Papst Franziskus beim ökumenischen Gebet in Riga.
Papst Franziskus beim ökumenischen Gebet in Riga.
Evangelium soll an Arbeitsplätzen, in Politik und Wirtschaft hörbar werden.
Papst Franziskus hat in Lettland die christlichen Kirchen vor einem Rückzug in die eigene Vergangenheit gewarnt. Das Evangelium müsse in der Öffentlichkeit, an den Arbeitsplätzen, in der Politik und der Wirtschaft hörbar werden, sagte er bei einem ökumenischen Gebet am Montagvormittag, 24. Dezember 2018 im lutherischen Dom von Riga. Wenn sich Christen in ihrer Geschichte und Gotteshäusern verschlössen, vergäßen sie darüber "das gemeinsame Haus", das alle angehe. Die Christen verschiedener Konfessionen müssten heute "zu Handwerkern der Einheit" werden, "damit unsere Unterschiede nicht zu Spaltungen führen", sagte der Papst, und weiter: "Möge der Heilige Geist uns mit den Waffen des Dialogs, des Verständnisses, der Suche nach gegenseitigem Respekt und der Geschwisterlichkeit bekleiden."
Die Ansprache des Papstes war bislang die längste während seiner am Samstag begonnenen viertägigen Reise nach Litauen, Lettland und Estland. An der ökumenischen Feier in Rigas gotischem Dom, der größten Kirche im Baltikum, nahmen neben dem lutherischen Erzbischof Janis Vanags als Gastgeber auch der russisch-orthodoxe Metropolit Alexander Kudryashov und der katholische Erzbischof Zbignevs Stankevics teil.
Die ökumenische Begegnung war untermalt von zahlreichen Musikeinlagen, und auch Franziskus griff in seiner Ansprache die Musik für ein Sprachbild über den Glauben auf. "Wenn die Musik des Evangeliums nicht mehr in unserem Leben gespielt wird und zu einer schönen Partitur der Vergangenheit wird, wird sie nicht mehr die Monotonie durchbrechen können, die die Hoffnung erstickt und all unsere Bemühungen steril werden lässt", sagte der Papst. Als "eines der schlimmsten Übel unserer Tage" bezeichnete er Einsamkeit und Isolation. Dabei verwies er auf alleingelassene Senioren wie auf junge Menschen ohne Orientierung und Zukunftsperspektiven.
Die Kirchen seien herausgefordert, "für die Würde jedes Mannes und jeder Frau ungeachtet ihrer Herkunft zu kämpfen", sagte der Papst. Christen sollten "die Betrachtung der Wunden der Vergangenheit und jedes selbstbezogene Verhalten aufgeben" und missionarischer werden. Der "einzig mögliche Weg jeder Ökumene" liege "im Kreuz des Leidens zahlloser junger und alter Menschen, zahlloser Kinder, die oft Ausbeutung, Sinnlosigkeit, einem Mangel an Chancen und Einsamkeit ausgesetzt sind".
Aus religionsdemografischer Sicht ist Lettland die bunteste der drei baltischen Republiken, die Papst Franziskus in diesen Tagen besucht. Von den rund 1,98 Millionen Letten bekannten sich Ende 2016 nach der neuesten Statistik des Justizministeriums in Riga 423.000 zur katholischen Kirche; das sind rund 21,4 Prozent. Die evangelisch-lutherische Kirche des Landes, - sie sorgte vor zwei Jahren für Schlagzeilen, weil ihre Synode die in sowjetischer Zeit begonnene Frauenordination wieder abschaffte - meldete rund 700.000 Mitglieder, was einem Anteil von etwa 35 Prozent entspricht. Der orthodoxen Kirche gehörten 370.000 Letten an (18,7 Prozent). Der Anteil der Juden, Muslime und Angehörigen anderer Religionen lag unter 2 Prozent; knapp jeder vierte gehörte keiner Religion an.
Im Anschluss an die Ökumene-Begegnung besuchte Papst Franziskus auch die katholische St.-Jakobs-Kathedrale in Riga. In seiner Ansprache erinnerte er dabei an die Opfer der älteren Generation während der nationalsozialistischen und sowjetischen Ära in Lettland und kritisierte hart den sozialen Umgang mit den heute Betagten. Es schreie zum Himmel, wenn ihnen Fürsorge und Schutz verwehrt werde, sagte der Papst.
Franziskus nannte es "paradox", dass freie Menschen im Namen der Freiheit ältere Menschen der Einsamkeit, Verlassenheit, Ausgrenzung und Armut überließen. "Wenn das so ist, dann hat der sogenannte 'Zug der Freiheit und des Fortschritts' diejenigen, die für diese Rechte gekämpft haben, in den letzten Wagen abgeschoben", sagte er.
An der Begegnung in der katholischen Kathedrale nahmen vor allem ältere Katholiken teil. Viele von ihnen hatten sowohl die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkriegs wie auch die sowjetische erlebt.
Ähnlich wie der Papst beklagte Rigas Erzbischof Zbignevs Stankevics, manche von denen, die der atheistischen Ideologie widerstanden und Repressionen, Verfolgung und Exil ertragen hätten, könnten heute von ihren niedrigen Pensionen kaum leben. Daneben gebe es Betagte, die ungeachtet ihrer Armut noch immer Freiwilligendienste leisteten. Stankevics sagte weiter, auch als Minderheit wolle die katholische Kirche Lettlands eine "neue Qualität" zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung beitragen.
Die ehemaligen Sowjetrepubliken Lettland, Litauen und Estland, seit 2004 Mitglieder der EU, werden aufgrund ihres Wirtschaftswachstums mitunter als "baltische Tiger" bezeichnet. Zugleich leidet ein erheblich höherer Bevölkerungsanteil als im EU-Durchschnitt unter Armut oder ist armutsgefährdet.