Freitag 19. April 2024
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

"Ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen" - Die Lebensschule Jesu… nur für Gerechte?"

Wortlaut der 5. Katechese von Kardinal Dr. Christoph Schönborn am am 19. Februar 2012 im Stephansdom in Wien.

Lasset uns beten! Herr Jesus Christus, du hast gesagt "Ich bin gekommen nicht um Gerechte zu berufen, sondern Sünder. Du hast gesagt, dass im Himmel mehr Freude besteht über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die der Umkehr nicht bedürfen. Lass uns erkennen, wie groß Dein Erbarmen ist, wie tief Deine Liebe, wie sehr Dein Verlangen nach unserem Heil ist. Maria, Du Sitz der Weisheit! Bitte für uns! Amen.

 

Als Jesus den Zöllner Matthäus, auch Levi genannt, in seine Nachfolge berief und mit dessen Freunden, Berufskollegen ein freudiges Festmahl hielt, gab es heftige Proteste von Seiten der Pharisäer: "Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?" – so fragen sie die Jünger Jesu. "Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten" (Mt 9, 9-13).

Heißt das: nur Sünder sind für die Nachfolge Jesu geeignet? Ist für die Nachfolge Jesu, für seine Lebensschule nur geeignet, wer ein Sünder ist, oder sich als solcher erkennt und bekennt? Haben die Gerechten in der Nachfolge Jesu gar keinen Platz? Jesus hat zur Umkehr gerufen. Wen? Die Sünder! Denn diese bedürfen der Umkehr. Die Sünder sind auf dem falschen Weg, auf Irr- und Abwegen. Sie müssen umkehren, wenn sie nicht ins Verderben laufen wollen. Das leuchtet ein. Der Ruf Jesu zur Umkehr ist drängend. "Bitte wenden", meldet das GPS, wenn wir in die falsche Richtung fahren. Unermüdlich weist Jesus auf die Notwendigkeit der Umkehr hin, noch ist Zeit dazu. Nicht mehr lange, bald schon stehst du vor dem Richter. Versöhne dich schnell noch auf dem Weg mit deinem Gegner (vgl. Mt 5, 25f; Lk 12, 58f). "Jeden Augenblick kann der Ruf erschallen: der Bräutigam kommt; dann zieht der Hochzeitszug mit den Fackeln in den Festsaal, und die Tür wird verschlossen, unwiderruflich. Sorge dafür, dass du Öl für die Fackel hast (Mt 25,1-12)… Mit einem anderen Wort: "Kehre um, solange es noch Zeit ist" (Joachim Jeremias, Neutestamentliche Theologie, 1. Teil, Gütersloh 21973, S. 151).

Wer muss umkehren? Meint es Jesus ironisch, wenn er von denen spricht, "die der Umkehr nicht bedürfen"? Im Gleichnis von dem verlorenen Schaf sagt er: "Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren" (Lk 15, 7). Meint hier Jesus die eingebildeten Gerechten? Oder meint er das ohne Ironie?

Ich finde unterschiedliche Deutungen von zwei Exegeten, die ich sehr schätze. Joachim Jeremias (1900-1979), der protestantische Exeget und überragende Kenner der jüdischen Umwelt Jesu, meint dazu: "Umkehr ist nötig nicht nur für die sogenannten Sünder, sondern ebenso, ja noch mehr für die, die nach dem Urteil der Umwelt ‚der Buße nicht bedürfen‘ (Lk 15,7), für die Anständigen und Frommen, die keine groben Sünden begangen hatten; für sie ist die Umkehr am dringlichsten" (a.a.O.). Ganz anders ein anderer evangelischer Exeget, den ich gerne lese: Adolf Schlatter (1852-1938) ist überzeugt, dass Jesus nicht ironisch von Gerechten spricht, wenn er sie gegenüber den Sündern nennt: "Wir kommen nicht zum Verständnis dessen, was Jesus tat, wenn wir den Begriff ‚gerecht‘ entleeren, sodass er nicht mehr den vollen Ernst der sittlichen Zustimmung besitzt. Wird er in eine Ironie verwandelt, so verliert auch die Verurteilung der Sünder, die Jesus den Gerechten gegenüberstellt, ihren Ernst. Die Kranken, von denen er redete, waren nach seiner Meinung ernsthaft krank; ebenso gewiss waren die Gesunden gesund. Jesus gestand den Gerechten zu, dass sie wirklich Gott gehorchten und das taten, was er befahl… Wer dieses Urteil verflüchtigt, verfällt beim anderen Glied des Gegensatzes einer Idealisierung der Sünde, die Jesu Meinung verfälscht" (A. Schlatter, Die Geschichte des Christus, Stuttgart 1921, S. 190; zit. Nach ThWNT, Bd. 1, 333).

Jesus hat sich über echte Gerechte gefreut, ob das Nathanael war, den Jesus "einen Mann ohne Falschheit" nennt (Joh 1,48), oder jener heidnische römische Hauptmann, von dem Jesus bewundernd sagt: "Einen solchen Glauben habe ich in Israel noch bei niemand gefunden" (Mt 8,10). Jesus hat Sünden nicht nur beim Namen genannt, sondern sogar über sie geweint (vgl. Lk 19,41). Eben weil die Sünde die tiefste Not des Menschen ist, wollte Jesus die Sünder zur Umkehr führen und zur wahren Gerechtigkeit bekehren: "Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen" (Mt 5,20).

Zu dieser weit größeren Gerechtigkeit sollen sich die Sünder bekehren. Und nur so können wir Jünger Jesu sein. Die Umkehr des Sünders ist die große Sehnsucht Jesu. In ihr wird offenbar, wohin Jesus uns führen will: "Ihr sollt vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist" (Mt 5,48). Das große Motiv für die Umkehr ist Gottes Freude über jedes Menschenkind, das aus der Verirrung und den Todesschatten der Sünde (vgl. Lk 1,79) heimfindet zum Vater. "Umkehr ist Freude darüber, dass Gott so gnädig ist. Ja mehr! Umkehr ist Freude Gottes [vgl. Lk 15,7.10]. Gott freut sich wie der Hirt, der ein verlorenes Tier, wie die Frau, die ihren Groschen, wie der Vater, der seinen Sohn wieder erhielt, wie der Bräutigam über die Braut (Jes 62,5)… Weil Buße heißt: aus der Vergebung leben dürfen, wieder Kind sein dürfen, darum ist Buße Freude" (J. Jeremias, a.a.O., S. 156).

Die Freude Gottes über unsere Heimkehr ist das Motiv des Rufes Jesu zur Umkehr. Gottes Trauer und Zorn, wenn wir diese biblischen Bilder gebrauchen dürfen, sind Ausdruck des Dramas der Sünde. Weil keiner verloren gehen soll, geht Gott dem Sünder nach, der auf dem Weg zum Tod ist. Weil Gott will, dass seine Kinder leben, deshalb ist er bis zum Äußersten gegangen: Er hat seinen Sohn in den Tod gegeben, um uns "der Macht der Finsternis zu entreißen" (Kol 1,13). Das macht aber auch deutlich, "Welches Gewicht die Sünde hat" (Anselm von Canterbury, Cur Deus homo I,21; vgl. mein Buch "Jesus nachfolgen im Alltag. Impulse zur Vertiefung des Glaubens", Freiburg 2004, S. 117f). Was heißt das für die Jüngerschaft, für die Lebensschule Jesu?

I. "Er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen"

Schon der Name "Jesus" hat mit Sünde zu tun: "Du sollst ihm den Namen Jeshua – Jesus – geben; denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen" (Mt 1,21), so die Botschaft des Engels an Josef. Zacharias, vom Geist erfüllt, sagt über seinen Sohn Johannes, den künftigen Täufer: "Du wirst sein Volk mit der Erfahrung des Heils beschenken in der Vergebung der Sünden" (Lk 1,77).

In der Nachfolge Christi, in der Lebensschule Jesu, geht es nicht nur um eine Nachahmung, eine imitatio Christi als des großen Vorbildes. Zuerst geht es um eine Heilserfahrung, ein Heilwerden. Es geht um die Befreiung von der Sünde, die Erlösung, die Auslösung aus den Fesseln der Sünde, sozusagen den Loskauf aus der Gefangenschaft des Bösen.

Nichts hat an Jesu Wirken und Lehren mehr überzeugt als die reale, sichtbare, greifbare Veränderung zum Guten, die an Menschen feststellbar war, die Jesus begegnet waren. So ist es bis heute. Neugierig auf Jesus machen selten Worte, auch wenn sie – als Wort Gottes, das verkündigt wird – nicht ohne Wirkung bleiben. Überzeugend ist vor allem das Leben. Wenn sichtbar wird, dass Jesus das Leben wirklich wandelt, lebendig und leuchtend macht, spricht das für sich. Dann wird die Lebensschule Jesu zur "Erfahrung des Heils".

II. Sündenvergebung Herz der Sendung Jesu

Als Johannes der Täufer Jesus vorbeigehen sah, sagte er zu seinen Schülern: "Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt" (Joh 1,29). Was bedeutet "Sünde der Welt", im Singular, in dieser umfassenden Dimension: die Sünde der Welt? Was heißt überhaupt Sünde? Worin besteht sie? Wie zeigt sie sich? Wie wird sie wahrgenommen, bloßgelegt? Und dann: Wie wird sie hinweggenommen? Was bewirkt diese Hinwegnahme? Wie zeigt sich das: "Er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen", welche Folgen hat das für den Einzelnen und für sein Volk?

Sehen wir uns einige Beispiele aus der Hl. Schrift an. Wie zeigt sich Jesus als der, der sein Volk von seinen Sünden erlöst, um dann ganz grundsätzlich zu fragen, was eigentlich Sünde ist.

In den ersten Tagen seines öffentlichen Wirkens in Kapharnaum und Umgebung hat Jesus viele Dämonenaustreibungen und Heilungen vollbracht. Eine blieb den Jüngern besonders in Erinnerung, wohl weil sie besonders spektakulär war (vgl. Mk 2,1-12): Vier Männer tragen einen Gelähmten herbei. Da ist kein Zugang zu Jesus, dicht gedrängt stehen die Menschen. Da steigen sie kurzerhand auf das Flachdach des Hauses, decken es ab, schlagen ein Loch in die Decke und lassen – wohl an Stricken – die Bahre direkt Jesus vor die Füße. "Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben" (Mk 2,5). Jesus erkennt die Gedanken einiger der Anwesenden, die sich innerlich sagen: Unerhört, was dieser Jesus da sagt. Nur Gott allein kann Sünden vergeben! Das ist für Jesus klar und für uns ein wichtiges Element zum Verständnis davon, was Sünde bedeutet. Jesus bestreitet nicht, dass Gott allein Sünden vergeben kann. Aber er beansprucht, dass er diese Vollmacht hat, er, "der Menschensohn", wie er sich selber bezeichnet. Um das zu bekräftigen, heilt er durch sein bloßes Wort den Gelähmten.

Hier begegnet uns Jesu Anspruch und Auftrag, Sünden vergeben zu können. Dazu ist er gekommen. Das ist der in seinem Namen bereits enthaltene Auftrag. Die Heilung des Gelähmten sagt aber nicht nur etwas über Jesu göttliche Vollmacht aus, sondern auch etwas über die menschliche Not. Dem Gelähmten spricht Jesus zuerst die Vergebung seiner Sünden zu. Jesus sagt nicht, dass er wegen seiner Sünden gelähmt ist. Die Lähmung ist keine Strafe Gottes. Vielmehr zeigt Jesus die richtige Reihenfolge der Heilung an: Das Erste, wovon wir geheilt werden müssen, wichtiger als alle leibliche Heilung, sind die Wunden der Sünde. Der Mensch kann körperlich kerngesund sein, aber "an seiner Seele Schaden leiden" (Mt 16,26) wegen seiner Sünden.

Die Begegnung mit Jesus, mit "dem Heiligen Gottes" (so nennen ihn die aufgeschreckten Dämonen, Mk 1,24) wird zur erschütternden Erfahrung der eigenen Sündhaftigkeit. So ging es dem ersten der Apostel, Simon Petrus, als sie der Heiligkeit Jesu greifbar begegnen. Nach einer erfolglosen Fischernacht werfen sie auf Jesu Wort hin nochmals die Netze aus und fangen so viele Fische, dass die Boote zu sinken drohen. "Als Simon Petrus das sah, fiel er Jesus zu Füßen und sagte: Herr, geh weg von mir, ich bin ein Sünder" (Lk 5,8). Heiliger Schrecken hat ihn und seine Begleiter ergriffen im Angesicht Jesu.

Wo wir der Heiligkeit begegnen, ist ein tiefes inneres Erschrecken die Folge. So ging es mir in der Begegnung mit Padre Pio. So habe ich es erlebt in der Nähe solcher Menschen, die von der Heiligkeit Gottes durchdrungen sind. Dieselbe Erfahrung machte Jesaja im Tempel, als er die Herrlichkeit Gottes schaute: "Wehe mir, ich bin verloren. Denn ich bin ein Mann mit unreinen Lippen und meine Augen haben den König, den Herrn der Heerscharen, geschaut" (Jes 6,5).

Die Erfahrung der eignen Sündhaftigkeit im Angesicht der Heiligkeit ist schwer zu beschreiben, aber unvergesslich, wenn sie einem geschenkt wurde. Es ist nicht so sehr ein Angstgefühl, verurteilt zu werden, auch nicht nur eine Beschämung über die eigene Unangemessenheit. Es ist etwas Erschreckendes und Beglückendes zugleich: das Erschrecken über die Größe und das Beglücktsein über die unvergleichliche Nähe Gottes. Es ist zugleich die Ahnung unfassbaren Angenommenseins und das erschütternde Wahrnehmen der eigenen – ja wie soll ich es nennen? Es passt wohl nur eben dieses Wort: der eigenen Sünde.

Wieder zeigt uns Petrus am deutlichsten diese Erfahrung. Wieder ist es Lukas, der besonders sensible Evangelist, der diesen Augenblick festhält, in dem Petrus der Heiligkeit seines Meisters begegnet. Beim dritten Verrat des Petrus heißt es: "Im gleichen Augenblick noch während er redete, krähte ein Hahn. Da wandte sich der Herr um und blickte Petrus an. Und Petrus erinnerte sich an das, was der Herr zu ihm gesagt hatte: Ehe heute der Hahn kräht, wirst du mich dreimal verleugnen. Und er ging hinaus und weinte bitterlich" (Lk 22,60-62).

Was Sünde wirklich bedeutet, ist wohl nur an solchen Erfahrungen ermessbar. Im Hymnus des hl. Ambrosius, der im kirchlichen Stundengebet am Sonntag gesungen wird, heißt es: "Herr, wenn wir fallen, sieh uns an und heile uns durch deinen Blick. Dein Blick löscht Fehl und Sünde aus, in Tränen löst sich unsere Schuld" ("Jesu, labantes respice / et nos videndo corrige; / si respicis, labes cadunt / fletuque culpa solvitur").

Von der Namensgebung Jesu nach seiner Geburt ("… denn er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen") bis zur Vorwegnahme seines Kreuzestodes noch vor seinem Leiden, steht sein ganzes Leben unter dem Zeichen der Vergebung der Sünden: "Dann nahm er den Becher, sprach das Dankgebet und gab ihn den Jüngern mit den Worten: Trinkt alle daraus. Denn das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden" (Mt 26, 27f).

III. Was ist nun Sünde?

Befragen wir hierzu den Erfahrungsschatz der Kirche. Dazu gehört die theologische Reflexion, Versuche, in der Katechese und in der Theologie das Phänomen "Sünde" genauer zu fassen, angemessene Begriffe dafür zu finden. Was sagt der Katechismus der Katholischen Kirche? Es ist, so sagte der Selige Papst Johannes Paul II über ihn, eine "sichere Norm für die Lehre des Glaubens" und somit ein "gültiges und legitimes Werkzeug im Dienst der kirchlichen Gemeinschaft" (Apostolische Konstitution "Fidei depositum" vom 11.10.1992).

Beginnen wir mit einer Definition des hl. Augustinus: Sünde ist "ein Wort, eine Tat oder ein Begehren im Widerspruch zum ewigen Gesetz" (Contra Faustum 22,27; KKK 1849; vgl. Thomas v. Aquin STh Ia IIae, q. 72, a.6). Der Katechismus erläutert diese Definition: "Die Sünde ist ein Verstoß gegen die Vernunft, die Wahrheit und das rechte Gewissen; sie ist eine Verfehlung gegen die wahre Liebe zu Gott und zum Nächsten aufgrund einer abartigen Anhänglichkeit an gewisse Güter. Sie verletzt die Natur des Menschen und die menschliche Solidarität" (KKK 1849).

Es überrascht, dass der Katechismus die Sünde zuerst als Verstoß gegen die Vernunft bezeichnet. Darin ist der KKK das Echo einer auch dem außerbiblischen, nichtchristlichen Denken vertrauten Sicht: "Wer ‚Sünde‘ denkt, der hat zugleich und genaugenommen, schon zuvor gedacht, dass etwas ‚nicht in Ordnung‘ sei mit dem Menschen, dass etwas mit ihm nicht stimme" (Josef Pieper, Über den Begriff der Sünde, München 1977, S. 27).

Hamartia, peccatum meint zuerst einmal eine Fehlleistung: Etwas ist danebengegangen. "Jegliches tun, das nicht in Ordnung ist, kann peccatum genannt werden", sagt Thomas von Aquin (De malo 2,2). Wir reden von Verkehrssünden, Umweltsünden. Michael Rose, der amerikanische Autor, hat ein Buch über zeitgenössische Kirchenarchitektur geschrieben. Er gab ihm den Titel "Ugly as sin" – hässlich wie die Sünde. Kunstfehler, Fehlleistungen jeder Art werden peccatum genannt. Es ist unvernünftig, gegen die Gebrauchsanweisung zu handeln. Noch ehe die sittliche Frage gestellt wird, ob willentlich gefehlt wurde oder nicht, gilt einmal grundsätzlich, dass Fehlleistungen unvernünftig sind, weil sie ein Ziel verfehlen. Das sehen wir deutlich an der Finanzkrise. Hier haben sich die Dinge in einer – im Rückblick klar erkennbaren Weise – verselbstständigt und bis zum Irrwitz fehlentwickelt. Der Finanzmarkt hat sich immer mehr von der realen Wirtschaft entfernt und wurde immer virtueller, bis die Blase geplatzt ist. Beispiel: Eine politische Gemeinde hat zum Beispiel auf Anraten des örtlichen Bankdirektors die Gemeindeschulden nach Kanada verkauft um damit ein Geschäft zu machen. Nach 2008 blieben der Gemeinde ihre eigenen Schulden und die erheblichen Verluste in Kanada. Das ist kein Einzelfall, das war (und ist zum Teil noch) System: peccatum – Fehlleistung, pure Unvernunft. Aber ist das eine Sünde, was der Bürgermeister und der Bankdirektor gemacht haben? Wussten sie, was sie taten? Ist Sünde auch etwas, das ich gar nicht als solches erkenne? Gehört zur Sünde nicht das Wissen um die Sündhaftigkeit einer Fehlleistung?

Deshalb sagt der Katechismus weiter, Sünde sei ein Verstoß gegen die Wahrheit. Vieles von dem, was "nicht in Ordnung" ist, hat damit zu tun, dass wir uns über die Ordnung nicht im Klaren sind. Wir irren, täuschen uns, werden getäuscht, lassen uns täuschen, verdrängen die Wahrheit, wollen sie nicht wahrhaben. Man kann noch so groß und schwarz auf die Zigarettenpackung schreiben: "Rauchen kann tödlich sein", es wird doch heftig geraucht. Wir alle wissen, dass Verdrehungen, Entstellungen der Wahrheit großen Schaden anrichten, das Leben anderer Menschen beeinträchtigen, ja bleibend beschädigen können. Dennoch vergeht kein Tag, ohne dass wir – und sei es nur im Kleinen – die Dinge verdrehen, es mit der Wahrheit nicht ganz genau nehmen. Sünde hat viel mit Unwahrheit zu tun, sie ist immer auch Lüge. Vernunft und Wahrheit wurden verletzt, verleugnet. Deshalb ist so vieles nicht "in Ordnung".

Die Sünde ist, so sagt der KKK, zudem ein Verstoß gegen "das rechte Gewissen". Josef Pieper sagt, Sünde ist ein Fehlverhalten "wider besseres Wissen", "also gegen das Gewissen" (a.a.O., S. 63). Ein unabsichtlicher Fehler, der schlimme Folgen hat, kann uns lange plagen. Wir machen uns Vorwürfe, hadern damit, dass wir nicht aufmerksam genug waren. Aber erst wenn es sich um eine sittliche Verfehlung handelt, kommt eine andere Dimension ins Spiel: der Urteilsspruch unseres Gewissens. In seinem Kommentar zur Josefsgeschichte im Buch Genesis sagt der Hl. Johannes Chrysostomus im Blick auf die Brüder, die ihn als Sklaven nach Ägypten verkauft haben und vor dem sie nun Hilfe suchend stehen,  ohne ihn erkannt zu haben. Sie erinnern sich nun, in ihrer eigenen Angst und Not, was sie ihrem Bruder damals angetan hatten:

"Gib acht, wie ihr Gewissen, der unbestechliche Richter, sich erhebt und wie sie, ohne dass ein Ankläger auftritt und gegen sie aussagt, selbst ihre eigenen Ankläger werden. So ist es mit der Sünde: Wenn sie vollendet und zur Tatsache geworden ist, dann zeigt sie, wie unsinnig sie ist. Bevor sie vollendet ist, verdunkelt sie den Verstand und lähmt wie dichter Nebel das Denken. Ist sie aber vollendet, steht das Gewissen auf und quält den Geist mehr als jeder Ankläger und zeigt dem Sünder die Verkehrtheit seines Tuns". (Johannes Chrysostomus, Homiliae in Genesim 74, 2-3; PG 34, 55 f.)

Nochmals: Sünde ist ein Verstoß gegen Vernunft, Wahrheit und Gewissen. Augustinus sagte, ein Tun "im Widerspruch zum ewigen Gesetz", also zu dem, was der Schöpfer als Ordnung in seine Schöpfung gelegt hat, was wir mit dem Licht der Vernunft erkennen und mit unserem freien Willen tun können.

Aber ist das wirklich alles? Ist damit das Drama der Sünde ausreichend benannt? Der Katechismus geht noch einen Schritt weiter: "Die Sünde ist eine Beleidigung Gottes" (KKK 1850). Sünde ist nicht zuerst ein Verstoß gegen die menschliche Sittlichkeit. Das ist sie auch, aber zuerst ist sie aversio a Deo, Abkehr von Gott. Der Kern dessen, was Sünde ist und bedeutet, liegt hier: "Gegen dich allein habe ich gesündigt, ich habe getan, was dir missfällt" (Ps 51,6), so heißt es im großen Bußpsalm. Sünde ist zuerst und zuinnerst die Abkehr von Gott. Das macht ihr Gewicht aus, ihre Schwere. Das macht den Preis der Befreiung von der Sünde so hoch: "Die Sünde lehnt sich gegen die Liebe Gottes zu uns auf und wendet unsere Herzen von ihm ab" (KKK 1850).

Stimmt das? Lehne ich mich wirklich gegen Gott auf, wenn ich sündige? Will ich das bewusst, im vollen Verständnis dessen, was ich tue? Ist unser Sündigen nicht oft ein Unwissen? Eine Art Blindheit? Wir nehmen gar nicht die Tiefe wahr, die unsere Verfehlungen haben. Jesus hat doch für seine Richter und ihre Handlanger gebetet: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). Wissen wir, was wir tun, wenn wir sündigen? Wollen wir wirklich "Gott wehtun", ihn "beleidigen"? Kann ein Mensch überhaupt Gott wehtun? Ihn beleidigen?

Der Hl. Augustinus hat hier – wohl aus seiner eigenen dramatischen Lebenserfahrung und aus seiner großen Vertrautheit mit der Heiligen Schrift, versucht, den innersten Kern dessen herauszuarbeiten, was Sünde ausmacht. In seinem "Gottesstaat" (De civitate Dei 14,28) sieht er zweierlei Liebe im Streit miteinander: Die Eigenliebe und die Gottesliebe; die Eigenliebe, die sich "bis zur Verachtung Gottes" steigert und die Gottesliebe, die "bis zur Selbstverachtung" geht (vgl. KKK 1850).

Josef Pieper stellt das als Frage: "Sich selbst … wählen oder Gott". Und er präzisiert: "… die wirkliche Alternative sieht … so aus: entweder Selbstverwirklichung als Hingabe an Gott, das heißt in Anerkennung der eigenen Kreatürlichkeit; oder ‚absolute‘ Selbstliebe und der Versuch einer Selbstverwirklichung auf Grund der Leugnung oder Ignorierung der Tatsache, Kreatur zu sein" (a.a.O., S. 82). Das innerste Wesen der Sünde ist "Ich, ich, ich!" – absolute Eigenliebe, "wie Gott" sein zu wollen (Gen 3,5). Es ist superbia, Hochmut, sagt die Tradition.

Hier erhebt sich nochmals der Einspruch: gibt es diese radikale Sünde überhaupt "in Reinform"? Besteht nicht immer bei unserer menschlichen Sünde ein unlösbares Gewirr aus Schwächen, Unwissenheit, Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Vergesslichkeit? Das erst macht das Sündengestrüpp aus. Wann sind wir je so radikal böse, dass wir uns in einem Akt, der uns ganz erfasst, gänzlich Gott verweigern würden?

Es geht um die Frage: Gibt es so etwas wie die "tödliche Sünde" (so müssten wir den klassischen Begriff des peccatum mortale wörtlich übersetzen)? Die langen Listen aus Todsünden, die wir früher allzu leicht vorgesetzt bekamen, sind auch mit daran schuld, dass der Ernst der "tödlichen" Sünde vielfach verloren gegangen ist. Auf jeden Fall ist für viele der Ernst der tödlichen Sünde wohl auch dadurch verloren gegangen, dass man so vieles und so vorschnell als Todsünde bezeichnet hat.

Einen Zugang möchte ich zum Abschluss versuchen, um zu zeigen was die Tradition mit ihrer ganzen Erfahrung als die "tödliche Sünde" bezeichnet, nämlich die sogenannte "lässliche Sünde". "Eine lässliche Sünde begeht, wer in einer nicht schwerwiegenden Materie eine Vorschrift des Sittengesetzes verletzt oder das Sittengesetz zwar in einer schwerwiegenden Materie, aber ohne volle Kenntnis oder volle Zustimmung übertritt" (KKK 1862; vgl. 1863).

Zweifellos trifft diese Beschreibung auf die meisten unserer Sünden zu. Sie sind mehr Schwächen als wirklich voll, bewusst getane böse Taten. Aber genau darin zeigt sich noch einmal das Drama der Sünde. Augustinus sei nochmals zitiert: "Solange der Mensch im Fleisch wandelt, kann er wenigstens nicht ohne leichte Sünden sein. Halte aber diese Sünden, die wir als leicht bezeichnen, nicht für harmlos. Falls du sie für harmlos ansiehst, wenn du sie wägst, zittere, wenn du sie zählst. Viele kleine Dinge bilden eine große Masse; viele Tropfen füllen einen Fluss; viele Körner bilden einen Haufen. Welche Hoffnung haben wir also? Zuerst das Bekenntnis" (Augustinus, Predigten über den ersten Johannesbrief 1,6).

Was mich erschüttert am Phänomen der sogenannten "lässlichen Sünde", das hat der Seher von Patmos in seinem Brief an die Gemeinde von Ephesus so beschrieben: "Ich werfe dir aber vor, dass du deine erste Liebe verlassen hast" (Offb 2,4). Und der Herr hat kurz vor seinem Leiden gesagt: "Und weil die Gesetzlosigkeit überhandnimmt, wird die Liebe bei vielen erkalten. Wer aber bis zum Ende durchhält, der wird gerettet" (Mt 24,12f).

Dieses "Erkalten der Liebe" ist das eigentliche Drama der Sünde, die Verhärtung der Herzen. Sie ist bereits der Tod der Seele. Sie geschieht am gefährlichsten wenn sie im Innersten des Herzens zu einem Ersterben der Liebe wird. Diese Verhärtung kann durch viele kleine Schritte geschehen, unaufmerksam, lieblos und noch, noch, noch. Dann wird das Herz hart. Das ist die Dramatik der "tödlichen Sünde".

Was kann uns davor bewahren? Es braucht den Einen, der "die Sünde der Welt hinwegnimmt" (Joh 1,29), und es braucht seinen Geist, "der die Welt der Sünde überführt" (Joh 16,8). Papst Johannes Paul II.  hat darüber tief meditiert. Ausgehend vom Wort Jesu, dass der Heilige Geist die Welt der Sünde überführen wird zeigt er, dass der Heilige Geist uns die Wahrheit unserer Sünde zeigen kann, nicht um uns anzuklagen, sondern um zu retten; nicht als Bloßstellen der Sünden, sondern als Heilung des Sünders (vgl. Enzyklika "Dominum et vivificantem", Nr. 27). Er zeigt uns unsere Sünde und zugleich deren Vergebung. Denn was Sünde wirklich ist, das erfahren wir erst im Angesicht der Liebe Christi. Vielleicht ist das der Grund, warum die Heiligen das tiefste Bewusstsein hatten, Sünder zu sein. Erst in der Lebensschule Jesu wird Sünde in ihren vollen Dimensionen erfassbar. Erst in der Gnade der Vergebung wird die wahre Abgründigkeit dessen ahnbar, was die Trennung von Gott – als Folge der Sünde – bedeuten würde. So können wir nur Jesus in seiner Barmherzigkeit bitten, was der Priester leise vor der Kommunion betet: "Lass nicht zu, dass ich jemals von dir getrennt werde!"

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