Einen Friedhofsführer der besonderen Art präsentierte der Wiener Dom-Verlag im Rahmen eines Rundgangs durch den Wiener Zentralfriedhof am Sonntag, 23. Oktober 2011. "Engel - Meisterwerke der Friedhofskunst" heißt der gut 200 Seiten starke Bildband des Fotokünstlers Gerd Götzenbrucker. Acht Jahre lang erstellte er ein umfangreiches Archiv von Engeln und weiblichen Grabskulpturen der 54 Wiener Friedhöfe. Schließlich hat er "seine Engel" in unterschiedlichen Lichtsituationen und durch die Jahreszeiten hinweg fotographisch festgehalten. Entstanden ist ein stimmungsvoller Begleiter durch 150 Jahre Wiener Grabmalkunst, mit Hintergrundinformationen zur Symbolik der Engelfiguren.
"Der sanfte Tod ist weiblich", sagt Gerd Götzenbrucker und weist auf mit Efeu umrankte Frauenskulptur hin, mit der sein großes Fotoprojekt begann. Um 1900 kam die Vorstellung vom "sanften Hinübergang in das Reich der Erlösung" auf, so Götzbrucker. In der Zeit des Historismus sei der Tod zunehmend weiblich dargestellt worden. "Früher im Mittelalter hatte man die Skelette und den Totentanz als Motiv. Mit den weiblichen Darstellungen kommt die Schönheit dazu, die den Schrecken nehmen soll." Die Engel, Trauer- oder Klagefiguren würden zeigen, dass Tod und Erotik zusammengehören, erklärt der Fotokünstler.
Als "Engel" bezeichnet Götzenbrucker fast alle Grabskulpturen - außer jener Büsten, die den Verstorbenen darstellen. Das sei gewagt, erklärt er, denn schließlich gäbe es eine kunsthistorische Entwicklung angefangen vom heidnisch-antiken Genius über den christlichen Schutzengel und Wächterengel bis zum historistischen Todesengel mit wallendem Haar und flatterndem Gewand. Besonders berührend seien die Schreibeengel: Mit einer Feder in der Hand schreiben sie Liebesverse auf den Grabstein: "Ruhe in Frieden" oder "Friede seiner Asche".
Die Blütezeit erlebte die Wiener Friedhofskunst zwischen 1870 und 1914: "Stilistisch war damals alles möglich", erklärt Gerd Götzenbrucker. So spiegle etwa das Grabmal des 1883 verstorbenen Industriellen Franz von Wertheim das bürgerliche Zeitalter wider. An dem historistischen Grabbau arbeiteten mehrere Spezialisten: Maler, Architekten, Bildhauer und Steinmetze. Die zwei lasziv-erotischen Frauenskulpturen auf dem Grabsockel stellen die Allegorien der Industrie und der Landwirtschaft dar.
Stilistisch ganz anders ist das Grabmal des im Jahr 1903 verstorbenen Komponisten Anton Rückauf: ein knabenhafter Jugendstil-Engel lehnt an einem beinahe unbehauenem Stein.
Vorläufer der christlichen Engel sind die Genien, meist kniende Jünglinge mit einer nach unten gehaltenen Fackel, dem Symbol des verlöschenden Lebens. Die meisten befinden sich am Biedermeierfriedhof Sankt Marx, dem "Geniengarten von Wien", so Götzenbrucker. Während die Sklupturen am Zentralfriedhof fast alle signiert sind, ist bei den älteren Figuren am Sankt Marxer Friedhof kein Meister mehr auszumachen.
Die Blütezeit der Friedhofsengel ging mit dem Ersten Weltkrieg rapide zu Ende: "Ich glaube, nach einem so schweren Krieg musste es zu einem Bruch kommen", meint Götzenbrucker. Frauenfiguren gäbe es dann fast keine mehr. "Nachdem so viele Frauen zu Witwen geworden waren, war eine Ästhetisierung des Todes in dieser Form nicht mehr tragbar."
Gerd W. Götzenbrucker
Engel.
Meisterwerke der Friedhofskunst
Wiener Dom-Verlag
ISBN: 978-3-85351-235-7
Preis: 29,90 Euro