Um Missstände zu überwinden, muss man zunächst die Wunden heilen und die nötigen Schlüsse für die Zukunft ziehen. ... Vielleicht könnte eine Synode all das in Erinnerung rufen.
Um Missstände zu überwinden, muss man zunächst die Wunden heilen und die nötigen Schlüsse für die Zukunft ziehen. ... Vielleicht könnte eine Synode all das in Erinnerung rufen.
Der Augsburger Kirchenhistoriker Jörg Ernesti über die Rücktrittsforderung an Papst Franziskus und die Solidarität mit unserem Papst. Und warum eine Bischofssynode zum Thema „Missbrauch“ richtig wäre.
Der von Missbrauchsvorwürfen belastete frühere Erzbischof von Washington, Theodore McCarrick, hat Papst Franziskus vor kurzem seinen Rücktritt aus dem Kardinalskollegium angeboten. Papst Franziskus hat diesen Rücktritt unverzüglich angenommen.
Hätte nicht eigentlich der Papst ihn schon früher entlassen müssen?
Wenn ich es recht sehe, standen bisher „nur“ Vorwürfe gegen den Kardinal im Raum, die zwar bei einem Kirchenmann absolut nicht zu billigen, aber strafrechtlich nicht relevant sind.
Nun ist noch der Verdacht des Missbrauchs von Minderjährigen hinzugekommen, und dabei handelt es sich sowohl nach staatlichem, als auch nach kirchlichem Recht um ein Strafdelikt. Nach einer rechtskräftigen Verurteilung hätte ihn Franziskus entlassen müssen.
Der frühere Erzbischof soll sich an einen noch näher zu bestimmenden Ort zurückziehen, um dort „ein Leben in Gebet und Buße zu führen“.
Ist das die einzige mögliche Sanktion?
Sollten sich die Missbrauchsvorwürfe erhärten, käme natürlich auch eine zwangsweise Rückversetzung in den Laienstand infrage. Dann dürfte der Kardinal sein Priesteramt nicht mehr ausüben.
Ich persönlich frage mich aber, ob es mit der Bestrafung einer einzelnen Person getan sein kann. Dass ein Bischof über Jahre unerlaubte Beziehungen zu Seminaristen, die ja von ihm abhängig waren, unterhalten konnte und anscheinend hinter vorgehaltener Hand darüber gesprochen wurde, niemand aber etwas gesagt hat: das scheint doch auf gravierende strukturelle Missstände in der US-amerikanischen Kirche hinzudeuten. Diese müsste man meines Erachtens angehen.
Wie interpretiert der Kirchenhistoriker die vielen bischöflichen Solidaritätsadressen für Papst Franziskus?
Jeder Katholik schuldet dem Papst Loyalität, Respekt und Unvoreingenommenheit. Insofern sind Solidaritätsadressen als solche eigentlich unnötig.
Sie zeigen aber – ebenso wie die zum Teil scharfen Angriffe gegen den aktuellen Papst – wie stark die Polarisierung in der katholischen Kirche derzeit ist. Hinzu kommt, dass manch ein Kirchenvertreter vielleicht auch seine eigene Agenda verfolgt, wenn er sich mit dem Papst solidarisiert oder ihn kritisiert.
Erzbischof Carlo Maria Vigano, ehemaliger Nuntius des Heiligen Stuhles in den USA, beschuldigt u. a. den Papst, den Missbrauch durch den ehemaligen US-Kardinal Theodore McCarrick vertuscht zu haben.
Wie schätzen Sie diesen Vorwurf ein?
Die Vorwürfe gegen den Papst kommen in diesem Fall nicht aus der zweiten oder dritten Reihe, sondern von einem Mann, der offizieller Vertreter des Heiligen Stuhls gegenüber der Regierung der Vereinigten Staaten und gegenüber der US-amerikanischen Kirche war. Anscheinend will der Papst sich zu den Vorwürfen nicht öffentlich äußern, wie eine Äußerung gegenüber Journalisten zeigt.
Bislang sind die Diskussionen aber nicht verstummt.
Auch fordert Erzbischof Vigano Papst Franziskus zum Rücktritt auf. Warum häufen sich jetzt diese Rücktrittsaufforderungen?
In der Geschichte hat es immer wieder Spannungen und Kontroversen zwischen dem Papst und den Kardinälen gegeben. Dabei ging es nicht immer um Sachfragen, sondern auch um Macht und Einfluss.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Paul VI. hat nach dem Konzil sowohl von dem konservativen Kardinal Ottaviani als auch von dem progressiven Kardinal Suenens Kritik einstecken müssen, die ihn persönlich tief verletzt hat. Auch Rücktrittsforderungen sind kein Novum.
Papst Franziskus hat hohe Erwartungen geweckt, als er sein Amt angetreten hat – nach fünf Jahren ist eine gewisse Ernüchterung eingetreten, nicht zuletzt aufgrund von missverständlichen Äußerungen und Uneindeutigkeiten. Aber sollte er auch Fehler gemacht haben: das rechtfertigt meiner Meinung nach nicht die Forderung zurückzutreten.
Auch behauptet Vigano, Benedikt XVI. habe McCarrick deswegen schon 2009 oder 2010 mit Sanktionen belegt. Ist das nachweisbar?
Auf den ersten Blick scheint hier Aussage gegen Aussage zu stehen. Papst Benedikt, so der Nuntius, habe Sanktionen verhängt, Papst Franziskus dagegen habe sie aufgehoben. „Ein Leben in Gebet und Buße zu führen“ ist keine streng kirchenrechtliche Sanktion.
Es scheint sich eher um eine dringende Weisung des Papstes an einen Kardinal zu handeln, der ihm als solcher zu besonderem Gehorsam verpflichtet ist. Manches scheint darauf hinzudeuten, das Kardinal McCarrick es in der Zwischenzeit mit dieser Weisung nicht allzu genau genommen hat und durchaus öffentlich aufgetreten ist.
Das muss aber nicht automatisch darauf hindeuten, dass Papst Franziskus die Weisung seines Vorgängers aufgehoben hätte. Vielleicht hat er sie nur nicht erneut eingeschärft.
Die gegenwärtige kirchliche Krisensituation ist in ihrer Dramatik und Tiefe mit der Krisensituation der Reformationszeit oder auch der Französischen Revolution vergleichbar, sagt der tschechische Religionsphilosoph Tomas Halik.
Stimmt diese Einschätzung?
Noch wächst weltweit die Zahl der Katholiken, und auch die Zahl der Priester nimmt nicht ab.
Doch haben die jüngsten Krisen gerade in manchen katholisch geprägten Ländern tiefe Wunden aufgerissen. Hinzu kommt, dass in vielen Teilen Südamerikas und Asiens die katholische Kirche durch eine aggressive freikirchlich-pentekostale Mission an den Rand gedrängt wird. Insofern würde ich Professor Halik Recht geben.
Allerdings hat die Kirche in den tiefsten Krisen ihrer Geschichte ihre größten Selbstheilungskräfte bewiesen. Das ist das Überraschende an der Kirchengeschichte: Wenn es am schlimmsten steht, kommt es zu Aufbrüchen, mit denen niemand gerechnet hat.
Braucht es jetzt auch noch eine Bischofssynode der Weltkirche zum Thema „Missbrauch“?
Ja, sicher. Ich persönlich war schockiert über das Ausmaß der Missstände, die sich in Irland, in Chile und in den USA gezeigt haben.
Um Missstände zu überwinden, muss man zunächst die Wunden heilen und die nötigen Schlüsse für die Zukunft ziehen.
Ein einziger Missetäter im Klerus reicht aus, die Arbeit von vielen anderen Geistlichen zunichte zu machen und das Vertrauen der Gläubigen zu zerstören. Vielleicht könnte eine Synode all das in Erinnerung rufen.
zur Person
Prof. DDr. Jörg Ernesti
Professur für Kirchengeschichte, unter besonderer Berücksichtigung der Mittleren und Neuen Kirchengeschichte der Universität Augsburg
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