Donnerstag 25. April 2024
Predigten von Kardinal Christoph Schönborn

Predigt zum Jahresschluss 2018

Predigt von Kardinal Christoph Schönborn, im Dom zu St. Stephan, zum Jahresschluss, am Montag, 31. Jänner 2018, im Wortlaut:

Liebe Schwestern und Brüder!

 

2018 – ein großes Gedenkjahr! Wir haben zuerst der 100 Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkriegs gedacht, dem 11. November 1918. Es war der sinnloseste aller Kriege, der Millionen von Menschen sinnlos in den Tod gestürzt hat und der seine giftigen Früchte hinterlassen hat. Aus dem Desaster des Ersten Weltkriegs ist die Sowjetrevolution, der Sowjetkommunismus entstanden, der wiederum für Millionen von Menschen Leid und Tod gebracht hat. Die andere giftige Frucht aus dem Ersten Weltkrieg war der Nationalsozialismus, diese menschenverachtende Ideologie. Die schreckliche Ausgeburt dieser Ideologie war der Zweite Weltkrieg mit unendlichem Leid für Millionen von Menschen, und in ganz tragischer Weise für unsere jüdischen Mitbürger.

 

Wir haben im zu Ende gehenden Jahr aber auch der Gründung der Republik Österreich vor 100 Jahren, am 12. November 1918, gedacht. In der großen Not dieser Nachkriegszeit entstand dieses Land, das unsere Heimat ist. Viele glaubten, dieses Land, das von einem großen Reich übrig geblieben ist, nicht lebensfähig sein wird. Aber es hat Menschen gegeben, die daran geglaubt haben, dass diese junge Republik lebensfähig ist. Schwer und dramatisch waren die zwanzig Jahre der Zwischenkriegszeit. Und doch hat sich unser Land als lebensfähig erwiesen, und wir dürfen sagen, es ist ein gutes, ein gesegnetes Land. Aber 2018 war auch das Gedenken 80 Jahre des Einmarsches Hitlers und seiner Truppen in unser Land, der „Anschluss“. Österreich wurde von der Landkarte gestrichen und zur „Ostmark“ herabgestuft. Und wieder unendliches Leid durch diesen Krieg, der zum Weltkrieg wurde.

 

Brüder und Schwestern, wir gedenken aber auch dankbar, dass es einen Wiederaufbau gegeben hat. Aus den Ruinen zweier Weltkriege ist ein kleines, aber solides Land entstanden. Das Unglaubliche, über das wir nicht genug staunen können, das uns immer wieder zu großer Dankbarkeit motivieren sollte: wir leben seit über 70 Jahren in Frieden und Wohlstand, in einem Wohlstand, den unser Land in dieser Breite für so viele Menschen nie gekannt hat. Diese lange Friedenszeit, was für ein Geschenk! Gedenkjahr 2018, was wird das Jahr 2019 bringen? Gott sei Dank wissen wir es nicht, niemand weiß die Zukunft. Es gibt Ahnungen, es gibt Sorgen und es gibt Hoffnungen. Aber was braucht es, dass Frieden und Gerechtigkeit auch in Zukunft das Leben in Österreich und darüber hinaus in Europa, und darüber hinaus in der Welt prägen?

 

Schwestern und Brüder, mich hat ein Wort in diesem Jahr ganz besonders bewegt und geprägt, und ich sogar vorgeschlagen, man sollte es eigentlich zum „Wort des Jahres 2018“ machen. Aber ich kann nicht darüber bestimmen. Es ist ein Wort, das André Heller am 12. März bei der Gedenkfeier „80 Jahre Anschluss“ am Schluss seiner so eindrucksvollen Rede gesagt hat. Er hat davon gesprochen, dass er selber festgestellt hat, dass er oft auf andere herunterblickt. Er hat sich selber auch des Hochmuts angeklagt und hat dann von einem Erlebnis erzählt, das er in London in der U-Bahn mit Menschen aus allen Ländern und Sprache hatte. Da kam ihm dieses Wort, das er uns gesagt hat, und das ich für so kostbar halte. Jedes Land, jedes Volk, jede Gruppe hat ihre eigene Sprache, aber es gibt eine Sprache, die alle verstehen. André Heller hat sie genannt die „Weltmuttersprache“. Jeder von uns hat eine Muttersprache. Es gibt aber eine Weltmuttersprache, und André Heller hat sie genannt das „Mitgefühl“. Weltmuttersprache Mitgefühl.

 

Brüder und Schwestern, lassen Sie mich ein paar Worte über diese Weltmuttersprache sagen, die wir alle verstehen. Denn wir müssen diese Sprache nicht lernen, sie ist angeboren. „Kann denn eine Mutter ihr Kind vergessen?“ (Jes 49,15), haben wir eben vom Propheten Jesaja gehört. Die Weltmuttersprache ist uns angeboren. Beobachten Sie ein Kind im Kinderwagen, es kommt Ihnen spontan ein Lächeln. Da kann man sagen: das ist physiologisch von der Evolution so organisiert. Mitgefühl ist urmenschlich. Jeder Mensch versteht diese Sprache. Das Tragische ist nur, dass man diese Sprache verlernen kann! Das Zwanzigste Jahrhundert hat es in erschütternder Weise gezeigt: Man kann die Weltmuttersprache Mitgefühl verlernen. Aber damit verliert man etwas Wesentliches vom Menschsein. Mitgefühl ist urmenschlich, und ein Mensch ohne Mitgefühl ist unmenschlich. Mitgefühl ist nicht Romantik. Man sage uns nicht, das sind Gefühle, nein, das ist etwas viel Tieferes.

 

Brüder und Schwestern, es gibt so etwas wie einen Klimawandel, über den wir alle sprechen, den wir mit großer Sorge feststellen, aber es gibt auch einen geistigen Klimawandel. Wenn ich denke, wie Hass-Postings zu einer weitverbreitenden Praxis geworden sind, Hass zu verbreiten, da sind wir in Gefahr, die Weltmuttersprache Mitgefühl zu verlernen. Es darf in unserem Land nicht dazu kommen, dass das Recht des Stärkeren gilt. Eine Gesellschaft ist dann eine gesunde Gesellschaft, wenn die Schwächsten in der Gesellschaft nicht aus den Augen verloren werden. Ich wage zu sagen, wenn die Schwächsten in der Gesellschaft einen Ehrenplatz haben, dann ist eine Gesellschaft gesund.

 

Missbrauch ist ein schwerer Verstoß gegen das Mitgefühl. Missbrauch von Gewalt, von Autorität, sexueller Missbrauch, die Kirche muss hier ihre Hausaufgaben machen. Es ist Schlimmes geschehen, und es darf nicht wieder geschehen. Es ist eine Aufgabe für unsere ganze Gesellschaft. Missbrauch von Autorität, von Macht, sexueller Missbrauch, das darf nicht geschehen. Es darf auch nicht geschehen, dass Flüchtlinge zu einem Schimpfwort werden, dass Schutzsuchende keinen Schutz mehr finden. Das Mitgefühl zeigt sich vor allem in der Großherzigkeit, die Tugend der Großherzigkeit, der Magnanimitas, ist das Zeichen einer Gesellschaft, die gesund ist, in der die Weltmuttersprache des Mitgefühls gesprochen und verstanden wird. Nein, es ist nicht weltfremd Mitgefühl zu zeigen. Jedem von uns kann es einmal schlecht gehen. Wie gut tut es dann, Menschen zu haben, die Mitgefühl zeigen. Am unteren Rand der Gesellschaft zu leben wird immer schwieriger.

 

Schwestern und Brüder, eine Sorge für die Zukunft ist, ob es uns gelingt, dass die, die jeden Euro umdrehen müssen um über die Runden zu kommen, dass die in unseren Herzen, in unserer Gesellschaft gesehen und wahrgenommen werden. Wir sind in einem wohlhabenden Land, und es liegt an jedem von uns, dass wir Mitgefühl zeigen. Natürlich ist es gut, dass der Staat hier hilft, und Gott sei Dank haben wir einen Sozialstaat. Aber ein Sozialstaat allein genügt nicht. Diese Grundhaltung der Weltmuttersprache Mitgefühl müssen wir alle wieder lernen, wenn wir sie, Gott bewahre, verlernt haben.

 

Hier möchte ich ein großes Danke sagen. Ein Dank für die vielen, vielen Menschen in diesem Land, die das ganz selbstverständlich leben, ohne bedankt zu werden, oft ohne gesehen zu werden, die einfach dort Mitgefühl zeigen und leben, wo Menschen es brauchen. Wie viele Ehrenamtliche sind in unserem Land unterwegs beim Roten Kreuz, bei den Feuerwehren, in ehrenamtlichen sozialen Diensten, bei der Caritas, ohne sie, ohne diese vielen, vielen Tausenden Ehrenamtlichen wäre unser Land sehr viel kälter. Gott sei Dank, die Weltmuttersprache Mitgefühl wird von vielen gesprochen und von allen verstanden.

 

Aber Schwestern und Brüder, wir alle haben einen, der mehr Mitgefühl mit uns hat, als wir alle es jemals aufbringen können. Gottes Mitgefühl mit uns, das ist die Weihnachtsbotschaft: Gott ist Mensch geworden. So groß ist das Mitgefühl Gottes mit uns, dass er selber Mensch geworden ist. Gottes Mitgefühl ist dann noch aktiv, wenn wir es verlernt haben diese Weltmuttersprache zu sprechen. Deshalb hat uns der Prophet heute gesagt: „Selbst wenn die Mutter ihr Kind vergisst, ich vergesse dich nicht, ich habe dich in meine Hand geschrieben“.

 

Brüder und Schwestern, wir werden uns jetzt ein gesegnetes, gutes Neues Jahr wünschen, aber vergessen wir nicht, selbst wenn eine Mutter ihr Kind vergisst, Gott vergisst uns nicht. Denn die Weltmuttersprache Mitgefühl hat ihren Ursprung im Herzen Gottes.

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