Liebe Schwestern und Brüder!
Wenn ich mich frage, was Reformationstag, Allerheiligen und Allerseelen miteinander zu tun haben, dann sind das für mich nicht bloß drei mehr oder weniger zufällig zusammengewürfelte Tage. Für mich stehen gestern, heute und morgen in der Spannung von Weg und Ziel.
Der gestrige Reformationstag hat eindeutig mit Unterwegssein und Weg zu tun. Martin Luther hat den Vortag zum Allerheiligenfest ganz bewusst für den Beginn seiner Reformation gewählt. Die übertriebene Heiligen- und Reliquienverehrung, der Ablasshandel rund um Allerseelen, der Aberglaube im Volk sowie der Lebensstil der Renaissancepäpste gaben Anlass zur berechtigten Kritik.
„Ecclesia semper reformanda!“ – Die Kirche muss immer erneuert werden – dieser Grundsatz der Reformation ist bleibend gültig und hat damit zu tun, dass die Kirche eben noch nicht am Ziel, sondern auf dem Weg ist. Und das gilt auch für uns alle. Wir wurden durch die Taufe in die heilige, katholische Kirche aufgenommen und eingereiht auf dem Weg in Richtung Heiligkeit, aber wir sind noch nicht am Ziel. Wir sind Christen, um Christen zu werden.
Nicht nur der gestrige Reformationstag, sondern in gewisser Hinsicht auch der morgige Allerseelentag hat mit Weg und Unterwegssein zu tun. Denn die Kirche sagt, dass der Mensch im Augenblick des Sterbens nicht schon am Ziel angelangt ist, sondern dass noch letzte Schritte der Reinigung und Läuterung notwendig sind. Der morgige Allerseelentag ist so gesehen ein ins Jenseits verlängerter Reformationstag, entstanden aus der Not, dass Menschen, die plötzlich aus dem Leben gerissen wurden, offensichtlich unfertig und unvollendet waren. Gott vollendet die Verstorbenen, er führt sie durch den Tod zum großen Ziel, ins Licht von Ostern.
Und zwischen dem Reformationstag und dem Allerseelentag, zwischen diesen Tagen des Unterwegsseins, leuchtet das Ziel auf, das heutige Hochfest Allerheiligen, der festliche Treffpunkt im Himmel als globales Gipfeltreffen all derer, die sich von Gott lieben und führen haben lassen. Unzählbar groß ist die Schar der Heiligen, niemand kann sie zählen, nur Gott allein kennt sie - so haben wir es in der Lesung gehört.
Allerheiligen ist eine Art festliche Vorfeier des großen Finales der Weltgeschichte, das göttliche Erntedankfest, bei dem alle Früchte der Menschheitsgeschichte eingesammelt werden und alle Lebenswege, die mit dem Evangelium zu tun haben, in Gott einmünden.
Die Menschengruppen, die Jesus in den Seligpreisungen aufzählt, sprengen unsere Kirchengrenzen. Denn Arme und Trauernde die ihren Platz bei Gott haben, Friedensstifter, hilfsbereite und barmherzige Menschen und solche, die sich für Wahrheit und Gerechtigkeit einsetzen oder um ihres Glaubens Willen verfolgt werden, gibt es ja nicht nur in der Kirche. Jesus preist alle Menschen selig, die bewusst oder auch unbewusst in seiner Spur gehen und die Liebe leben. Gott hat bei der Berufung zur Heiligkeit alle Menschen im Blick. Er will, dass alle das Ziel erreichen und gerettet werden.
Reformationstag, Allerheiligen, Allerseelen – diese drei Tage erinnern uns, dass wir als Getaufte zielgeführt und hoffentlich auch zielorientiert unterwegs sind. Die Wegweiser, die Gott uns schenkt, zeigen nicht in Richtung Angst und Untergang, sondern in Richtung Hoffnung und Vollendung. Und daraus könnte sich eine ganz neue Lebensqualität ergeben:
So könnte zum Beispiel unsere Sorge, dass wir zu kurz kommen, wenn wir uns für andere einsetzen kleiner werden.
Der Stress, uns selbst optimieren zu müssen, könnte abnehmen im Vertrauen: Gott wird uns die Vollendung schenken.
Und die Botschaft der Seligpreisungen, dass Arme und Verfolgte, dass die Letzten für Gott die Ersten sind, dass es nicht sinnlos ist, sich für Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen und barmherzig und hilfsbereit zu sein – das könnte uns doch dazu ermutigen, in unserer Zeit, in der soviel von Krisen und Spannungen, von Ängsten und Problemen die Rede ist, ganz bewusst gegen den Strom zu schwimmen mutig das Gute zu tun, das Schöne zu vermehren, Hoffnung auszustrahlen und unbeirrbar hilfsbereit zu bleiben.
Und schließlich könnte sich der weit verbreitete Aberglaube, Heiligkeit sei etwas Exotisches für moralisch Superqualifizierte auflösen in der Erkenntnis: Heilig werden hat nur wenig mit meiner moralischen Leistung, aber sehr viel mit meiner Beziehung zu Gott zu tun.
Denn nicht zuerst meine Verdienste, sondern meine Nähe zu Gott und die gelebte Liebe machen mich heilig.
Zum Schluss ein Erlebnis, das mich begleitet. Wir wurden aufgefordert, ganz kurz und so, dass es für junge Menschen verständlich ist, auf den Punkt zu bringen, was der Glaube an Gott für uns bedeutet. Ich weiß nicht mehr, was ich geantwortet habe, aber ein Freund von mir hat folgendes gesagt:
„Im Wartezimmer meines Zahnarztes hängt ein großes Plakat mit der Aufschrift: ‚Alles wird gut!‘ Bei meinem Zahnarzt bin ich mir da nicht so sicher, bei Gott schon.“
Auf Gott vertrauen, bewusst und wach leben, mutig und unbeirrbar hoffen, Gutes tun und Liebe schenken – das ist der Weg zur Heiligkeit. Auf diesem Weg führt Gott uns ans Ziel, in die Gemeinschaft aller Heiligen.
90 Heiligenfiguren auf den Pfeilern des Doms, unzählige Heilige des Alltags sind uns diesen Weg vorausgegangen. Alle Heiligen laden uns heute ein, ihrem Beispiel zu folgen und dem Versprechen Gottes zu trauen:
Alles wird gut!
Credo - daran glaube ich.