"Die Ökonomie ist immer zwischen Wachstum und Arbeitslosigkeit hin- und hergerissen", sagt Professor Tim Jackson.
"Die Ökonomie ist immer zwischen Wachstum und Arbeitslosigkeit hin- und hergerissen", sagt Professor Tim Jackson.
In der Konsumgesellschaft begebe sich der Mensch oft auf die falsche Suche nach dem Glück, sagt der britische Ökonom Tim Jackson im SONNTAG-Interview. "Tatsächlich geht es darum, ein Teil des gesellschaftlichen Lebens zu sein, Freunde und Familie zu haben, einer sinnvollen Arbeit nachzugehen."
Was ist das Dilemma des Wirtschaftswachstums, mit dem wir uns konfrontiert sehen?
Tim Jackson: Wirtschaftliches Wachstum war in der Vergangenheit zunächst aus berechtigten und vernünftigen Gründen ein Synonym für steigenden Lebensstandard der Menschen. Später wurde es ein Teil des Systems in einer kapitalistischen Gesellschaft, in der die Unternehmer die ganze Zeit Profiten hinterher jagen. Diese suchen ständig nach höherer Arbeitsproduktivität, das bedeutet, in jeder Stunde mehr aus jedem Arbeitnehmer herauszuholen. Das heißt, sie brauchen nächstes Jahr weniger Beschäftigte – außer die Wirtschaft wächst. Die Ökonomie ist immer zwischen Wachstum und Arbeitslosigkeit hin- und hergerissen. Wir setzen mit dem nicht nachhaltigen Wirtschaftswachstum fort, denn sobald wir damit aufhören, wird die Sache echt hart: Firmen verlieren ihr Geschäft, Menschen ihren Arbeitsplatz, und eine Regierung, die keine geeigneten Antworten findet, wird nicht wiedergewählt.
Sehen Sie das ganze ökonomische Modell gescheitert – und brauchen wir einen Ersatz dafür?
Tim Jackson: Das wirtschaftliche Modell ist auf vielerlei Weise zerbrochen, am offensichtlichsten seit der Finanzkrise. Wir wissen nicht wirklich, was zu tun ist. Wir versuchten auf verschiedensten Wegen, Wachstum wieder zurückzubekommen, und das hat nicht ganz geklappt. Das Finanzsystem selbst ist zutiefst fehlerhaft und hat alle Arten von Ungleichheit aufgebaut. Deshalb besteht ein klarer Auftrag, dieses Modell zu ändern. Es gilt nachzudenken: über die Dynamik von Kapitalismus, über die Art, wie Gewinn generiert wird, wie dieser in den Händen von zu wenigen Menschen konzentriert und sich nicht um die Qualität des Lebens der Ärmsten in der Gesellschaft und des Planeten kümmert.
Papst Franziskus kritisiert in seiner Enzyklika "Laudato si" das extreme Konsumverhalten. Warum sprechen Sie von einem eisernen Käfig des Konsumismus?
Tim Jackson: Im Moment scheint es so, als ob wir in einer Art Käfig gefangen sind und keinen Weg aus unserem Konsumverhalten heraus finden. Die Stäbe des Käfigs sind einerseits das Wirtschaftssystem: Unternehmen müssen sich ständig wieder neu erfinden, einer Innovation nach der anderen nachjagen, um im Wettbewerb in Führung zu bleiben. Auf der anderen Seite versetzt uns diese Neuheit als Menschen in Erregung. Irgendwie ist es für die menschliche Psyche sehr verführerisch, alle diese neuen materiellen Güter zu besitzen. Diese Neuheiten sind ein Teil davon, wie wir in der Konsumgesellschaft beginnen, materiellen Wohlstand aufzubauen – und das macht uns zu Gefangenen.
Was bedeutet Wohlstand tatsächlich für uns Menschen?
Tim Jackson: In unserer Konsumgesellschaft sind wir ständig auf der Suche nach dem Glück. Das ganze materielle Zeug, von dem angenommen wird, dass es glücklich macht, scheint uns nicht wirklich viel glücklicher zu machen. Im Prozess dieses Nachjagens verlieren wir manchmal die Sicht auf die wahre Bedeutung und den Zweck unseres Lebens. Der Mensch hat nicht nur materielle Bedürfnisse, wir haben soziale und psychologische Ziele und sogar spirituelle Wünsche. Tatsächlich geht es darum, ein Teil des gesellschaftlichen Lebens zu sein, Freunde und Familie zu haben und einer sinnvollen Arbeit, die zur Gesellschaft beiträgt, nachzugehen.
Wenn, wie Sie sagen, sinnvolle Arbeit Grundlage eines echten Wohlstands ist, wie kann Beschäftigung in Krisen- und Übergangszeiten garantiert werden?
Tim Jackson: Wenn sich Arbeitsproduktivität erhöht, kann man hohe Arbeitslosigkeit verhindern, indem man die vorhandene Arbeit gleichmäßiger auf die Bevölkerung verteilt. Das bedeutet kürzere Arbeitszeiten. Eine andere Möglichkeit besteht durch Investitionen in Dienstleistungen mit geringerer Arbeitsproduktivität und in öffentliche Güter. Eine der Rollen zum Beispiel des Staates, wie der bekannte amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Hyman Minsky einmal sagte, ist es, als Arbeitgeber der letzten Instanz zur Verfügung zu stehen. Es stellt sich die Frage, wo man die Menschen beschäftigen könnte. Gibt es keine Kinder, die Unterricht benötigen, leiden keine Menschen an schweren Krankheiten, die Pflege benötigen, gibt es keine Gebäude zu renovieren, sollen keine neuen Parks errichtet werden, gibt es keine neuen Projekte für Theater, Museen, Kinderzentren und müssen nicht religiöse Einrichtungen erhalten werden? Gibt es in der Welt nichts zu tun? Es gibt so viel zu tun, für die Verbesserung des Lebens der Menschen, inklusive des eigenen. Es besteht ein ziemlicher struktureller Mangel im Arbeitssystem, dass wir nicht tatsächlich so viele Leute beschäftigen können, als wir es in jenen Aufgaben sollten.
In dieser Wachstumsdebatte stellt sich eine Frage: Haben die Menschen in der Dritten Welt dasselbe Recht auf einen höheren Lebensstandard?
Tim Jackson: Wenn wir eine fairere Welt wollen, in der nicht jedes zehnte Kind vor seinem fünften Geburtstag stirbt, braucht es Wirtschaftswachstum in den ärmsten Ländern. Nur so können die Bedingungen des Lebens verbessert, das Einkommen der Menschen gesteigert und der Zugang zu Gesundheits- und Bildungssystemen angeboten werden. Wenn man sich die Statistiken ansieht, dann ist ganz klar, was erforderlich ist: ein durchschnittliches jährliches Pro-Kopf-Einkommen zwischen 5.000 und 10.000 US-Dollar, dann verschwindet Säuglingssterblichkeit fast völlig und die Lebenserwartung verdoppelt sich beinahe von 40 auf 75 Jahre.
Gibt es irgendeine politische Strategie, dass wir, wo wir gerade sind, dorthin kommen, wo Sie uns haben wollen?
Tim Jackson: Es gibt nicht die einzig richtige. Wenn sie gefunden worden wäre, würden wir wahrscheinlich ein wenig weiter sein. Die schwierigste Frage ist, wie man die Politik zur Notwendigkeit dieser Änderungen bringen kann. Politiker denken oft nur in Wahlperioden. Über die letzten Jahre habe ich zunehmend das Gefühl, dass dies die letzte Politikergeneration sein wird, die den Luxus hat, nicht etwas bezüglich des kaputten Wachstumsmodells tun zu müssen. Auch wenn man die ökologischen Probleme und die soziale Ungleichheit auf dem Planeten betrachtet. Besonders notwendig ist die Arbeit außerhalb des politischen Systems, um mögliche Wege des Handelns aufzuzeigen, wie man etwa verschiedene Alternativen zum Finanzsystem aufbauen kann: auf lokaler Vertrauensbasis Gemeinschaftsprojekte finanzieren, „grüne“ Anleihen schaffen, die Investitionen in Technologien für erneuerbare Energien ermöglichen. Oder Privatpersonen vergeben Kredite an Privatpersonen.
Ihr Heimatland steht vor einer Volksabstimmung über den Verbleib in der Europäischen Union. Was denken Sie darüber?
Tim Jackson: Für mein eigenes Gefühl wäre es ein großer Fehler für das Vereinigte Königreich, die Europäische Union zu verlassen. Ich hoffe wirklich, dass dies nicht geschieht. Die ökonomischen Folgen wären wahrscheinlich nicht besonders gesund, sowohl für die EU als auch das Vereinigte Königreich. Viel schlimmer wären die kulturellen und sozialen Folgen. Es würde ein Zurückdrehen der Geschichte bedeuten. Europa hat in den letzten Jahrzehnten ein hohes Niveau des Zusammenhalts und der Gemeinschaftlichkeit erreicht. Nun droht wieder das individuelle Kämpfen der Nationalstaaten gegeneinander.
Der britische Ökonom Tim Jackson (geboren 1957) lehrt als Professor für Nachhaltige Entwicklung im Zentrum für Umweltstrategien an der englischen Universität Surrey.
Tim Jackson Wohlstand ohne Wachstum
Leben und Wirtschaften in einer endlichen Welt |
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