Alles im Leben hat seine Zeit.
Alles im Leben hat seine Zeit.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am 22. Mai 2016 (Joh 16,12-15)
Im Leben hat alles seine Zeit. Deshalb ist es so wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Umso schlimmer, wenn wir ihn verfehlen, nicht merken, wann es Zeit gewesen wäre, und zu spät dran sind, oder aus Ungeduld zu früh handeln und dadurch alles verpatzen. Berühmt sind die Worte des Weisen im Alten Testament, des Kohelet: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit: eine Zeit zum Gebären und eine Zeit zum Sterben, eine Zeit zum Pflanzen und eine Zeit zum Abernten der Pflanzen, … eine Zeit zum Niederreißen und eine Zeit zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine Zeit zum Lachen, … eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden…“
Alles hat seine Zeit. Die Kunst besteht darin, zu erfassen, wann etwas an der Zeit ist. Oft ist es einfach auch Glück, den richtigen Zeitpunkt zu treffen. Und es kann ein Unglück sein, nicht zur rechten Zeit am richtigen Ort sein zu können. Es gibt so viele verpasste Chancen in unserem Leben. Es ist bei weitem nicht immer unsere eigene Schuld, wenn wir Chancen nicht ergreifen konnten. Allzu oft hindern uns die Lebensumstände daran. Umso wichtiger ist es, Helfer zu haben, die uns beistehen, wenn es darum geht, Orientierung zu finden, Entscheidungen zu treffen.
Von einem solchen Helfer ist heute die Rede. Ihn hat Jesus versprochen. Auf ihn sollen wir vertrauen, um zur rechten Zeit das Richtige zu erkennen und zu tun. Es ist sein Geist, der Heilige Geist, den Jesus den Beistand nennt, und auch den Tröster, und den Geist der Wahrheit.
Als guter Pädagoge hat Jesus seinen Jüngern nicht alles auf einmal anvertraut, was er ihnen hätte sagen können: „Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen.“ Kein Lehrer überschüttet die Schüler mit dem ganzen Lehrstoff auf einmal. Wir brauchen ein ganzes Leben, um wenigstens ein bisschen Weisheit zu erwerben. Entscheidend ist nicht, dass wir jederzeit alles wissen, sondern dass wir im richtigen Moment die rechte Einsicht haben, was jetzt zu tun ist.
Der Heilige Geist ist so etwas wie ein „innerer Lehrer“, der uns hilft, zu unterscheiden, was wichtig und was falsch ist, was in dieser Situation zu tun oder zu lassen ist. Jesus war selber „erfüllt vom Heiligen Geist“, und er möchte, dass wir uns wie er vom Geist Gottes leiten lassen: „Wenn jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen.“
Niemand besitzt „die ganze Wahrheit“, weder die Eltern für ihre Kinder, noch die Politiker für ihr Land, nicht einmal der Papst für die ganze Kirche. „Die ganze Wahrheit“ hat und ist nur Gott. Aber wir brauchen diesen Beistand Gottes, der uns hilft, so viel Einsicht zu haben, wie wir in der konkreten Situation brauchen, so viel Weitblick, dass wir uns halbwegs orientieren können.
Wie dringend wir den Heiligen Geist brauchen, erleben wir täglich. Denn es gibt auch den Ungeist, den Geist der Lüge und Falschheit, und er kommt oft im verlockenden Gewand der Scheinwahrheit. Nicht umsonst sollen wir täglich um den Beistand des Heiligen Geistes bitten. Wir haben ihn wahrhaft nötig!
In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit führen. Denn er wird nicht aus sich selbst heraus reden, sondern er wird sagen, was er hört, und euch verkünden, was kommen wird. Er wird mich verherrlichen; denn er wird von dem, was mein ist, nehmen und es euch verkünden. Alles, was der Vater hat, ist mein; darum habe ich gesagt: Er nimmt von dem, was mein ist, und wird es euch verkünden.
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