Wer sind unsere Nächsten?
Jesus hat kein Parteiprogramm verfasst. Aber er hat einen Weg gezeigt. Dieser Weg steht allen offen. Er fordert alle täglich heraus.
Wer sind unsere Nächsten?
Jesus hat kein Parteiprogramm verfasst. Aber er hat einen Weg gezeigt. Dieser Weg steht allen offen. Er fordert alle täglich heraus.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 10. Juli 2016 (Lk 10,25-37)
Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Es ist eine Frage, die vor allem an Leistungen denkt. Was muss ich tun, leisten, damit ich gut dastehe und den Lohn des Himmels verdiene? Jesus wendet die Frage zurück an den, der sie ihm stellt: Was steht im Gesetz, also in der Bibel? Der Gesetzeslehrer muss ja die Bibel kennen. Was also liest du dort?
Der Schriftgelehrte bringt es gut auf den Punkt. Die Bibel lehrt vor allem zwei Gebote: Du sollst Gott aus ganzem Herzen lieben, und deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst! So einfach, so klar. „Handle danach, und du wirst leben!“ Jesu Antwort ist so schlicht wie das Gebot der Liebe selber.
Aber was heißt das: Liebe deinen Nächsten? Ist das so klar? In Österreich taucht immer wieder die Diskussion über diese Frage auf. Wer sind unsere Nächsten, die wir lieben sollen? Die Österreicher? Oder auch die Fremden? Aber die sind uns ja fremd. Sie sind anders. Manche von ihnen sind so anders, dass sie als Bedrohung empfunden werden. Und kann es nicht auch sein, dass sie uns wirklich zur Gefahr werden? Müssen wir nicht an unsere eigenen Leute zuerst denken?
Alle diese Fragen bewegen zur Zeit unser Land, ja ganz Europa. Sie spalten die öffentliche Meinung, führen zu politischen Polarisierungen. Hat die Bibel eine Antwort? Ja und nein! Jesus bietet keine allgemeine politische Lösung an. Er hat kein Parteiprogramm verfasst, keine politische Bewegung gegründet. Aber einen Weg hat er dennoch gezeigt. Und dieser Weg steht allen offen. Er fordert alle täglich heraus.
Jesus hat nicht allgemeine Theorien gelehrt. Er erzählt einfach eine Geschichte. Mehr nicht. Sie sagt alles. Und sie sagt es mir persönlich, unausweichlich. „Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab.“ Wie Jesus es selber oft getan hat, wenn er nach Galiläa, nach Hause zurückkehrte. Der Mann wird ausgeraubt. Halbtot liegt er in seinem Blut. Zwei Geistliche kommen vorbei. Sie haben es eilig. Sie schauen weg. Sie gehen vorbei. Die Botschaft Jesu in dieser Einzelheit der Geschichte ist klar: Fromm sein allein genügt nicht. Es kommt auf das Tun an, erst dann ist das Frommsein echt. Sie mögen gut den Gottesdienst gefeiert haben, Nächstenliebe haben sie nicht gezeigt.
Noch provokanter wird die Geschichte mit dem Samariter. Er ist ein Andersgläubiger, seine Religion ist fremd und gilt als falsch. Zwischen Juden und Samaritern ist Feindschaft. Der Schwerverletzte ist Jude. Die beiden jüdischen Geistlichen haben sich nicht um ihren Volks- und Glaubensgenossen gekümmert. Anders dieser Fremde. Er tut, was bis heute jeder Rettungsdienst tut: Stehenbleiben, hinschauen, helfen. Egal, ob es in den eigenen Terminkalender passt. Egal, ob der Verwundete einer „von uns“ ist oder „von den anderen“. Er ist ein Mensch, und der Samariter verhält sich ihm gegenüber wie ein echter Mensch.
Am Schluss hat Jesus die Frage umgedreht. Nicht: Wer ist mein Nächster? Sondern: Wem bin ich ein Nächster? Nur darauf kommt es an: was du tust!
In jener Zeit wollte ein Gesetzeslehrer Jesus auf die Probe stellen. Er fragte ihn: Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Jesus sagte zu ihm: Was steht im Gesetz? Was liest du dort? Er antwortete: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deiner Kraft und all deinen Gedanken, und: Deinen Nächsten sollst du lieben wie dich selbst. Jesus sagte zu ihm: Du hast richtig geantwortet. Handle danach, und du wirst leben. Der Gesetzeslehrer wollte seine Frage rechtfertigen und sagte zu Jesus: Und wer ist mein Nächster? Darauf antwortete ihm Jesus: Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen. Sie plünderten ihn aus und schlugen ihn nieder; dann gingen sie weg und ließen ihn halb tot liegen. Zufällig kam ein Priester denselben Weg herab; er sah ihn und ging weiter. Auch ein Levit kam zu der Stelle; er sah ihn und ging weiter. Dann kam ein Mann aus Samarien, der auf der Reise war. Als er ihn sah, hatte er Mitleid, ging zu ihm hin, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie. Dann hob er ihn auf sein Reittier, brachte ihn zu einer Herberge und sorgte für ihn. Am andern Morgen holte er zwei Denare hervor, gab sie dem Wirt und sagte: Sorge für ihn, und wenn du mehr für ihn brauchst, werde ich es dir bezahlen, wenn ich wiederkomme. Was meinst du: Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde? Der Gesetzeslehrer antwortete: Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat. Da sagte Jesus zu ihm: Dann geh und handle genauso!
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