendmahlsaal die Heilige Messe zu feiern. Wir waren acht Kardinäle, etwa 30 Bischöfe, Priester und Laien. Der Abendmahlsaal war ganz dicht gefüllt. Zu Beginn der Messe kam die Nachricht aus Rom, der Heilige Vater liege im Sterben, jeden Moment sei mit seinem Ableben zu rechnen. Sie können sich denken, wie intensiv wir in diesem Moment im Abendmahlsaal, dort wo Jesus das Testament seiner Liebe, die Eucharistie eingesetzt hat, bei dieser Eucharistie für den Heiligen Vater gebetet haben. Am Ende der Feier kam eine gewisse Entwarnung, es gehe ihm wieder etwas besser, und mein erster Gedanke war dabei: Möge er es noch bis zum Sonntag schaffen. Der Weiße Sonntag, der Sonntag der Barmherzigkeit wäre doch das richtige Sterbedatum für Papst Johannes Paul II.

Wir erinnern uns, wie es dann weiterging. Am Samstag fiel er in Agonie. Um 20 Uhr feierte sein Sekretär, der heutige Kardinal Dziwisz, die Heilige Messe, es war die Messe vom Sonntag der Barmherzigkeit. Der Heilige Vater hat noch einige Tropfen vom kostbaren Blut und so zum letzten Mal die Kommunion empfangen. Um 21:37 Uhr ist er zum barmherzigen Vater heimgekehrt. Am Weißen Sonntag des Heiligen Jahres 2000 erklärte Papst Johannes Paul II., fortan soll dieser Sonntag nach Ostern "Sonntag der Barmherzigkeit" heißen. Gleichzeitig hat er an diesem Tag Schwester Faustyna Kowalska, die einfache Schwester aus Krakau, heilig gesprochen, die erste Heilige des neuen Jahrtausends. So endete sein irdischer Weg am Sonntag der Barmherzigkeit. Es ist schwer, in diesem Zusammentreffen nicht ein "Zeichen des Himmels" zu sehen, gewissermaßen die Unterschrift Gottes unter ein Lebensprogramm, das Papst Johannes Paul II. oft und ausdrücklich als seine Sendung bezeichnet hat. 1997 hat er in Łagiewniki, in dem Ort, wo Schwester Faustyna gelebt hat und begraben ist, gesagt: "Die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit hat in gewisser Weise das Bild meines Pontifikats geprägt" (7. Juni 1997).

So lade ich Sie jetzt ein, mit mir in den Weg von Papst Johannes Paul II. hineinzuschauen, wie er dieses Geheimnis erlebt, gelebt, durchdacht und vermittelt hat.

Bei seinem letzten Besuch in Polen es war der Abschied von seiner Heimat im Jahr 2002 hat er die neue Basilika von Łagiewniki, das Heiligtum der Göttlichen Barmherzigkeit, geweiht. Ich zitiere einige Worte aus dieser Predigt, die für mich ein Auftrag an seine polnische Heimat, aber auch an die ganze Weltkirche war, ja eine innige Bitte des Papstes und letztlich eine Bitte Jesu an unsere Zeit. Damals am 17. August 2002 sagte er in Łagiewniki: "Wie dringend braucht die heutige Welt das Erbarmen Gottes. Aus der Tiefe des menschlichen Leids erhebt sich auf allen Erdteilen der Ruf nach Erbarmen. Wo Hass und Rachsucht vorherrschen, wo Krieg das Leid und den Tod unschuldiger Menschen verursacht, überall dort ist die Gnade des Erbarmens notwendig, um den Geist und das Herz der Menschen zu versöhnen und Frieden herbeizuführen. Wo das Leben und die Würde des Menschen nicht geachtet werden, ist die erbarmende Liebe Gottes nötig, in deren Licht der unfassbare Wert jedes Menschen zum Ausdruck kommt. Wir bedürfen der Barmherzigkeit, damit jede Ungerechtigkeit in der Welt im Glanz der Wahrheit ein Ende findet."

Dann kamen die feierlichen Worte, die so etwas wie das Testament dieses großen Papstes darstellen: "In diesem Heiligtum möchte ich daher heute die Welt feierlich der Barmherzigkeit Gottes weihen mit dem innigen Wunsch, dass die Botschaft von der erbarmenden Liebe Gottes, die hier durch Schwester Faustyna verkündet wurde, alle Menschen der Erde erreichen und ihre Herzen mit Hoffnung erfüllen möge. Jene Botschaft möge, von diesem Ort ausgehend, überall in unserer geliebten Heimat und in der Welt Verbreitung finden. Möge sich die Verheißung des Herrn Jesus Christus erfüllen: Von hier wird ein Funke hervorgehen, der die Welt auf Mein endgültiges Kommen vorbereitet. Diesen Funken der Gnade Gottes müssen wir entfachen und dieses Feuer des Erbarmens an die Welt weitergeben. Im Erbarmen Gottes wird die Welt Frieden und der Mensch Glückseligkeit finden! Euch, liebe Brüder und Schwestern, vertraue ich diese Aufgabe an. Seid Zeugen der Barmherzigkeit!"

Ich denke, diese Worte des großen Papstes, die er bei seiner letzten Reise, einen Tag vor seinem Abschied, in Polen zurückgelassen hat, sind eine Art Weisung an die ganze Kirche für diese Zeit.

Dann geschah etwas Rührendes: Am Ende der Eucharistiefeier sagte der Heilige Vater spontan einige Worte der persönlichen Erinnerung, an denen man sieht, wie tief das Thema der Göttlichen Barmherzigkeit in seinem Leben verankert war, ja wie es gewissermaßen die Klammer war, die sein ganzes Leben zusammenhielt. Schon ganz am Anfang seines schweren Weges zum Priestertum steht die Begegnung mit der Botschaft der Göttlichen Barmherzigkeit, und sie war das Siegel seiner Todesstunde. Ich zitiere etwas davon, was er damals frei sagte:

"Zum Abschluss dieses feierlichen Gottesdienstes möchte ich anmerken, dass viele meiner persönlichen Erinnerungen mit diesem Ort in Verbindung stehen, mit Łagiewniki, Vorort von Krakau. Ich kam vor allem während der Besatzung durch die Nationalsozialisten hierher, als ich in der nahegelegenen Solvay-Fabrik arbeitete. Noch heute erinnere ich mich an den Weg von Borek Fałęcki nach Dębniki, den ich jeden Tag mit Holzschuhen an den Füßen zurücklegen musste, wenn ich zur Schichtarbeit ging. Wer hätte geglaubt, dass dieser Mann mit den Holzschuhen eines Tages die Basilika von der Göttlichen Barmherzigkeit in Łagiewniki bei Krakau weihen wird."

1942 war Karol Wojtyła in das "Geheimseminar" eingetreten, das Kardinal Sapieha, der mutige Erzbischof von Krakau, gegründet hat. Ein Mitseminarist, Andreas Deskur, heute Kurienkardinal im Rollstuhl, schwerkrank, machte ihn aufmerksam auf die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit von einer gewissen Schwester Faustyna Kowalska, die 1905 geboren war im Geburtsjahr von Kardinal König und 1938 33jährig gestorben war. Er wusste also damals schon von dieser einfachen Schwester, an deren Kloster er tagtäglich vorbeiging zur Zwangsarbeit in der Chemiefabrik. Er hörte schon damals von den Botschaften, die sie von Jesus bekommen hatte und in eindrucksvoller Weise in ihrem Tagebuch festhielt. Als Weihbischof von Krakau und dann als Erzbischof und Kardinal bemühte Karol Wojtyła sich sehr um die Seligsprechung von Schwester Faustyna. Er musste einige Widerstände überwinden, denn das Heilige Offizium, wie Glaubenskongregation damals hieß, hatte heftige Bedenken gegen die Schriften von Schwester Faustyna, wie sich dann herausstellte, vor allem durch fehlerhafte, missverständliche Übersetzungen. Als Papst konnte Johannes Paul II. sie dann schließlich 1993 selig- und im Jahr 2000 heiligsprechen.
IV.
Wie zentral dieses Thema in seinem Leben war, hat er immer wieder betont. Vor allem aber sah er in den Botschaften von Schwester Faustyna, die im Grunde nichts anderes sagen, als was das Evangelium uns sagt, eine Antwort auf die unbeschreiblichen Ausmaße des Bösen im 20. Jahrhundert, deren Zeuge er selber in seinem Leben wurde, die Gräuel des Nationalsozialismus, die unvorstellbaren Leiden des polnischen Volkes unter der Nazibesetzung und der nachfolgende Kommunismus. Im Rückblick auf die Jahre des Leidens hat er 1997 gesagt:

"Die Botschaft von der Göttlichen Barmherzigkeit ist mir immer nahe und lieb gewesen. Es ist, als hätte die Geschichte sie in die tragische Erfahrung des 2. Weltkrieges eingeschrieben. In diesen schweren Jahren war sie eine besondere Hilfe und eine unerschöpfliche Quelle der Hoffnung, nicht nur für das Volk von Krakau, sondern für die ganze polnische Nation. Das war auch meine persönliche Erfahrung, die ich mit mir nahm auf den Stuhl Petri, und die in gewissem Sinn das Bild meines Pontifikats prägt" (7. Juni 1997).

Nun muss man die Frage stellen: Wollte Papst Johannes Paul II. damit eine bestimmte Frömmigkeitsform besonders fördern? Sie kennen vielleicht das Bild von Krakau-Łagiewniki des barmherzigen Jesus mit den Strahlen, die von ihm ausgehen, sie kennen vielleicht den Rosenkranz der Barmherzigkeit, die Stunde der Barmherzigkeit. Er hat diese Frömmigkeitsformen sicher geschätzt, aber er hat sie selten thematisiert. Es geht dabei, so glaube ich, um etwas Umfassenderes. In den Botschaften von Schwester Faustyna fand er in einfacher Sprache das thematisiert, was die große Herausforderung für unsere Tage ist. Wir wissen nach der Lehre der Kirche: Privatoffenbarungen und hier handelt es sich um Privatoffenbarungen, auch wenn sie wie diese von der Kirche anerkannt sind sind für uns nicht verpflichtend. Niemand muss die Botschaften von Schwester Faustyna annehmen. Aber Papst Johannes Paul II. hat im Licht dieser Botschaften, die diese einfache Ordensfrau bekommen hat, ein Leben lang über das große Geheimnis der Göttlichen Barmherzigkeit nachgedacht und versucht, es auch in seine Bischofstätigkeit und schließlich in sein Papstamt einfließen zu lassen. Ich denke, es waren vor allem zwei Themen, die ihn dabei bewegt haben: das Geheimnis des Vaters und die Frage, was die Flut des Bösen in unserer Zeit eindämmen kann.

Auf diese beiden Fragen hat er immer wieder versucht, Antwort zu geben, ausdrücklich in der Enzyklika "Dives in misericordia", "Gott, der reich ist an Erbarmen". Es ist seine zweite Enzyklika, 1980 veröffentlicht, und sie steht im Zusammenhang mit der ersten und der dritten: die erste über Christus, "Redemptor hominis", kurz nach seinem Pontifikatsbeginn, die dritte 1986 über den Heiligen Geist, "Dominum et vivificantem". Die zweite also handelt vom Erbarmen und von Gottvater. Wir wissen, er hat früh seine Mutter verloren, bald starb auch sein Bruder, und er blieb mit seinem Vater alleine. Dieses große Vorbild einer gelebten Vaterschaft hat ihn zutiefst in seinem Glauben und in seiner Haltung geprägt. Papst Johannes Paul II. ist im Laufe seines Lebens immer mehr selber zu einem unvergleichlichen Bild der Vaterschaft geworden.

Ich werde nie vergessen, als in den Tagen vor seinem Begräbnis Hunderttausende, man schätzt vier Millionen, Menschen an seinem Katafalk vorbeigezogen sind. Ich habe immer wieder junge Menschen in Rom gefragt: "Was bewegt euch, warum kommt ihr her, warum steht ihr 15, 18 Stunden an, um dann kurz vorbeigehen zu können an dem aufgebahrten Papst?" Und fast unisono war immer die Antwort: "Wir haben einen Vater verloren. Er hat uns so viel gegeben."

Wenn man diese Enzyklika studiert, wenn man mit Papst Johannes Paul II., über Gott, den barmherzigen Vater, nachdenkt, dann ist er wohl selber eine Ikone, ein lebendiges Bild dieser göttlichen Vaterschaft gewesen. Wo finden wir das Bild des Vaters? Er sagt uns: in Jesus Christus. Als Philippus Jesus einmal fragt: "Zeige uns den Vater", antwortet Jesus ihm: "Schon so lange bin ich bei euch, und du hast mich nicht erkannt, Philippus? Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen" (Joh 14,9).

Jesus ist gewissermaßen das inkarnierte Erbarmen des Vaters, am schönsten ausgedrückt im Gleichnis vom verlorenen Sohn, in dem Jesus sein eigenes Verhalten und das Bild des Vaters zeigt. Papst Johannes Paul II. meditiert in dieser Enzyklika über die Frage, die ich am Anfang schon gestellt habe, die Frage Friedrich Nietzsches: Ist das Erbarmen demütigend? Ist es eine Haltung der Herablassung, die damit den anderen letztlich erniedrigt? Am Gleichnis vom verlorenen Sohn zeigt der Papst, dass es genau das nicht ist. Der Vater sieht den Sohn nicht als den Gescheiterten, als den Würdelosen, den Heruntergekommenen, den verlorenen Sohn. Er sagt zum älteren Bruder: "Dein Bruder ist wiedergefunden" (Lk 15,32). Seine Würde als Sohn wurde durch seinen Fall nicht angetastet. Der Vater sieht in ihm unvermindert den Sohn. Die Liebe des Vaters, sein Erbarmen, demütigt ihn nicht, sondern hebt ihn auf.

Und der Papst sagt, die Beziehung des Erbarmens beruht auf der gemeinsamen Erfahrung jenes Gutes, das der Mensch ist, auf der gemeinsamen Erfahrung der ihm eigenen Würde. Barmherzigkeit heißt, den anderen nicht entwürdigen, sondern ihn in seiner Würde sehen und damit aufrichten. Gerade das ermöglicht dem verlorenen Sohn - so sagt der Papst sich und seine Taten in der vollen Wahrheit zu sehen. Nur im Licht dieses völligen Angenommenseins wird es möglich, die eigene Not, das Versagen, die Last der vertanen Gaben so anzusehen, dass man sie nicht verdrängen muss und dass man bei ihrer Anerkennung nicht von ihnen erdrückt wird. Der Vater macht das Vertrauen möglich, mit denen man die eigene Wahrheit anerkennen kann, ohne von ihr erdrückt zu werden. Das Erbarmen richtet auf. Wir werden das noch im Einzelnen betrachten.
V.
Ein zweites Thema spricht der Papst immer wieder an. Es ist ein Thema, das Papst Benedikt XVI. in den zwei Jahren seines Papstamtes aufgegriffen hat, weil es offensichtlich ihn selber so bewegt hat aus seinen Gesprächen mit Papst Johannes Paul II. Es ist die bestürzende Frage: Was kann die Flut des Bösen eindämmen? Papst Johannes Paul II. hat vor allem in seinem allerletzten Buch, das kurz vor seinem Tod erschien, "Erinnerung und Identität", im Rückblick auf die Schrecken des 20. Jahrhunderts darüber ausführlich meditiert.

Ich darf ein kurzes Wort daraus zitieren: "Schwester Faustyna wurde zur Verkünderin der Wahrheit vom barmherzigen Christus und rief ins Bewusstsein, dass einzig und allein die Wahrheit, dass Gott Barmherzigkeit ist, das Übel der Ideologien aufzuwiegen vermag. Allein das Erbarmen Gottes setzt dem Bösen eine Grenze." Papst Johannes Paul hat darüber meditiert, im Rückblick auf die schrecklichen Jahre des Nationalsozialismus, in denen Polen soviel gelitten hat. Nicht die militärische Macht hat das Böse letztlich besiegt, sondern allein die Barmherzigkeit. Und darin sieht er das große Zeichen der Hoffnung, dass die tragischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts durch die Barmherzigkeit Gottes eine Grenze haben. Die scheinbare Ohnmacht Gottes gegenüber der Flut des Bösen ist in Wirklichkeit immer die Macht des Guten.

Ich möchte schließen mit einem der schönsten Gebete von Schwester Faustyna. Ich werde es nicht zur Gänze beten, da es etwas länger ist, aber ich empfehle es Ihnen. Es ist ein Gebet, in dem Schwester Faustyna darum bittet, dass die Barmherzigkeit Jesu, diese tiefste Haltung, die er gewissermaßen aus dem Herzen Gottes auf die Welt gebracht hat, uns durch und durch prägen möge, ja gewissermaßen unsere Seinsform, unsere Lebensform werden möge. (Aus: "Tagebuch der Schwester Maria Faustyna Kowalska". Seite 80-81, Parvis-Verlag, Hauteville, CH, 1990)

"Ich möchte mich ganz in Deine Barmherzigkeit umwandeln, um so ein lebendiges Abbild von Dir zu sein, o Herr, möge diese größte Eigenschaft Gottes, seine unergründliche Barmherzigkeit, durch mein Herz und meine Seele hindurch zu meinen Nächsten gelangen.
Hilf mir, o Herr, dass meine Augen barmherzig schauen, dass ich niemals nach äußerem Anschein verdächtige und richte, sondern wahrnehme, was schön ist in den Seelen meiner Nächsten und ihnen zu Hilfe komme.
Hilf mir, dass mein Gehör barmherzig wird, damit ich mich den Bedürfnissen meiner Nächsten zuneige, dass meine Ohren nicht gleichgültig bleiben für Leid und Klagen der Nächsten.
Hilf mir, Herr, dass meine Zunge barmherzig wird, dass ich niemals über meinen Nächsten abfällig rede, sondern für jeden ein Wort des Trostes und der Vergebung habe.
Hilf mir, Herr, dass meine Hände barmherzig und voll guter Taten sind, damit ich meinem Nächsten nur Gutes tue und schwerigere, mühevollere Arbeit auf mich nehme.
Hilf mir, Herr, dass meine Füße barmherzig sind, dass sie meinen Nächsten immer zu Hilfe eilen und die eigene Mattheit und Ermüdung beherrschen. Meine wahre Rast ist im Dienst am Nächsten.
Hilf mir, Herr, dass mein Herz barmherzig ist, auf dass ich alle Leiden der Nächsten empfinde, dass ich niemandem mein Herz versage, aufrichtigen Umgang auch mit denen pflege, von denen ich weiß, dass sie meine Güte missbrauchen werden; ich selbst werde mich im barmherzigsten Herzen Jesu verschließen. Über eigene Leiden will ich schweigen. Deine Barmherzigkeit, o mein Herr, soll in mir ausruhen (...)
O mein Jesus, verwandle mich in Dich, denn Du vermagst alles." (163)

Amen.
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