Aufgrund von Corona:
Anfragen bei der Caritas verdoppelt und verdreifacht

Michael Landau | Foto: Ingo Pertramer
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Das Coronavirus stellt auch die Hilfsorganisation Caritas vor eine „extrem fordernde“ Situation: Die Anzahl der Anfragen in Wien hätte sich verdoppelt, in Salzburg sogar verdreifacht, sagt Caritas-Präsident Michael Landau der Wiener Kirchenzeitung „Der Sonntag“.

AUDIO: aus dem Gespräch mit Michael Landau.

  • Was bedeutete Corona für die tägliche Arbeit der Caritas?

Michael Landau: Die Krise war für Organisationen wie die Caritas natürlich eine extrem fordernde Zeit. Ich bin den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr dankbar, mit wie viel Energie, Kreativität und Ausdauer sie sich der Situation gestellt haben und wie es bisher gelungen ist, durch diese schwierige Zeit hindurch zu kommen.

  • Hat Corona die Armut in Österreich verstärkt?

Wir haben das in der aktuellen Krise gesehen: Es sind Menschen zu uns gekommen, die nie gedacht hätten, dass sie eines Tages die Hilfe der Caritas in Anspruch nehmen müssen. Wer sich die Arbeitslosenstatistik ansieht, der weiß, wir werden einen langen Atem in der Hilfe brauchen und als Gesellschaft hier sehr genau hinschauen müssen. Die Erfahrung der Vergangenheit lehrt uns, es sind meist die Schwächsten, die in einer Krise den höchsten Preis zu bezahlen haben.

Es wird notwendig sein, sehr genau aufzupassen und alles daran zu setzen, dass aus der Gesundheitskrise von heute die nicht noch schwerere Wirtschafts- und Sozialkrise von morgen wird.

  • Ist die Caritas in dieser Zeit an die Grenzen ihres Machbaren gestoßen?

Wenn ich daran denke, dass sich die Anzahl der Anfragen in Wien verdoppelt hat, in Salzburg sogar verdreifacht, dann zeigt das, es ist eine extrem fordernde Situation gewesen. Ich denke etwa an eine junge Frau, die als Kosmetikerin gearbeitet hat und von einem Tag auf den anderen ohne Einkommen war, die von ihrer Tochter dann die Ersparnisse erbeten hat, damit sie etwas haben, von dem sie leben können. Das waren dramatische Situationen für viele Menschen.

  • Haben sich nicht auch viele ehrenamtlich für Andere engagiert?

Ja. Viele neue Freiwillige meldeten sich bei uns und es war innerhalb weniger Tage möglich, Notangebote verändert wieder in Betrieb zu nehmen. Wenn ich etwa an unsere Lebens­mittelausgabe, das Projekt Le+O in den Pfarren denke, wo wir aufgrund der Coronamaßnahmen ins Freie übersiedelt sind. Oder auch die Zustellung von Lebensmittelpaketen an Menschen, die sich nicht getraut haben, einkaufen zu gehen, oder auch das Haus nicht verlassen konnten.

Menschen haben gespürt: Es kommt jetzt auf jede und jeden Einzelnen an. Das halte ich auch für eine Chance.

  • Welche Lehren gilt es aus der Krise zu ziehen?

Zum Beispiel in der Pflege. Da war am Anfang die Schutzausrüstung ein großes Thema. Das hat uns intensiv beschäftigt. Ich hoffe, dass das eine der „lessons learned“ aus der vergangene Situation sein wird, die Krisenvorbereitung besser zu machen – national, wie auch auf europäischer Ebene.

Gleichzeitig ist vorhandene Not nochmals ein Stück deutlicher sichtbar geworden. Wenn ich an die Not einsamer Menschen denke. Diese Not war schon vor der Coronakrise ein Thema, ist aber vielfach im Verborgenen als Tabuthema in unserer Gesellschaft präsent gewesen. Das ist eine der Nöte, denen wir uns insgesamt auch als Gesellschaft stellen müssen. So etwas wie ein „Pakt gegen die Einsamkeit“ wäre wichtig.

Dazu kommt die drängende Not arbeitsloser Menschen oder das Erfordernis der Schaffung von leistbarem Wohnraum und des Zugangs zu Bildung für jedes Kind.

  • Was sehen Sie an politischen Maßnahmen als notwendig an, um ein Abrutschen von Menschen in die Armut zu verhindern?

Es gibt einige Maßnahmen, die rasch wirksam wären. Ich denke etwa an die Erhöhung der Ausgleichszulage auf 1.000 Euro. Davon hätten Mindestpensionistinnen etwas, aber auch Menschen, die sehr niedrige Sozialleistungen beziehen.

Ein zweites Thema ist die Höhe des Arbeitslosengeldes. Die Nettoersatzrate ist im internationalen Vergleich in Österreich relativ gering. Zugleich wird es wichtig sein, das Arbeitsmarktservice, das AMS zu stärken, also eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu fördern. Da geht es ganz besonders um junge Menschen.

Ein drittes Feld ist die Mindestsicherung, die durch die Sozialhilfe Neu ersetzt wurde. Ich hoffe, dass die Bundesregierung die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs, der Teile dieses Gesetzes aufgehoben hat, zum Anlass nimmt, hier noch einmal genauer hinzuschauen. Ausgangspunkt sollte die Frage sein: Was müssen wir denn tun, damit beispielsweise gerade kinderreiche Familien und besonders verletzliche Gruppen nicht auf der Strecke bleiben? Hier hoffe ich, dass so eine neue Mindestsicherung gelingt. Die Erhöhung des Mehrkindzuschlags könnte hier ein Element sein.

Vor allem aber: Nicht von der Ideologie ausgehen, sondern von der Wirklichkeit armutsbetroffener Menschen.

  • Um die Wirtschaft zu stabilisieren, wurden erhebliche Beiträge in die Hand genommen, braucht es diese auch um Armut zu vermeiden?

Es wird jetzt ebenfalls notwendig und zentral sein, ebenso bei den Ärmsten genau hinzuschauen. Eine Solidaritätsmilliarde für die Schwächsten in Österreich wäre ein wichtiges Zeichen und eine wirksame Hilfe.

Es braucht weiterhin die Balance von Wirtschaft, Sozialem, wie auch Verantwortung im Blick auf die Umwelt. Diese Balance dürfen wir jetzt nicht aus dem Blick verlieren. Hier halte ich ein Bild für nach wie vor gültig, das die deutschen Bischöfe einmal geprägt haben. Sie haben gesagt: Die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherheit in einem Land, das sind zwei Pfeiler ein und derselben Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler.

  • Sie sind seit kurzem Präsident der Caritas Europa. Was benötigt es auf der internationalen Ebene für sozialen Zusammenhalt?

Eine Pandemie kann von Nationalstaaten alleine nicht gelöst werden, das kann nur gemeinsam gelingen. Für mich macht das deutlich: Wir werden mehr Europa brauchen. Das gilt auch dort, wo es um die Klimakrise geht, um die Auseinander­setzung mit Armut, mit unfreiwilliger Migration, mit all den Aufgaben, vor denen wir als Gesellschaft insgesamt stehen. Nach meiner Überzeugung stellt sich auch die Frage: Wollen wir weiter machen wie bisher? Oder sagen wir: Was wollen wir künftig anders machen? Was lernen wir aus der Krise?

Heuer wurde die Enzyklika „Laudato Si“ von Papst Franziskus fünf Jahre alt. Ich glaube, es ist kein Zufall, dass diese Enzyklika und die UN – Sustainable Development Goals, die Nachhaltigkeitsziele, in der gleichen Zeit entstanden und als Selbstverpflichtung der Weltgemeinschaft festgehalten worden sind. Diese Ziele sind so etwas wie eine „Roadmap“, ein Plan für eine bessere Welt. Eine Welt ohne Hunger, in der Armut abgeschafft wird und in der möglichst alle Menschen faire Chancen und Perspektiven finden.

  • Sind Sie da zuversichtlich?

Ja, ich denke, dass sich letztlich eine zukunftsorientierte Perspektive durchsetzen wird, wo es darum geht, möglichst alle Menschen mitzunehmen, niemanden zurückzulassen, allen eine faire Chance zu geben, weil uns das letztlich auch miteinander guttut. Zunehmend mehr gerade auch junge Menschen spüren: Es ist ein gemeinsames Haus der Schöpfung, das uns allen anvertraut ist.

In der Katastrophenhilfe gibt es die Regel „Build Back Better“. Das heißt, wenn die Dinge zerstört sind, dann nicht nur so aufbauen, wie sie waren, sondern besser als sie waren. Und vielleicht sollten wir diese Regel auf die Erfahrungen der aktuellen Krise in Europa und weltweit anwenden: Besser aufbauen als es war.

  • Können Sie auch einmal loslassen von ihrer Tätigkeit?

Caritas ist wahrscheinlich die schönste Aufgabe, die man in der Kirche haben kann. Sie hat jeden Tag mit dem Leben der Menschen zu tun und zugleich mit dem Kern des Glaubens. Ich bin überzeugt, genau darin ist auch etwas von der befreienden Kraft des Glaubens zu spüren, in diesem Einsatz füreinander. So gesehen bin ich sehr glücklich mit meiner Aufgabe, auch wenn ich sie schon 25 Jahre machen darf.

Autor:

Stefan Hauser aus Wien & NÖ-Ost | Der SONNTAG

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