Schwester Annie Dermerijan (rechts) besucht eine der vielen von ihr betreuten Familien in Aleppo.
Schwester Annie Dermerijan (rechts) besucht eine der vielen von ihr betreuten Familien in Aleppo.
Auch wenn sich zurzeit in der syrischen Stadt Aleppo alles um das tägliche Überleben dreht. Die Christen zeigen Hoffnung und Mut in der schwierigen Situation und halten an ihrem Glauben fest, erzählt Ordensschwester Annie Dermerijan im Interview.
Die nordsyrische Stadt Aleppo war vom Sommer 2012 bis Dezember 2016 die am heftigsten umkämpfte Stadt im Bürgerkriegsland. Die einstige Handelsmetropole ist fast vollständig zerstört. Am 22. Dezember des Vorjahres zogen die letzten Rebellen bzw. islamistischen Kämpfer ab, seither ist die Stadt unter Kontrolle der Truppen der syrischen Regierung.
„Wir lebten in ständiger Angst. Keiner wusste, wie es weitergehen wird“, erzählt die syrische Ordensschwester Annie Dermerijan, die vor Kurzem auf Einladung des katholischen Hilfwerks „Kirche in Not“ zu Besuch in Wien gewesen ist. Sie gehört der Gemeinschaft der „Schwestern Jesu und Mariens“ an.
Obwohl sie von der Ordensleitung aus die Stadt mit Beginn der Kriegshandlungen verlassen hätte können, blieb sie mit ihren vier Mitschwestern in Aleppo, um die Menschen nicht im Moment des Leids alleine zu lassen und nach ihren Möglichkeiten zu helfen. „Jeden Tag schauten wir in Aleppo dem Tod ins Angesicht. Jeder Zeit konnten Raketen, Bomben, Granaten auf die Straßen und Häuser fallen. Manchmal fanden wir nur schwer Schlaf. Bei Angriffen suchten wir einen sicheren Zufluchtsplatz, um dort zu bleiben, bis die Kämpfe aufhörten.“
Mit dem Waffenstillstand hat sich die Situation beruhigt. Die Bewohner stehen nun vor dem Problem, wie sie die Schwierigkeiten, die der Krieg mit sich brachte, überwinden können. „Das fängt mit dem täglichen Überleben an. Die Menschen suchen nach Arbeit, wollen zu ihren Häusern zurückkehren und fragen sich, wie sie diese wiederaufbauen können. Der starke Wille hielt die Stadtbevölkerung in der schwierigsten Zeit am Leben und mit ihm können sie auch den kommenden Problemen in die Augen schauen“, berichtet Schwester Annie im Interview mit dem SONNTAG.
Während der mehr als vierjährigen Kampfhandlungen kam es immer wieder zu Engpässen in der Wasserversorgung, weil die Leitungen von den Rebellen kontrolliert wurden und diese viele Male das Wasser abgesperrt haben. „Die Regierung und die Kirchen ließen deshalb nach Quellen graben. Mit Tankwägen wurde das Wasser verteilt. Man musste sich aber anmelden und warten, bis man an der Reihe war. Andere gingen einfach los und stellten sich in der Schlange an, um ihre Kanister und Flaschen anzufüllen“, erzählt Schwester Annie. „Das bedeutete harte Arbeit, besonders für alte Menschen und Kinder.
Heute sind die meisten Lebensmittel vorhanden, aber sie sind sehr teuer. Wenn es die vielen Hilfsaktionen nicht gäbe, die Menschen könnten die Nahrung nicht kaufen, um zu überleben.
Wir Schwestern erhalten Hilfe von „Kirche in Not“ und versuchen mit vielen freiwilligen Helfern Tausende Familien in Aleppo zu unterstützen.“ Und die Ordensfrau nennt konkrete Zahlen: 2.000 Familien wurden mit Wasser versorgt, 700 mit Treibstoff, fast 800 Familien erhielten Bargeld, für über 80 Familien, deren Häuser zerstört waren, wurden Mietwohnungen bezahlt.
Vor dem Krieg ist das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen in Syrien ausgesprochen gut gewesen, sagt die Ordensfrau: „Wir lebten im gegenseitigen Respekt miteinander und wir waren es als Christen gewohnt, unseren Glauben in Freiheit auszuüben.“
Schwester Annie schmerzt das nun vorherrschende Konzept, dass die syrische Bevölkerung in Christen und Muslime eingeteilt wird. Eine solche Aufteilung gab es vorher nicht. „In bestimmten Teilen Syriens können wir den Glauben noch immer frei leben, aber in Regionen, in denen die Rebellen vorgedrungen sind, sind Christen mit allerlei Leid konfrontiert. Die meisten sind geflohen und haben Städte wie Rakka oder Idlib verlassen müssen.“
In Aleppo selbst leben heute nur mehr etwa 35.000 Christen. Sie sehen sich keineswegs als Fremde in Syrien, wie die Ordensschwester erklärt: „Wir sind die Eigentümer des Landes, die das Recht haben zu bleiben. Wir sind in dem Land verwurzelt und wollen es nicht verlassen. Wir sind Teil dieser Stadt. Seit Beginn des Christentums waren Christen von Verfolgung bedroht, das ist nichts Neues. Aber mit Gottes Hilfe werden wir die Stimme und Botschaft der Liebe, von der Jesus gesprochen hat, sein können. Es ist nicht einfach zu lieben und zu vergeben, aber es gibt immer Hoffnung und Mut, am Glauben festzuhalten. Die Krise machte den christlichen Glauben stärker als je zuvor.“
Schwester Annie ist immer wieder verblüfft, die Tausenden Menschen in Aleppos Kirchen am Sonntag zu sehen. „Sie praktizieren ihren Glauben, nehmen an der Heiligen Messe trotz der schwierigen Situation teil. Auch als viele Kirchen von Bomben getroffen wurden, sind die Menschen am Sonntag zurückgekehrt, um gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Man spürt, dass sie Tag für Tag im Glauben gestärkt werden.“
Auch wenn sie sich zur politischen Situation eigentlich nicht äußern möchte, sieht Schwester Annie die Lösung des Konflikts nur in einem friedlichen Weg. „Eine Militäraktion würde nur Chaos verursachen. Wir haben dies an den Beispielen von Irak und Libyen gesehen. Wir benötigen Menschen, die Brückenbauer für den Frieden sind, den Krieg nicht nur in Syrien, sondern im ganzen Nahen Osten beenden können und versuchen, eine Lösung des Dialogs und der Versöhnung zu finden.“
Der Syrien-Konflikt ist ein Bürgerkrieg zwischen den Truppen der Regierung von Präsident Baschar al-Assad und den Kämpfern verschiedener Oppositionsgruppen Syriens.
Als Auslöser des Bürgerkriegs gelten die Demonstrationen des Arabischen Frühlings Anfang 2011.
Die päpstliche Stiftung „Kirche in Not“ unterstützt Familien in Syrien mit Medikamenten, Nahrungsmitteln, Wasser oder finanzieller Unterstützung für Strom.
Auch Sie können die Arbeit des katholischen Hilfswerks mit einer Spende unterstützen. IBAN: AT71 2011 1827 6701 0600
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