Nahost-Experte Karim El-Gawhary
Zehn Jahre nach dem „Arabischen Frühling"

Karim El-Gawhary: „Die effektivste Strategie gegen den IS ist, als Gesellschaft zusammenzustehen.“ | Foto: GEORG HOCHMUTH / APA / picturedesk.com
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Karim El-Gawhary gehört zu den profundesten und beliebtesten Auslandskorrespondenten, die über die Geschehnisse im Nahen Osten berichten. Wer kennt nicht seine Expertisen im ORF bzw. in Printmedien. Diese waren auch nach den jüngsten Attentaten gefragt.

El-Gawhary steht dem SONNTAG auch Rede und Antwort, wie es zehn Jahre nach dem „Arabischen Frühling aussieht“.

Der Anschlag in Wien beweist erneut, dass es stets ein frommer Wunsch war, dass der IS, der sogenannte Islamische Staat, mit der Rückeroberung seines Kalifats im Irak und in Syrien geschlagen war. Der IS war immer mehr als ein Territorium, er ist eine Ideologie und seine Anhänger folgen auch Strategien, die ihnen auch online vorgegeben werden.“ Das sagt Karim El-Gawhary, der Nahostexperte und Arabien-Korrespondent gegenüber dem SONNTAG

Eigentlich ging es im Interview um die Auswirkungen des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren. Aber die aktullen Ereignisse verlangten es, bei ihm nachzufragen.

El-Gawhary erinnert auch an Strategien eines mittlerweile eingestellten IS-Onlinemagazins: „In einem 2015 veröffentlichten Manifest wurde eine Dynamik beschrieben, die die militanten Islamisten für sich nutzen wollen. Die Idee war relativ einfach. Mit jedem islamistischen Anschlag in Europa wächst dort die antiislamische Stimmung. Die Folge, so hieß es in dem Manifest, wäre eine Polarisierung und wie es damals hieß, die Eliminierung der grauen Zone.“ Mit dieser sogenannten „grauen Zone“ wurde die Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Europa umschrieben, die es zu erschüttern galt.

Mit der Ausgrenzung der Muslime im Westen könnten diese so leichter in die Arme der militanten Islamisten und ihrer Ideologie getrieben werden und wären damit leicht für den IS zu rekrutieren, schrieben damals die IS-Strategen. Soweit der Journalist zu den aktuellen Ereignissen.

Karim El-Gawhary erlebte hautnah vor zehn Jahren den „Arabischen Frühling“. Eine Serie von Protesten, Aufständen und Revolutionen in der Arabischen Welt. Diese richteten sich, beginnend mit der Revolution in Tunesien, etlichen Staaten im Nahen Osten und in Nordafrika gegen die dort autoritär herrschenden Regime, die politischen und sozialen Strukturen dieser Länder. El-Gawhary hat sich im Buch „Repression und Rebellion“ damit beschäftigt, was sich seither getan hat.

  • Was sind Ihre Erkenntnisse zehn Jahre danach?

KARIM EL-GAWHARY: Oft wird es ja beschrieben als der arabische Frühling, der zum arabischen Winter geworden und Ähnliches. Ich glaube, dass das keine gute Beschreibung ist, denn es geht um einen langfristigen politischen, sozialen Prozess, der da losgetreten wurde und der alles andere als beendet ist und dem man auch nicht in Jahreszeiten beschreiben kann.

  • Hat sich die Entwicklung nicht zurückgedreht?

Nach den arabischen Aufständen haben die autokratischen Regime vielleicht mit Ausnahme Tunesien das Rad wirklich wieder zurückgedreht. Aber wir haben auch gesehen, dass das nicht nachhaltig ist. Sowohl im Sudan als auch in Algerien und im Libanon und im Irak haben schon letztes Jahr Aufstände begonnen. Der Deckel wird nicht langfristig auf dem Topf sein.

  • Die ganze Region stagniert seit Jahrzehnten. Was ist der Grund dafür?

Das ist vor allem mit den Regimen erklärbar, die überhaupt keinen politischen Spielraum lassen, auch keinen für Kreativität, Kritik und Innovation.

  • Welche Rolle hat die Religion im arabischen Raum?

Gerade in Europa ist es ja Mode, dass man auf die arabische Welt immer mit der Brille der Religion blickt. Alles versucht man über Religion bzw. den Islam zu erklären. Eine ganze Reihe von Bestsellern sind da herausgekommen, die versuchen, diese arabische Welt entweder durch Koranzitate oder durch Überlieferungen des Propheten oder Ähnliches über Religion zu erklären. Das gibt es. Ich nenne sie immer die Experten ohne Grenzen.

  • Das heißt, aus dem Blickpunkt der Religion lässt sich die Situation nicht erklären?

Ich glaube und das hoffe ich, dass mein Buch dazu ein Gegenstück darstellt. Ich versuche, die Unruhen der arabischen Welt eben nicht durch Religion zu erklären, sondern durch die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Umstände, in denen die Menschen leben. Und dabei rede ich vor allem von unseligen drei arabischen Weggefährten: Armut, Ungleichheit und Machtlosigkeit.

  • Wie zeigt sich das bei der Armut?

Die arabische Welt ist die einzige Region in der Welt, in der die extreme Armutsrate in den letzten zehn Jahren tatsächlich schon vor Covid zugenommen hat. Nehmen wir ein Land wie Ägypten. Jeder dritte lebt unter der Armutsgrenze. Das heißt, er muss mit sage und schreibe 1,3 Euro am Tag oder weniger auskommen. Dazu kommen aber auch fehlender Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, zum Beispiel eine hohe Kindersterblichkeit und ähnliche Parameter.

  • Sie haben sich auch mit der Frauenpower auf Arabisch auseinandergesetzt. Sie waren ja wesentliche Lichtgestalten in Zeiten der Rebellion. Welche Rolle haben sie heute?

Wir dürfen uns nichts vormachen. Die arabischen Gesellschaften sind patriarchalische Gesellschaften. Und da gibt es natürlich für die Frauenrechte noch einiges zu erkämpfen. Aber gerade in Ländern wie zum Beispiel in Tunesien findet so etwas auch statt.

In Ländern, die einen demokratischen Weg gegangen sind, spielen Frauen eine wichtige Rolle. Dieses Jahr diskutierte man im tunesischen Parlament zum Beispiel über die Änderung des Erbrechts, dass Frauen genauso viel erben wie Männer. Frauen haben ja in der Regel im islamischen Recht nur die Hälfte von dem, was Männer erben. Aber das ist eine Frage der Interpretation.

Denn zu Zeiten des Propheten, als dieses Recht entstanden ist, haben Frauen auf der Arabischen Halbinsel überhaupt nichts geerbt. Und das war eigentlich damals als ein Fortschritt für die Frauenrechte gedacht, dass die Frauen dann auf einmal halb so viel geerbt haben wie die Männer.

  • Ihre Berichte kommen sehr gut an, da sie die Story meistens an Schicksalen von Menschen beschreiben. Wie gelingt Ihnen der Zugang zu diesen?

Für mich ist eine gute journalistische Geschichte immer eine Geschichte. Wenn sich jemand in Österreich in seinem Fernsehsessel oder an seinem Küchentisch beim Radio-Hören zurücklehnt und sagt: ‚Mein Gott, wie würde ich mich in dieser Situation verhalten?‘, dann habe ich eine gute Geschichte gemacht. Das heißt, man muss Geschichten suchen, die nahe an den Menschen dran sind.

Man muss weniger die Exotik oder das Anderssein zeigen, sondern die Gemeinsamkeiten in der arabischen Welt. Die Menschen genauso wie in Österreich wollen ein friedliches Leben haben, ein vernünftiges Auskommen, sozial abgesichert sein, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung bekommen und Ähnliches. Diese Nähe herzustellen ist für mich eines der wichtigen Dinge. Dazu muss man immer ganz nahe dran sein.

Man muss beide Seiten gut kennen, die arabische und die österreichische, damit man die Geschichten so erzählt, dass sie gut verstanden werden.

Autor:

Stefan Hauser aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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