Den Winter 1957/1958 verbrachte der Dichter und Schriftsteller Reinhold Schneider in Wien. Es war sein letzter Winter. Der erst 55-jährige führte Tagebuch über die vier, fünf Monate, die er in Wien verbrachte. Schon schwer leidend, von tiefer Schwermut heimgesucht, ehe er an Ostern 1958 verstarb, hat Reinhold Schneider immer wieder über die Schrecklichkeiten, die unfassbaren Grausamkeiten der Natur gesprochen, von dem "Prozess des Fressens und Gefressenwerdens" (Winter in Wien, Freiburg 1958, 184), aber auch von der sinnlos schrecklichen Menschenwelt, voll Leid und Krieg und bodenloser Bosheit.
Hatte der Kranke, depressive Dichter seinen Glauben verloren, der in der Nazizeit so vielen Menschen Halt gegeben hatte? War er zu einer tragischen Weltsicht zurückgekehrt, die ihn vor seiner Bekehrung zum katholischen Glauben geprägt hatte? Seine Betrachtungen, seine an Verzweiflung grenzende Ratlosigkeit vor den Grauen dieser Welt stellen den Glauben an einen guten Schöpfer, an seinen sinnvollen Plan, seine gütige Vorsehung in Frage. Drei Notizen seien aus diesen Tagebüchern zitiert:
1. Anlässlich eines Besuchs im Naturhistorischen Museum vermerkt Reinhold Schneider: "Man gehe nur einmal durch das Naturhistorische Museum - und Gott ist ebenso nahe wie fern. Es ist unmöglich, ihn vor dieser unübersehbaren Gestaltenwelt, dieser entsetzlichen Fülle der Erfindungen zu leugnen; ihn zu leugnen vor der absurden Architektur des Dinosauriers - einer Kathedrale der Sinnlosigkeit, des Lebenswillens, der nicht leben kann; vor den bösen Gespenstern japanischer Krabben, eines hochbeinigen Liebespärchens aus dem Inferno; vor dem Octopus, dem achtfachen Kopffüßler, den man, wenn ich mich recht erinnere, im Hamburger Aquarium zur Erbauung der Besucher mit einer Riesenlanguste konfrontierte. Der Verlauf der Begegnung war überraschend: Der Octopus umschlang die Scheren des Gegners, zerbrach sie und saugte das Leben aus der Schale. Und der Seestern bricht die Muscheln auf, stößt den Magenschlauch hinein und trinkt sie leer wie ein Ei. Von den Haien, die sich über die Walrosse werfen - von der Seite her; von der Wehrlosigkeit der Seehunde und Delphine ist nichts zu sagen, und nichts vom Kampf der Riesenquallen mit den Walen; vom Frosch, der aufrecht stehend wie ein Mensch, von dem ihn umschnürenden Egel ausgesaugt wird..." (Winter in Wien 129-130).
2. Warum gibt es in einer guten Schöpfung Parasiten und ihr unvorstellbar grausames Wirken? Oder ist es nur unsere Vorstellung, die uns erschaudern lässt? Ist "die Natur" vielleicht eben so, ohne Erbarmen, ohne Mitgefühl, "rotierende Höllen", wie Schneider (ebd., S. 171) sagt? Hören wir ihn nochmals: "Man muss beten, auch wenn man es nicht kann. Ich kann sehr wohl beten für andere, die Priester, Forscher, Staatsmänner, die Völker, die Kreatur, die Erde; für die Kranken zuerst, wie es sich versteht, und für die Toten; das ist die stille Bestätigung eines rätselvollen Zusammenhangs. Ich habe ein tiefes Bedürfnis danach; es ist das, was mich hält, was mich morgens in die Kirche ruft; für mich kann ich nicht beten. Und des Vaters Antlitz hat sich ganz verdunkelt. Es ist die schreckliche Maske der Zerschmeißenden, des Keltertreters; Ich kann eigentlich nicht 'Vater' sagen ... Lesen wir nur ein Kapitel über Parasiten (bei Natzmer, K.v. Frisch, der doch wahrlich mit Augen der Liebe noch Läuse, Wanzen und Flöhe betrachtet, ein fast einzigartiger Fall, oder bei L.v. Bertalanffy). Erinnern wir uns nur der alltäglichen, schon oft erzählten Geschichte von den im Gedärme gewisser Vögel lebenden Schmarotzern, deren Eier durch den Kot sich in Schnecken einschleichen; in diesen wachsen sich die Keime zu Schläuchen aus, die in die Fühler vordringen; in den aufdunsenden Fühlern entwickeln sie ein anreizendes Farbenspiel und ebensolche Bewegungen; das lockt die Vögel an, die Fühler abzureißen; so kommen die Parasiten wieder an ihren Platz. Und immer wachsen der Schnecke wieder Fühler, und immer werden sie abgerissen; die Schnecke ist nur Herstellerin der Zerstörer, die sie und die Vögel zerstören; ohne Myriaden von Zerstörern zu beherbergen, ohne von ihnen sich bedienen zu lassen, könnte kein höherer Organismus bestehen; ohne sie also könnte auch der Geist sich nicht aussagen. Und was sind nun Liebe und Schönheit? Es bedarf äußerster Kraft, sie niemals zu verletzen (119-120).
Die Beispiele lassen sich leider beliebig vermehren. Wer hat nicht schon von der "Gottesanbeterin" gehört, die bei der Begattung das Männchen lebendig auffrisst? Wo ist da ein "Intelligent Design"? Wo ein guter und liebender Schöpfer, der von seiner Schöpfung sagen kann, dass sie gut ist?
3. Was sollen wir schließlich von der nie endenden Kette an menschlichem Leid denken? Reinhold Schneider notiert in seinem Winter-Tagebuch, was er an einem Tag, "die Zeitungen durchblätternd", an sinnlos-zufälligem Leid von unschuldigen Kindern zusammen gelesen hat. "Am klarsten sagt sich die Zeit in ihren Absurditäten aus; ich kann es nicht lassen, sie zusammenzutragen: in Holland wurde ein vierjähriges Mädchen mit einem radioaktiven Stoff behandelt; die Spitze der Nadel brach ab und blieb unbemerkt stecken; von dem erkrankten Kind geht eine Verseuchung aus, die die wackre Familie Haanschoten aus ihrem Häuschen in Putten vertreibt; auch der Garten ist verpestet und der daran vorbeiführende Weg zur Kinderschule. In Wien stirbt eine Achtjährige, der ein Zahn gezogen wurde, an der Schockwirkung im Behandlungszimmer; in Oakland in Kalifornien hat das Gericht den Eltern zweier Kinder recht gegeben, die nach der Impfung mit Salkserum nicht heilbare Lähmungen und Rückgratsverkrümmung erlitten; in der Nähe von Bari sind vier Kinder gestorben, die auf die Anordnung des Gesundheitsamtes mit einem bisher noch nicht verwendeten Serum gegen Diphtherie geimpft wurden; fünfzehn Kinder liegen im Spital. In der Münchener Universitätsklinik hatte eine Schwester das Unglück, einem jungen Mädchen statt eines narkotisierenden Mittels Benzin einzuspritzen; die Patientin stirbt. Das kann man, die Zeitungen durchblätternd, am selben Tage lesen" (126-127).
Ich könnte noch lange fortfahren, Ihnen ähnliche Dinge vorzulesen. In den vielen Briefen, die ich in den letzten Monaten erhalten habe, kam oft diese Frage zur Sprache: Wo finden Sie einen vernünftigen Schöpfungsplan in einer Welt voller absurder Zufälligkeiten? Zwei Briefe darf ich exemplarisch zitieren. Ein Professor für Genetik und Entwicklungsbiologie schrieb mir vor kurzem: "Wer einmal ein Heim für unheilbare Kinder besucht und dort z.B. einen dahinvegetierenden Hydrocephalus mit ballonartigem Schädel oder augenlose Kinder - solche mit leeren Augenhöhlen - gesehen hat, wird Schwierigkeiten mit der Hypothese des 'Intelligent Design = ID' haben."
Ein Professor für Medizinische Computerwissenschaft schrieb mir im vergangenen Herbst:
"Früher hatte die Thematik der Evolution für mich keine besondere Brisanz... Seit drei Jahren jedoch habe ich mich... auch mit Bioinformatik eingehend beschäftigt. Dabei dringt man zwangsläufig relativ weit in die Genomforschung ein. Man kann ja heutzutage schon das ganze Genom auf jedem PC ansehen. Hatte ich vorher gedacht, 'Die Schöpfung ist wohlgeordnet und alle Unordnung sei nur Abweichung von dieser Wohlordnung...' (verschuldet oder unverschuldet), musste ich sehr bald von absolut planlosen Schritten einen völlig entgegengesetzten Eindruck gewinnen: Die Schöpfung erscheint eher als eine Ansammlung von planlosen Schritten, und wir sehen lediglich jene 'Produkte', die überlebt haben (und eine gewissen Funktionalität aufweisen). Diese wird (von manchen Interpreten) daher als 'planvoll gestaltet' bezeichnet. Es ist so ähnlich, als wenn jemand nach einem Gewinn im Glücksspiel eben dieses Gewinnen als Ergebnis eines planvollen Vorgehens bezeichnen würde... Würde uns das überzeugen? Man kann natürlich immer einwerfen, 'es erscheint zwar planlos, aber nur deshalb, weil wir den Plan dahinter eben nicht verstehen...' Auch dieses Argument hätte ich gerne für wahr gehalten.
Aber werfen Sie, Herr Kardinal, doch einmal selbst... einen Blick in das Genom! Sehen Sie, wie es dort 'drunter und drüber' geht. Es ähnelt einer vielfach ausgebesserten Stadt, wo auf den Trümmern einiger Teile Neues hinzugefügt wird. Kopien und verfälschte Kopien werden an passenden und unpassenden Plätzen eingefügt, teilweise in richtiger Orientierung, teilweise in umgekehrter: kein Techniker würde je so ein Durcheinander planen. Ja, es wirkt geradezu als 'das Gegenteil von Planung'.
Für mich als Christ war diese Erkenntnis zutiefst bestürzend, ich hatte genau das Umgekehrte bisher für wahr gehalten... Letztlich läuft es meines Erachtens darauf hinaus...: Gott hat sich der Evolution bedient um all das zu schaffen. Aber damit liegt das eigentliche Problem bereits auf dem Tisch: Wie kann Gott, der Barmherzige, all die fürchterlichen Versuche und Irrwege, Tausende Tode, zulassen, und das soll womöglich das Mittel seines planenden Schaffens sein? Dies widerspricht dem landläufigen Bild, das wir von Gott (durch die Kirche vermittelt) bekommen haben...
Es ist allerhöchste Zeit, sich die Welt, die Gott gemacht hat, genau anzusehen. Um herauszufinden, wie er es wirklich gemeint hat. Ich denke, niemand weiß es bis jetzt."