Thomas Gass: "Die 2030-Agenda ist kein strategischer Plan mehr für die Länder des Südens, sondern eine Vision für die ganze Welt."
Thomas Gass: "Die 2030-Agenda ist kein strategischer Plan mehr für die Länder des Südens, sondern eine Vision für die ganze Welt."
"Einige Staatschefs in Europa sagen sehr offen, dass angesichts der nachhaltigen Entwicklungsziele die Staaten des Nordens auch Entwicklungsländer sind", sagt Thomas Gass, stellvertretender Generalsekretär der UN-Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten.
Vor genau einem Jahr hat Papst Franziskus seine Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York gehalten und dabei seine große Hoffnung in die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung ausgedrückt. Welches Gewicht hat seine Stimme in der Welt?
Thomas Gass: Wir haben natürlich seine Präsenz am 25. September letzten Jahres in New York sehr geschätzt, auch wie der Papst sein Gewicht mit in die Debatte gebracht hat – nicht nur was die Nachhaltigkeit generell, sondern auch den Klimaschutz betrifft. Allgemein haben Religionsführer eine sehr wesentliche Rolle einzunehmen. Wir Menschen sind nicht nur physische Wesen, sondern auch geistig-geistliche. Deswegen ist es bedeutend, dass dieser Aspekt unserer Menschheit mit eingebunden wird. Solidarität sowie ein Weltbild, das Toleranz und Nächstenliebe einbezieht, stehen im Vordergrund.
Worin besteht wirklich der Unterschied zwischen den 2015 verabschiedeten nachhaltigen Entwicklungszielen im Vergleich zu den Millenniums-Entwicklungszielen davor?
Thomas Gass: Die Millenniums-Entwicklungsziele wurden von einer Gruppe Techniker entwickelt, um die entscheidenden Probleme in Entwicklungsländern zu lösen. Im Gegensatz dazu sind die nachhaltigen Entwicklungsziele durch einen sehr partizipativen Prozess entstanden. Vertreter von Interessensgruppen, Nichtregierungsorganisationen, Privatunternehmen, der akademischen Welt, mehr als fünf Millionen befragter Einzelpersonen sowie Vertreter der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen waren eingebunden. Das Resultat ist eine gemeinsame Vision der Menschheit für das Jahr 2030. Kein strategischer Plan mehr für die Länder des Südens, sondern eine Vision für eine Welt, die im universellen Sinn anders orientiert wird, nicht nur im Sinn einiger Lösungen für den Süden.
Sind jetzt alle Staaten quasi „Entwicklungsländer“? Werden Industriestaaten stärker in die Pflicht genommen?
Thomas Gass: Ja. Einige Staatschefs in Europa sagen sehr offen, dass angesichts der nachhaltigen Entwicklungsziele die Staaten des Nordens auch Entwicklungsländer sind.
Die erfolgreiche Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele kann nicht von den Regierungen allein durchgeführt werden. Warum braucht es die Bemühungen aus allen Teilen der Gesellschaft?
Thomas Gass: Die Ziele sind sehr ambitioniert und ganzheitlich angelegt. Natürlich beinhalten sie die wichtigen öffentlichen Güter, Ziele, für die Privatunternehmen kein direktes Interesse haben, die Öffentlichkeit gefordert ist, zum Beispiel wenn es sich um Bildung oder Gesundheitsdienstleistungen in armen Ländern handelt. Gleichzeitig muss sich jedes Unternehmen überlegen: Was heißt die 2030-Agenda für uns, wo tragen wir Verantwortung, damit die Gesellschaft auf diese neue Ziele ausgerichtet werden kann?
Welche Möglichkeiten gibt es, dass sich die Privatwirtschaft einbringen kann?
Thomas Gass: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, erst einmal über den Sektor, in dem Unternehmen tätig sind, sei es Kommunikation, Energie, Wasser, Gesundheit, usw. Dann aber auch über die Angestellten. Ich sage immer gerne: Es ist nicht so wichtig, was sie mit ihrem Geld machen, sondern wie sie zu diesem Geld kommen. Der Rolle des Arbeitgebers kommt insbesondere eine hohe Bedeutung zu, wenn er auch in anderen Ländern Arbeit vergibt.
Unbedingt notwendig ist es, sich die Wertschöpfungsketten anzuschauen, um die externe Kosten in die Produkte mit einzubauen, und richtig mit den Konsumenten über die Nachhaltigkeit der einzelnen Produktionsstufen zu kommunizieren. Energiekreisläufe und Transportwege sind weitere wichtige Themen. Und nicht zu vergessen: Innovation – wie trägt man dazu bei, neue Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden?
Wie wird sich die Wirtschaft entwickeln müssen, um den Anforderungen der Ziele gerecht zu werden?
Thomas Gass: Es braucht auf jeden Fall eine gewisse wirtschaftliche Stabilität und ein entsprechendes Wirtschaftswachstum. Auch eine Wirtschaft, die auf Langfristigkeit schaut, in Menschen investiert und die den Wert der Menschen, der Arbeitnehmer schätzt. Das gibt es zwar schon, aber nicht unbedingt weit verbreitet. Dennoch sind gute Beispiele erkennbar.
Welche Rolle können Sozialunternehmer einnehmen, um den politischen Prozess zu unterstützen und eine nachhaltige Zukunft aufzubauen?
Thomas Gass: Sozialunternehmen können Vorbildcharakter haben, sie können die Meinung der Öffentlichkeit beeinflussen, sie können deutlich in ihrem eigenen Gebiet eine Wirkung erzielen und die Armut verringern. Sie können beweisen, dass es möglich ist, nachhaltig zu wachsen und gleichzeitig einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft und die Umwelt zu leisten. Aber sie können nicht die Wunderlösung für alle Probleme unserer Gesellschaft sein. Und der Rest der Gesellschaft, die Wirtschaft und Politik kann nicht die ganze Verantwortung auf sie abwälzen.
Welche Vision einer nachhaltigen Welt haben Sie persönlich?
Thomas Gass: Nach fast 30 Jahren Karriere in der Entwicklungszusammenarbeit bin ich sehr motiviert und überzeugt, dass diese Agenda eine sehr starke und breit angelegte Vision ist. Mir gefällt, dass sie die mangelnde Sicht auf die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Ländern angeht, und das Versprechen, niemanden zurückzulassen. Oder der Vorschlag, dass es eine Rechenschaftspflicht aller Staaten an ihre Bevölkerung gibt, nicht nur des Südens an den Norden, der Geldempfänger an die Geldgeber. Es muss dazu führen, dass diese Agenda zu einer Art neuen Sozialvertrag zwischen den Pflichteninhabern (Regierung) und den Rechteinhabern (Bevölkerung) wird.
Entscheidend für das Gelingen der nachhaltigen Entwicklungsziele ist auch die Finanzierung.
Thomas Gass: Die Ambitionen sind so groß, dass es nicht mehr um ein Entwicklungsprojekt geht, sondern um einen Wandel der Gesellschaft. Dafür sind nicht nur Milliarden US-Dollar nötig, sondern Billionen. Außerdem geht es darum, wirklich sämtliche Finanzflüsse in einer Wirtschaft und ihre Nachhaltigkeitswirkung zu prüfen, zu schauen wie Handelsabkommen, Steuerabkommen, Migrationsregeln die Nachhaltigkeit unterstützen. Erst wenn wir wirklich bereit sind, alles kritisch zu durchleuchten, können wir unsere Gesellschaft mobilisieren, diese Ziele umzusetzen.
Migration ist heute ein großes Thema: Wie wichtig ist die Hilfe vor Ort, die Hilfe zur Selbsthilfe in den Entwicklungsländern, dass die Menschen nicht flüchten müssen?
Thomas Gass: Wenn man das Wort „Hilfe“ benutzt, befindet sich man schon fast auf einer Schiene, die wieder zurück in die Vergangenheit führt, die Abhängigkeit von externer Hilfe. Wir müssen erreichen, dass Länder auf gleicher Ebene zusammenarbeiten. Ein Prinzip der Agenda ist, dass man niemand vernachlässigt, die verwundbarsten Mitglieder unserer Gesellschaft vorzieht und deren Widerstandsfähigkeit in Krisen von Anfang an in Entwicklungsstrategien einbaut, anstatt im Nachhinein sie mittels humanitärer Hilfe immer bedienen zu müssen. Ein wirklicher Paradigmenwechsel: Man muss die Außenstehenden in die Wirtschaft integrieren.
Im September 2015 wurde die 2030-Agenda für nachhaltige Entwicklung von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet. Sie umfasst 17 Ziele und 169 Unterziele. Zentrales Nachhaltigkeitsziel: die Armut bis 2030 auf der ganzen Welt beenden.
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