Die Wahl zum Europäischen Parlament findet seit 1979 alle fünf Jahre statt.
Die Wahl zum Europäischen Parlament findet seit 1979 alle fünf Jahre statt.
Unser kirchlicher Experte in Brüssel, Michael Kuhn, erzählt kurz vor der Europa-Wahl am 26. Mai, welchen Beitrag Christen für das europäische Projekt leisten können und warum dringend eine neue Vision für Europa notwendig ist.
Der Theologe und Kommunikationswissenschaftler Michael Kuhn ist überzeugter Europäer. Seit 35 Jahren lebt er außerhalb von Österreich. Den größten Teil seines Lebens hat er in zwei anderen europäischen Ländern verbracht. Zunächst in den Niederlanden, dann in Belgien.
Seit 1993 ist sein Hauptsitz in Brüssel, ab 1997 hat er dort das Verbindungsbüro der Österreichischen Bischofskonferenz aufgebaut. 2003 wurde dieses in die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft eingegliedert.
Kuhn war bis August 2018 zehn Jahre lang deren stellvertretender Generalsekretär. Er kennt die Institutionen der Europäischen Union sehr gut.
In vielen Ländern Europas hat die Rolle und die Bedeutung der Religion in der Form der Kirche abgenommen, was aber nicht heißt, dass Religiosität zurückgegangen ist.
„Sie ist nicht verdampft, sondern sie ist anders kanalisiert. Menschen haben weniger Interesse an der Institution und mehr an spiritueller Erfahrung, wie undeutlich und unorganisiert sie auch immer sein mag“, sagt Michael Kuhn.
Das wirkt sich natürlich auch auf die Art und Weise aus, wie die Kirche in Europa heute funktionieren und welchen Beitrag sie zum europäischen Projekt leisten kann.
„Sie kann nicht mehr, wie früher, mit einem Machtanspruch auftreten, sondern sie muss argumentieren. Sie muss verstehen, dass sie einen möglichen Beitrag zur Diskussion leistet, wichtige Themen anspricht, aber trotzdem nicht die Patentlösung im Sack hat.
Sie wird nicht unbedingt als die große Autorität gesehen, wobei man das sofort wieder relativieren muss, denn Papst Franziskus wird in der Politik sehr wohl als moralische Autorität gesehen.“
Vor etwas mehr als einem Jahr hat Papst Franziskus in einem Symposium, das die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft in Rom organisierte, den Dialog als einen ganz wesentlichen Beitrag der Christen für den europäischen Integrationsprozess in Erinnerung gerufen und eingemahnt.
„Es geht darum, nicht zu sagen: Das sind unsere Werte und die sind ganz zu nehmen oder zu lassen. Sondern wir können zum Gesamtwohl der europäischen Gesellschaft beitragen und darüber möchten wir gerne mit anderen ins Gespräch kommen“, erklärt Kuhn.
„Zuhören, was andere bewegt, welche Entwürfe sie haben und auf der anderen Seite nicht sofort den Kompromiss suchen, sondern unsere Vorstellungen in das Gespräch mit einbringen. Aus diesem Gespräch entwickelt sich ein neues Verständnis und eine neue Sichtweise. Das, denke ich, kann auch zur Lösung von Problemen in Europa beitragen.“
Dieser Hinweis von Papst Franziskus, die Christen sollten besonders die Dialogfähigkeit einbringen, bedeutet laut Kuhn im Prinzip schon einmal, dass Politik aus kirchlicher Sicht überhaupt möglich ist.
Im zweiten Schritt heißt es aber, wenn man auf der politischen Ebene aktiv ist, zu schauen, wofür die Europäische Union kompetent bzw. nicht kompetent ist.
„Wir dürfen nicht vergessen, dass nicht ganz oben die Europäische Union steht und die Mitgliedstaaten Befehlsempfänger sind. Die Mitgliedsländer sind Gesetzgeber gemeinsam mit dem Europäischen Parlament.
Sie haben eine Verantwortung für das, was in Europa möglich ist und was in Europa politisch geschieht. Es gibt Kompetenzen, die die Mitgliedsstaaten an die Europäische Union, also an das Gemeinsame, abgetreten haben. Andere Bereiche haben sich die Mitgliedsstaaten vorbehalten.
Im Rahmen der Europäischen Union hat es wenig Sinn über Dinge zu reden, die nicht in den Kompetenzbereich der Union fallen.“
Kuhn nennt ein Thema, das immer eine große Rolle spielt: Lebensschutz ist eine nationalstaatliche Aufgabe und keine europäische Kompetenz, nur in einem sehr engeren Bereich zum Beispiel in der Forschung. Aber alles andere fällt in den Bereich des Mitgliedsstaates.
„Das ist einer der klassischen Reflexe, die es gibt, Themen, die man auf der Ebene des Nationalstaates nicht gerne lösen will – oder worüber man die Diskussion nicht führen möchte, dann weist man auf Brüssel hin.
Aber letztendlich steht fest, dass Brüssel hier nichts zu sagen hat, nicht kompetent ist und dass man gefälligst die Aufgabe zu Hause in der eigenen Gesellschaft lösen muss.“
Die Frage, ob Europa weiß, wohin es geht, beantwortet der Europa-Experte Kuhn mit: Nein. „Es hat aber nicht nur mit Europa selbst zu tun, sondern auch mit der Globalisierung, der sehr engen wirtschaftlichen globalen Vernetzung.
Wir müssen uns bewusstwerden, dass verschiedene Probleme, vor denen wir stehen, globaler Natur sind.“ Als bestes Beispiel dafür führt Michael Kuhn die Frage des Klimawandels an. „Je mehr wir uns damit auseinandersetzen, desto mehr sehen wir, dass es hier um Herausforderungen geht, die wir nur gemeinsam auf globaler Ebene angehen können.
Das wird für die Europäer zunehmend schwierig, weil sie durchaus Ideen haben, wie man Lösungen finden könnte, aber Europa wird im gesamten globalen Kontext immer kleiner, der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung sinkt.“ Das liegt laut Kuhn in erster Linie am rasanten Wachstum in anderen Teilen der Welt, in Asien oder in Afrika.
Europa ist am Ende eines Zykluses angekommen. Es gibt auf dem Kontinent nach wie vor einen sehr hohen Wohlstand und eine große wirtschaftliche Sicherheit. Auf der anderen Seite ist bemerkbar, dass selbst in Europa eine Spaltung in der Gesellschaft entsteht.
„Statistisch betrachtet geht es uns sehr gut, aber innerhalb der europäischen Gesellschaft gibt es große Unterschiede und damit kommen wir im Moment nicht wirklich zurande. Das hindert uns daran, wirklich die Rolle auf globaler Ebene zu spielen, die wir eigentlich spielen könnten.
In der ganzen Frage ‚Klimaschutz‘ könnten wir in Europa sehr viel weiter gehen, sowohl was die technischen Möglichkeiten betrifft, über die wir verfügen, als auch die finanziellen Mittel, die man dafür braucht“, sagt Kuhn.
Menschen sehen in der Globalisierung plötzlich nicht mehr etwas, das zu weiterem Wohlstand verhilft, sondern sie fühlen sich existenziell bedroht, wenn z.B. Arbeitsplätze wegfallen.
Für Michael Kuhn ist eines ganz klar: Es fehlen Politiker, die in der Lage sind, in der heutigen Situation eine Vision zu entwickeln und zu sagen, wir müssen in diese oder jene Richtung gehen.
„Wir müssen danach trachten, ein neues Narrativ zu finden: Was hält uns zusammen? Am Anfang war es relativ einfach. Da war es der Friede. In der heutigen sehr komplexen Gesellschaft ist es schwierig, ein solches Narrativ zu finden.
Diejenigen, die momentan ein solches anbieten, nennen wir zurecht Populisten, weil sie meinen, dass sie eine ganz schnelle und leichte Lösung haben. In einer komplexen Situation gibt es aber keine schnellen, einfachen Lösungen.
Aber von denen, die versuchen, die Komplexität auf ganz wesentliche Punkte zurückzuführen, gibt es ganz wenige.“ Einer, dem das gelingt, ist Papst Franziskus. Davon ist unser kirchlicher Experte in Brüssel überzeugt. Mit seiner Enzyklika „Laudato si“ vor fast vier Jahren hat Franziskus einen Entwurf auf den Tisch gelegt, der die Komplexität der Welt beschreibt.
Auf der anderen Seite legt er den Finger dorthin, wo Veränderung ansetzen müsste: Klimawandel und soziale Spaltung.
„Wir sind in Brüssel gerade dabei, eine Art Allianz auf die Beine zu stellen. Diese soll versuchen, Menschen zusammenzubringen. Ob das jetzt Christen oder keine Christen sind, ist gar nicht so sehr der wesentliche Punkt. Sondern es ist wichtig, dass sie diese gleiche Zielvorstellung von Europa haben.“
Michael Kuhn verweist auch auf die junge Generation. Sie gibt ihm Hoffnung. „Junge Menschen sagen oft, dass sie keiner Kirche angehören, sich jedoch religiös fühlen. ‚Laudato si‘ haben viele von ihnen gelesen und überlegen sich, wie sie mit ihren Talenten dazu beitragen können, die Erde lebensfähig zu erhalten.“
Experte
Michael Kuhn
Referent der Österreichischen Bischofskonferenz für Europa und die Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft
20.5.2019 um 17:30 h
In der Sendereihe Perspektiven: Quo vadis Europa?
Stefan Hauser unternimmt mit dem Referenten der Österreichischen Bischofskonferenz für Europa und die ComECE, Michael Kuhn eine Bestandsaufnahme zum Europa der Gegenwart.
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