Sie lebte ihr Christsein auf den „Straßen“ der Welt: Madeleine Delbrêl
Sie lebte ihr Christsein auf den „Straßen“ der Welt: Madeleine Delbrêl
Vor 50 Jahren, am 13. Oktober 1964, starb in Frankreich eine Frau, die als Katholikin bewusst unter Kommunisten lebte. Universitätsprofessor Josef Weismayer über Madeleine Delbrêl.
Was fasziniert Sie an Madeleine Delbrêl (1904-1964)?
Weismayer: Zum ersten Mal habe ich von Madeleine Delbrêl 1974 bei einem Vortrag von Hans Urs von Balthasar gehört. Er sprach im Auditorium Maximum der Wiener Universität von dieser Frau, die für ihn exemplarisch eine Spiritualität „mitten in der Welt“ des 20. Jahrhunderts gelebt hat. Balthasar hatte von Madeleine Delbrêl im gleichen Jahr ein kleines Bändchen mit spirituellen Texten „Gebet in einem weltlichen Leben“ übersetzt und herausgegeben. „Rues des villes – chemins de Dieu“ – „Die Straßen der Stadt sind die Wege Gottes“, so lautete der Titel einer Biographie von Madeleine Delbrêl, die 1985 erschien. Dieser Titel, den man leider in der deutschen Übersetzung nicht übernommen hat, stellt für mich eine prägnante Kurzformel ihrer spirituellen Orientierung dar.
Welche Bedeutung hatte ihre Bekehrung für ihren weiteren Weg?
Weismayer: Der geistliche Weg von Madeleine Delbrêl war nicht geradlinig. In ihrer Familie erfolgte faktisch keine religiöse Sozialisierung. Durch ihren Vater, einen höheren Eisenbahnbediensteten, kam sie in einen Literatenkreis, in dem Skeptiker und Atheisten den Ton angaben. Madeleine war eine hohe literarische Begabung. Mit einem Gedichtband erhielt sie 1926 sogar einen begehrten Literaturpreis. Aber sie erklärte, dass sie mit 15 Jahren strikt atheistisch war. 1922 formulierte sie „Gott ist tot … Es lebe der Tod!"
Verschiedene Momente führten zu einer „heftigen Bekehrung", zu einem „Aufblitzen" Gottes, wie Jacques Loew formulierte. Sie hat in einer nach ihrem Tod aufgefundenen Notiz diese Bekehrung auf den 29. März 1924 datiert und hat diesen Tag offenkundig auch immer als Gedächtnis begangen.
Jacques Loew spricht von drei Bekehrungen. Die zweite Stufe benennt er als Bekehrung zum Evangelium: In ihrer Pariser Wohnpfarre begegnet sie Kaplan Jacques Lorenzo, der sie für die Pfadfinderbewegung interessiert, der sie aber vor allem mit einer Gruppe von sozial engagierten Frauen in einem Caritaskreis zusammenführt. In dieser Zeit absolviert sie auch eine Ausbildung zur Sozialarbeiterin.
Die dritte Bekehrung geschieht 1933 mit dem Beginn ihrer sozialen Tätigkeit in einer Hochburg der Kommunisten, in der Stadt Ivry-sur-Seine in der Bannmeile von Paris. In einem Vortrag ein Monat vor ihrem plötzlichen Tod am 13. Oktober1964 erklärt sie, die atheistische Umgebung sei „ein günstiges Milieu für unsere eigene Bekehrung". Ivry war ihr Lebensraum von 1933 bis zu ihrem Tod 1964.
Ist dieser Weg, mitten unter den Menschen zu leben („ausgerüstet" mit der Taufe „allein"), ein Zukunftsweg für die Kirche?
Weismayer: Madeleine lebte ihre christliche Berufung „mitten in der Welt“, in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Diese kleinen, von ihr gegründeten „Équipes“ gibt es noch. Sie lebte das Evangelium im konkreten Dienst der Nächstenliebe, im Engagement für sozial Benachteiligte und Verfolgte. Sie lebte diese Berufung auch bewusst in der großen Gemeinschaft der Kirche, verbunden vor allem mit den pastoralen Initiativen der Kirche Frankreichs in den Vierziger- und Fünfzigerjahren, eng verbunden mit dem Experiment der Arbeiterpriester, deren Verbot 1953 sie kritisierte.
Was macht Christsein mit den Worten Delbrêls aus?
Weismayer: Es ist nicht leicht, alle Facetten ihrer Spiritualität in einer Aussage zusammenzufassen. Ich versuche es mit drei wörtlichen Zitaten:
– „Es gibt Leute, die Gott nimmt und beiseite stellt. Andere gibt es, die lässt er in der Masse, die zieht er nicht ‚aus der Welt zurück’… Wir andern, wir Leute von der Straße, glauben aus aller Kraft, dass diese Straße, dass diese Welt, auf die uns Gott gesetzt hat, für uns der Ort unserer Heiligkeit ist. Wir glauben, dass uns hier nichts Nötiges fehlt, denn wenn das Nötige fehlte, hätte Gott es uns schon gegeben."
– „Für den Christen besteht keine Möglichkeit Gott zu lieben, ohne die Menschheit zu lieben, und keine Möglichkeit, die Menschheit zu lieben, ohne alle Menschen zu lieben, und keine Möglichkeit, alle Menschen zu lieben, ohne jene Menschen zu lieben, die er kennt und zwar mit einer konkreten, tätigen Liebe."
– „Wenn wir in einer atheistischen Umwelt leben, stellt sie uns vor die Wahl: zu missionieren oder zu demissionieren."
Em. Universitätsprofessor Dr. Josef Weismayer lehrte Dogmatische Theologie an der Uni Wien.
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Madeleine Delbrêl Texte - Gedichte - Gebete. Ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von Annette Schleinzer
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