Patrick Curran, britischer Staatsbürger und anglikanische Pfarrer in Wien, findet, dass wir vergessen haben, worum es eigentlich in der EU geht. „Es ist ein Friedensprojekt, um die Kriege in Europa einzudämmen.
Patrick Curran, britischer Staatsbürger und anglikanische Pfarrer in Wien, findet, dass wir vergessen haben, worum es eigentlich in der EU geht. „Es ist ein Friedensprojekt, um die Kriege in Europa einzudämmen.
Kommt es zu einem ungeordneten Brexit oder findet die britische Premierministerin Theresa May mit der Europäischen Union noch eine Lösung aus der verfahrenen Situation? Turbulente Zeiten durchlebt zurzeit das Vereinigte Königreich. Der anglikanische Pfarrer in Wien, Patrick Curran, sagt im SONNTAG, wie er als britischer Staatsbürger den Prozess des EU-Austritts persönlich erlebt.
Seit Monaten ist der Brexit das beherrschende politische Thema auf europäischer Ebene – der für 29. März dieses Jahres geplante Austritt des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union.
Am 15. Jänner wurde im Unterhaus des britischen Parlaments das mit der EU vereinbarte Austrittsabkommen mit einer großen Mehrheit von 432 zu 202 Stimmen abgelehnt. Nach dieser historischen Niederlage will die britische Premierministerin Theresa May nun das britische Parlament mit Zugeständnissen der EU doch noch auf ihren Brexit-Kurs bringen.
Am 29. Jänner sollen die britischen Parlamentarier über den weiteren Weg bis zum EU-Ausstieg und über Alternativpläne zu Mays Vorgehen abstimmen.
Der SONNTAG hat bei Patrick Curran, dem anglikanischen Pfarrer an der Christ Church in Wien nachgefragt, wie er die Situation in seinem Heimatland einschätzt.
„Ich durfte am 23. Juni 2016 gar nicht wählen“, erzählt Patrick Curran. „Alle britischen Staatsbürger, die zehn Jahre außerhalb des Vereinigten Königreiches wohnten, durften nicht am Referendum über den EU-Austritt teilnehmen.
Man könnte sagen: Das ist ein Skandal, dass der Bürger eines Landes nicht wählen kann. Aber das wurde von unserem Parlament, das de facto der Souverän ist, eben so entschieden.“
Laut Curran sind etwa 80 Prozent der Briten, die Auslandserfahrung haben, für die Europäische Union. „Das Problem mit dem Brexit ist, dass man in einer innerparteilichen Diskussion die Problematik „Europa“ vom Volk entscheiden ließ.“
Der damalige Premierminister David Cameron war der Meinung, das Referendum werde für die EU ausgehen, dann könne er das Thema in seiner Partei zur Seite legen und weiter regieren. Seit zwei Jahrzehnten ist die konservative Partei – die Torys - in diesem Thema gespalten: für oder gegen Europa.
„Geographisch gehört Großbritannien zu Europa, auch in kulturellen Aspekten zu Westeuropa. Aber man war von Anfang der Mitgliedschaft an nicht pro-europäisch eingestellt, sondern man sagte, dass könnte uns irgendwie bereichern.
Was wir davon herausziehen können, das ist gut, aber mit dem anderen müssen wir leben. Aber viele konnten damit nicht leben“, sagt Patrick Curran. Es gab schon in den 1990er Jahren Kampagnen, aus der Union auszutreten.
Die britischen Medien waren lange Zeit gegen einen Brexit. „Politische Kräfte aller Parteien haben oft die EU als Sündenbock benutzt, obwohl die Macht noch immer in den Händen der Nationalstaaten liegt. Die EU kann nur das verwirklichen, was die Mitgliedsstaaten dazu beitragen.“
Patrick Curran findet, dass wir vergessen haben, worum es eigentlich in der EU geht. „Es ist ein Friedensprojekt, um die Kriege in Europa einzudämmen. In einer gewissen Weise war man damit erfolgreich.
Das Vereinigte Königreich selbst sieht sich nicht schuldig am 1. oder 2. Weltkrieg, sondern als Sieger bzw. Befreier.“ Das sei die britische Sicht, aber die Sicht der Geschichte sei eine andere, betont der Brite.
„Es ist ein Friedensprojekt, in dem wirtschaftliche Interessen so verflochten sind, dass es gar nicht mehr das Interesse einer Nation sein kann, dass man sich abkapselt.
Es zeigt sich jetzt, wie schwierig es ist, sich herauszunehmen und einen eigenen Weg zu gehen.“ Eine Frage, die den anglikanischen Priester sehr beschäftigt: Kann der Frieden in Nordirland erhalten bleiben, wenn das politische Gleichgewicht durch den Brexit gefährdet werden könnte?
„Im irischen Bürgerkrieg gab es 4.000 Tote. Das ist nicht so lange her. Wie man es löst, ist Aufgabe der Parlamentarier. Was ich nicht verstehen kann ist, warum man wieder einen Krieg in Nordirland entfachen möchte. Wer könnte das wollen?
Kräfte, die ihre Interessen durch Gewalt verwirklichen wollen, könnten diesen Moment für sich selbst ausnutzen und für Verunsicherung in der Bevölkerung sorgen. Plötzlich könnten Autobomben wieder zum Alltag gehören.“
Patrick Curran hofft, dass die Menschen, die den Frieden eine Generation lang genossen haben – das Karfreitagsabkommen wurde 1998 vereinbart – als Volk gegen solche Tendenzen angehen. Oft wird der Brexit in den Medien als Endzeitdrama geschildert. „Aber manchmal wird es überdramatisiert, dadurch werden die Leute verunsichert. Es kann ein Instrument der Politik sein, das zu tun.“
Was Curran heute beobachtet: Die jungen Menschen sind eher für die EU, sie sehen ihre Zukunft in einem vereinten Europa. Sie wollen nicht als Nationen eingegrenzt sein, sondern haben eine größere Identität, die sie auch leben wollen.
„Keiner kann jetzt vorhersagen, was passieren wird. Es zeigen sich Egoismen von einigen Politikern. Ein neues Referendum ist für einige ein Hoffnungsschimmer. Aber man pocht immer darauf, dass es der Wille des Volkes ist, dass es den Bruch gibt.
Wir können die Zeit nicht zurückdrehen, aber ein Referendum ist immer eine Meinung, die das Volk in diesem Moment hat. Die Menschen wurden teilweise nicht informiert und die Europawahlen immer wieder benutzt, um gegen die Regierung zu stimmen.
Die Leute wussten letzten Endes nicht, wofür sie stimmten, denn es gab auch keinen Vertrag. Es gab nichts“, sagt Patrick Curran und sieht hier ein Unvermögen der Führung: „Der Premierminister David Cameron hätte damals sagen müssen: ‚Aus meiner Sicht sind wir gespalten, das ist ganz klar. Das ist kein wirklich eindeutiger Ausgang der Abstimmung: 52 % Ja-Stimmen zu 48 % Nein-Stimmen.
Wir müssen uns Zeit nehmen, um es richtig anzugehen. Wir geben Menschen wahre Informationen, so dass sie wissen, worüber sie abstimmen, wenn wir das Thema als Referendum noch einmal einbringen wollen, oder wir werden das im Parlament noch einmal intensiv diskutieren. Er hätte nicht handeln müssen.
Es gab eine deutliche Schwäche in dem Moment – und das hat jetzt seine Konsequenzen. Und Theresa May hätte nicht am 29. März 2017 den Austritt nach Artikel 50 des EU-Vertrages auslösen müssen. Sie hätte zunächst einen Austrittsvertrag aushandeln können, im Parlament darüber abstimmen und erst dann diesen Austritt auslösen sollen.“
Das Land ist sehr gespalten, die Menschen können sich über das Thema kaum mehr unterhalten. Viele sagen: „Ich möchte davon nichts mehr hören.“ „Wenn das alles vorbei ist, ist die Kirche hoffentlich da, die Menschen miteinander neu zu versöhnen. Sie soll Freiräume anbieten, wo die Menschen zusammenkommen können und darüber reden, was da passiert ist“, meint Curran.
„So sieht sich die Kirche: Es gibt ein Danach. Auch in den Kirchengemeinden ist man sehr gespalten. Sehr viele anglikanische Gläubige in England sind eher für den Brexit, die Bischöfe sind für ein Bleiben in der Union. Das ist eine Spannung, die man aushalten muss.“
Wenn sich Patrick Curran etwas wünschen dürfte: „Es müsste eine Nachdenkphase geben. Wir haben zurzeit keinen Weg. Wir sollten jetzt eine Pause einlegen, nicht morgen oder übermorgen entscheiden. Wenn es ein Referendum geben sollte, dann müsste es erst in fünf Jahren sein. Es müsste Neuwahlen geben, dann könnte man etwas Neues angehen.
Da ist jetzt nicht der richtige Moment, dass das Vereinigte Königreich die Europäische Union verlässt. Das ist im Parlament deutlich geworden: Es weiß nicht wirklich, was es will. Es sind zu viele unterschiedliche Stimmen.“
WEG ZUM BREXIT
In der Sendung "Lebenswege" spricht Patrick Curran über seine Sicht auf die politische Debatte um den Brexit. Zugleich geht die Weltgebetswoche für die Einheit der Christen zu Ende. Bei diesem Thema kommt er auf den Weg zur Einheit der christlichen Kirchen zu sprechen.
Eine Sendung von Stefan Hauser.
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