Rätselhaftes „Ungetüm“ im Wienerwald: Pater Severin und Oberförster Wilhelm Dullnig zeigen das seltsame Relikt aus vergangenen Tagen.
Rätselhaftes „Ungetüm“ im Wienerwald: Pater Severin und Oberförster Wilhelm Dullnig zeigen das seltsame Relikt aus vergangenen Tagen.
Tief verborgen im Wienerwald, dem idyllischen Ausflugsgebiet der Wiener, steht ein monströses Betonbauwerk. Johannes Sachslehner und Robert Bouchal haben es erforscht und berichten in ihrem neuen Buch von diesem vergessenen Ort, der viel über ein dunkles Kapitel Zeitgeschichte erzählt.
Der Historiker Johannes Sachslehner und der Fotograf Robert Bouchal sind Zeitenwanderer. Ihre Leidenschaft sind Orte, die wie aus der Zeit gefallen wirken. Verlassene Orte, an denen kein Leben mehr ist – außer der wuchernden Natur, die ihr Gebiet zurückerobert.
Robert Bouchal und Johannes Sachslehner haben faszinierende Zeitreisen im Umkreis von Wien gemacht „zurück in eine Wirklichkeit, die einmal war“: Eine ehemalige Baumwollspinnfabrik aus der Biedermeierzeit, eine verfallene Mühle, ein verlassenes Dorfkino, ein Luftschutzbunker. Das sind nur einige Beispiele der von ihnen bereisten Orte einer „anderen Welt“.
Die Eindrücke ihrer lokalen Forschungsreisen hat das Autorenduo im Buch „Streng geheim! Lost Places rund um Wien“ festgehalten. Erzählt wird darin von Orten, an denen das Leben einst pulsierte, jetzt sind daraus vereinsamte Plätze geworden. „Abgeschnitten vom täglichen Fluss der Zeit ragen die ,Lost Places´ wie seltsame Dinosaurier in die Landschaft der Gegenwart oder sie sind überhaupt unsichtbar geworden, überwuchert von der Natur, abgesperrt, zugeschüttet, zugesprengt“, heißt es im Buch.
Unter den besuchten und heute nahezu vergessenen Orten gibt es auch solche mit „dunklem“ Hintergrund. Einer davon ist – wie Sachslehner und Bouchal erzählen– „das letzte Geheimnis im Wald von Heiligenkreuz“:
Pater Severin Wurdack, Kämmerer und Küchenmeister von Stift Heiligenkreuz und Oberförster Wilhelm Dullnig von der Forstverwaltung des Klosters (mittlerweile in Pension) führten Bouchal und Sachslehner an einen verborgenen Platz im Wald, der in keinem Wanderführer des beliebten Erholungsgebietes verzeichnet ist.
Tief verborgen in der „grünen Lunge Wiens“ stießen sie auf ein ihnen bisher unbekanntes monströses Bauwerk aus Beton, das an so einem idyllischen Ort an sich nichts zu suchen hätte: ein letztes Zeugnis von Hitlers Reichsautobahn.
Mitten im idyllischen Grün erstreckt sich vor ihnen eine ca. 51 Meter lange und vier Meter breite – sowie hohe, heute von Moos, Gras und Laub überdeckte Beton-Röhre. „Was ist das?“, fragt sich jeder, der hier im Wald darauf stößt.
Am 7. April 1938 ließ Adolf Hitler den Spatenstich für die Reichsautobahn „Salzburg – Linz – Wien“ am Walserberg groß feiern. Der Führer wünschte, „dass binnen drei Jahren diese erste große Strecke vollendet sein wird“ – Symbol für die Einheit des „Großdeutschen Reiches“.
Die Straßen des Dritten Reiches „sollen nicht gedacht sein für das Jahr 1940, auch nicht für das Jahr 2000, sondern sie sollen hineinragen gleich den Domen unserer Vergangenheit in die Jahrtausende der Zukunft“, schrieb Fritz Todt, der Generalinspektor für das deutsche Straßenwesen und treibende Kraft hinter dem Autobahnbau 1937.
Todt wünschte bei der Streckenplanung der Reichsautobahn (RAB) vor Wien allerdings eine Linienführung, die für das Zisterzienserstift Heiligenkreuz zu einer großen Belastung werden sollte. Die Reichsautobahn sollte in unmittelbarer Nähe südlich des Stiftes geführt werden.
Geplant war eine direkte Abfahrt zum Stift, eine Brücke sollte den Taleinschnitt überqueren. Die Folgen für das Kloster: Zahlreiche Grundstücke mussten unter Zwang an die RAB verkauft werden, jeder Widerspruch von Seiten des Stiftes war zwecklos. „Der neue Mythos, die Reichsautobahn, unterwirft sich die Mythen von gestern“, nennen Robert Bouchal und Johannes Sachslehner die Zielrichtung des NS-Bauprojekts RAB.
Selbst den ehrwürdigen Konventgarten mussten die Mönche an die RAB abtreten: Die Gartenmauer wurde abgerissen, die Obstbäume gerodet und große Gruben für Pfeilerfundamente ausgehoben. Die Stille des Klostergartens gehörte ab nun der Vergangenheit an. Nahe des Stiftes wurden Baracken für Zwangsarbeiter und ein Kriegsgefangenenlager errichtet.
Im März 1943 kommt das „Jahrtausendprojekt“ zum Stillstand, die Bauarbeiten an der Trasse werden eingestellt. Was bis dahin rund um das Stift errichtet wurde, wurde nicht wieder rückgängig gemacht.
Ein riesiger Betonpfeiler im Konventgarten und andere Betonbauten im Wald – wie jener auf dem Fotos – bleiben bis heute stumme Zeitzeugen. Bei diesem handelt es sich übrigens um einen Autobahn-Durchlass, der ein gefahrloses Unterschreiten der Reichsautobahn ermöglichen hätte sollen.
„Auf Grund und Boden von Stift Heiligenkreuz gelegen, zeugt dieses unglaubliche Relikt heute von den enormen Anstrengungen, die unternommen wurden, um den Wunsch Hitlers nach dem ,einigenden Band’ möglichst rasch zu verwirklichen“, sagen Bouchal und Sachslehner.
Die Bedrohung durch einen Autobahnbau in nächster Nähe des Stiftes blieb auch nach dem Krieg aufrecht: 1957 teilte die NÖ-Landesregierung mit, die Autobahn entsprechend den RAB-Plänen umsetzen zu wollen!
Stift Heiligenkreuz musste sich neuerlich zur Wehr setzen. Erst ein Fachgutachten des berühmten Architekten Roland Rainer brachte die Landesregierung zum Umdenken – es folgte der Bau der Westautobahn A1 im heutigen, direkten Verlauf nach Wien.
Ein weiterer RAB-Pfeiler im Konventgarten von Stift Heiligenkreuz wurde erst 1981 gesprengt.
Dieser Autobahn-Durchlass hätte ein gefahrloses Unterschreiten der Reichsautobahn ermöglichen sollen.
Interview mit
Johannes Sachslehner: Buchautor und „Zeitenwanderer“
Ich treffe den Historiker und Germanisten Johannes Sachslehner in seinem Büro im Styria-Verlag in der Wiener City. Der Raum ist gefüllt mit Büchern, Unterlagen und Geschriebenem. Auch auf dem Computerbildschirm flimmert jede Menge Text.
Wir sprechen über das Buch „Streng geheim! Lost Places rund um Wien“, das Sachslehner mit dem Fotografen, Höhlen- und Heimatforscher Robert Bouchal verfasst hat und frage Johannes Sachslehner gleich zu Beginn, was das ist – ein Lost Place.
Er erläutert: „Der Begriff ,Lost Place’ ist in letzter Zeit sehr modern geworden und bezeichnet Orte, die in die Nutzlosigkeit gefallen sind, in das Vergessen, die keine Funktionen mehr erfüllen oder die in vielen Fällen auch unbekannt sind.
Manche dieser Orte waren streng geheim, wie z. B. unterirdische Stollenanlagen, unterirdische Rüstungsbetriebe, oder Kelleranlagen. Ein Lost Place ist z. B. auch der vergessene Vorführraum eines Dorfkinos in Ringelsdorf oder der Lindenberg bei Hirtenberg, wo es unterirdische Stollenanlagen gibt.
Das Finden ist nicht einfach. Bei dem Reichsautobahn-Durchlass bei Stift Heiligenkreuz sind es zum Beispiel private Kontakte mit Zeitzeugen und mit Heimatforschern gewesen. Das ist unser Kapital. Die Poststation in Perschling hingegen haben wir durch eigene Recherchen gefunden.
Wenn wir nach so einem Ort auf Google suchen und nichts dazu finden, dann ist er meistens genau richtig. Wir wollen die Orte nicht nur fotografieren, sondern auch etwas über deren Geschichte erzählen.
Damit liefert das Buch gleichzeitig viel Wissenswertes über die Industrialisierung, wie z.B. die Textilindustrie und die österreichisches Feudalwelt, oder einfach nur über Alltagskultur wie über ein Dorfkino oder eine Mühle. Dem Buch gingen lange Forschungen und Exkursionen voraus.
Sie haben ihren speziellen Reiz. Auch Entdeckerfreude und Abenteuerlust spielen eine Rolle. Diese Orte sind nicht museal aufbereitet, man trifft auf unmittelbare Eindrücke der Vergangenheit. Der Vorführraum des Dorfkinos in Ringelsdorf z. B. ist seit 40 Jahren nicht betreten worden. Wenn man dort hineingeht und die alten Filmrollen, Dias und Vorführgeräte liegen und stehen sieht, dann ist das ein sehr unmittelbarer Zugang.
Ja, für mich sind das immer wieder Memento-Mori-Momente. In der Endlichkeit, die dem vermoderten Holzbalken, dem rostigen Stahlträger, der zerbröselnden Mauer eingeschrieben sind, spiegelt sich unsere eigene Endlichkeit.
Was wir uns immer wieder wünschen ist, dass man mit offenen Augen im Wienerwald –
oder wo auch immer – spazieren geht. Es gibt vielleicht eine Krypta, Fresken. Wenn man die Augen öffnet, hinschaut, hinhört, kann man sehr viel mitnehmen. Dazu gibt das Buch Anregungen.
Vieles kann man selbst erwandern und so erfahren, was sich so versteckt hält in unserem schönen Land abseits der berühmten Sehenswürdigkeiten.
2018, Styria,
Hardcover,
240 Seiten,
EUR 27,00;
ISBN: 978-3-222-13602-3
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