Donnerstag 28. März 2024
Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Gefallen gefunden.
Mk. 1,11
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

6. Katechese vom 16. Februar 2002: "Tugend macht den Menschen gut"

Das Wort "Tugend" ist heute nicht sehr in Mode. Und doch haben die alten Meister mit Begeisterung davon gesprochen. Was den Menschen gut macht, nicht nur im Augenblick sondern auf Dauer, das nennen wir die Tugenden.

"Komm, Heiliger Geist, Geist der Wahrheit und der Liebe, erleuchte unseren Verstand, stärke unseren Willen, wohne ein unserem Gedächtnis, führe uns ein in alle Wahrheit, die da ist Christus unser Herr. Amen."

Im dritten Kapitel des Kolosserbriefs lesen wir, es ist die Lesung, die wir am Ostersonntag noch einmal hören werden: "Ihr seid mit Christus auferweckt; darum strebt nach dem, was im Himmel ist, wo Christus zur Rechten Gottes sitzt. Richtet euren Sinn nicht auf das Irdische, sondern auf das Himmlische! Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist mit Christus verborgen in Gott. Wenn Christus, unser Leben, offenbar wird, dann werdet auch ihr mit ihm offenbar werden in Herrlichkeit. Darum tötet, was irdisch ist an euch ab: die Unzucht, die Schamlosigkeit, die Leidenschaft, die bösen Begierden und die Habsucht, die ein Götzendienst ist. All das zieht den Zorn Gottes nach sich. Früher seid auch ihr darin gefangen gewesen und habt euer Leben davon beherrschen lassen. Jetzt aber sollt ihr das alles ablegen: Zorn, Wut und Bosheit; auch Lästerungen und Zoten sollen nicht über eure Lippen kommen. Belügt einander nicht; denn ihr habt den alten Menschen mit seinen Taten abgelegt und seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. [...] Ihr seid von Gott geliebt, seid seine auserwählten Heiligen. Darum bekleidet euch mit aufrichtigem Erbarmen, mit Güte, Demut, Milde, Geduld! Ertragt euch gegenseitig, und vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat [...] Vor allem aber liebt einander, denn die Liebe ist das Band, das alles zusammenhält und vollkommen macht" (Kol 3,1-14*).

I.

Heute soll von den Tugenden die Rede sein. Eben haben wir von einigen dieser Tugenden gehört, in der Ermahnung des Paulus, die darauf basiert, dass wir neue Menschen geworden sind durch die Taufe, dass wir, wie Paulus anderswo sagt, Christus angezogen haben in der Taufe (Gal 3,27). Es ist also von einem neuen Leben die Rede, von einem grundlegend verwandelten Leben. Aber gleichzeitig ist die Rede von ganz schlichten Tugenden, von Geduld, Demut, Güte, Barmherzigkeit. Ich möchte heute die Frage stellen, was es überhaupt auf sich hat mit den Tugenden, mit den menschlichen Tugenden, den natürlichen und dann speziell mit den christlichen, und wie sich diese beiden zueinander verhalten.

Aber beginnen wir bei dem, was letztes Mal der Schlusspunkt war, bei den Leidenschaften. Von ihrer Bedrohlichkeit, ihrer Macht aber auch von ihrer positiven Kraft war die Rede. Die Leidenschaften sind eine mächtige Kraft in unserem Leben, aber sie bedürfen, wie die Rosse hier bei den Fiakern, des Wagenlenkers, der Zügelung. Ungezügelt können sie zerstörerisch wüten, können unbändig und unmenschlich werden. Wer hemmungslos ist, ungezügelt im Konsum, im Essen und Trinken, im Verlangen nach sexueller Lust, im Streben nach Anerkennung, nach Ehre, Macht, Erfolg, dem fehlt etwas entscheidend Menschliches. Wir empfinden es nicht als ein geglücktes Menschsein, wenn jemand zügellos ist. Wer vor jedem Widerstand ängstlich zurückschreckt, sich gleich anpasst, auch dem fehlt etwas zum vollen, ganzen guten Menschsein. Wer leicht ausrastet und in Zorn gerät, hemmungslos herumbrüllt, dem fehlt etwas vom guten und ganzen Menschsein. Wer sich von den Leidenschaften treiben und davonreißen lässt, den nennen wir lasterhaft. Jähzorn ist ein Laster, Stolz ist ein Laster aber auch das chronische Bedürfnis nach Anerkennung und Lob ist ein Laster. Verschwendungssucht ist ebenso ein Laster wie die Kargheit des Geizes. Was sind die Laster, über die ich heute nicht ausdrücklich und ausführlich sprechen möchte? Nur kurz, sie sind schlechte Gewohnheiten, die so etwas wie Fahrrinnen auf einem Waldweg sein können, die sich so tief eingraben können, dass man mit dem Wagen kaum mehr aus diesen Spurrinnen herauskommt. Laster sind gewissermaßen Spurrinnen, die uns auf dem falschen Weg festhalten, Fehlprägungen, denen die guten Gewohnheiten gegenüberstehen, die wir Tugenden nennen.

Nun ist das Wort "Tugend" heute nicht sehr in Mode, es ist gelegentlich sogar bespöttelt und belächelt. Und doch, wenn wir weit zurückschauen in der abendländischen Geschichte bis zu den vorchristlichen Philosophen, mit welcher Begeisterung sie von den Tugenden sprechen, wie sie das Bild eines erfüllten, glücklichen Lebens zeichnen, das von den Tugenden geprägt ist, dann beeindruckt uns das doch auch heute noch, wie ein Platon, ein Aristoteles, die heidnischen Philosophen das Leben eines Menschen zeichnen, der sich zu beherrschen weiß, der seine Leidenschaften meistern kann, der in sich selber gerade und geordnet ist und das nicht nur im Moment sondern auf Dauer. Was also den Menschen so gerade macht, nicht nur im Augenblick sondern auf Dauer, was ihn gut macht, das nennen wir die Tugenden. Von denen soll heute die Rede sein, zuerst einmal von den einfachen menschlichen Tugenden und dann, in einem zweiten Schritt, die Frage: Wie steht es aber mit den christlichen Tugenden? Sind sie einfach dasselbe? Sind sie etwas anderes? Wie verhalten sie sich zueinander?

II.

Die vielleicht einfachste Definition von Tugend, die mir bekannt ist, habe ich beim hl. Thomas von Aquin gelesen, der wohl einer der größten Meister, vielleicht der größte Meister im Nachdenken über die Tugenden war, der einen Großteil seines gewaltigen Werks der genauen Analyse, der genauen Beobachtung und Sichtung dieser menschlichen Grundhaltungen gewidmet hat, die wir die Tugenden nennen. Er sagt ganz einfach: "Tugend ist das, was den Menschen, der sie hat, gut macht." Lateinisch klingt es noch knapper: "... quæ bonum facit habentem". Die Tugend macht den, der sie hat, gut. Ein guter Mensch, das ist nicht jemand, der da und dort einmal eine gute Tat tut, sich da und dort einmal anständig benimmt, sondern der gut ist. Kann das ein Mensch sein? Können wir gut sein? Nun, die alten heidnischen Meister waren überzeugt, dass es die Möglichkeit gibt, dass uns durch die Tugenden gewisse Haltungen in Fleisch und Blut übergehen, so uns zu eigen werden, dass sie uns wirklich gut machen. Aber sehen wir uns das etwas näher an.

Wenn wir bei den alten, vorchristlichen Meistern schauen, dann zeigen sie uns, dass die Tugenden ein sehr weites Feld sind. Da gibt es die sittlichen Tugenden, die Verstandestugenden aber auch die praktischen Tugenden, sozusagen die handlichen Tugenden, die "Tüchtigkeiten". Aristoteles greift da gerne auf das Bild des Handwerkers zurück. Der Tischler, der sein Handwerk gelernt hat, zuerst als Lehrling, dann als Geselle, schließlich es zur Meisterschaft, zum Meister gebracht hat, der kann sein Handwerk, er hat es intus, er hat es so in sich, dass es ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist. Der Bäcker, der sein Handwerk kennt, hat aus langer Erfahrung Wissen und Können angesammelt und eben die Erfahrung, die erst den Meister macht. Jeder von diesen ist Meister in seinem Fach. Es ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen, so sehr, dass ihnen die Arbeit leicht von der Hand geht. Wenn man einen Nichtbäcker an einen Backtrog stellt, wird wahrscheinlich nur Schweiß und kein gutes Brot hervorkommen. Und einen Nichttischler an die Werkbank zu stellen, auch das wird nicht ein Meisterwerk hervorbringen. Aber dem, der sein Handwerk gelernt hat, dem geht die Arbeit ganz natürlich von der Hand. Sie ist ihm gewissermaßen zur zweiten Natur geworden. Und, etwas ganz Wichtiges: Trotz aller Mühe, die mit der Arbeit verbunden ist, macht dem, der sie kann, die Arbeit auch Freude. Es befriedigt den Handwerker, wenn das Werkstück fertig ist, wenn es gut und ordentlich da steht. Ich erinnere mich an einen Steinmetz, mit dem ich in einer Kirche einen gotischen Grabstein angeschaut habe, einen feinziselierten gotischen Grabstein. Dieser Handwerker, dieser Steinmetz blieb vor dem Grabstein stehen voller Bewunderung, viel mehr als ich es konnte. Denn er wusste aus seinem Können, aus seiner Erfahrung, was dieser Meister dieses mittelalterlichen Grabsteins konnte.

"Übung macht den Meister." Wenn jemand eine Fertigkeit erworben hat, eine solche Tüchtigkeit, in welchem Bereich auch immer, langes Nichtausüben einer solchen Fertigkeit lässt diese rosten und vielleicht sogar verkümmern. Das gilt auch für Sprachen, die man einmal gelernt hat. Wenn man sie nicht praktiziert, rosten sie. Das gilt für ein Musikinstrument, das man zu spielen gelernt hat und jahrelang nicht übt. So verkümmern die Tüchtigkeiten. Und noch etwas, ein solches Können, ob das im Handwerklichen, im Technischen, im Künstlerischen ist, denken wir an die Piloten, wie viel Übung, wie viel ständiges Arbeiten an dem Können, an dem Wissen, an der Erfahrung ist da nötig. Ein solches Können macht den, der es erworben hat, auch gewissermaßen geneigt zum Handeln. Wer gut Klavier spielen kann, setzt sich auch gerne ans Klavier, vielleicht um andern Eindruck zu machen, aber auch einfach um selber die Freude des Klavier Spielens zu erleben.

Wenn wir das zusammenfassen, Tugend, Tüchtigkeit, das ist eine Fertigkeit, die man durch Übung erwirbt, die ein gewisses Können bedeutet, das einem zu eigen, gewissermaßen zur zweiten Natur geworden ist und das einen fähig macht zu einem bestimmten Handeln, nicht nur fähig sondern auch geneigt. Man hat Freude daran. Der hl. Thomas sagt sogar, es ist lustvoll, es macht Lust und Freude, etwas was man kann, was man erworben hat, was einem zu eigen geworden ist auch auszuüben. Aber wir wissen auch, alles dieses Können, von dem bis jetzt die Rede war, im künstlerischen, technischen, handwerklichen Bereich, alles das macht noch nicht einen guten Menschen, vielleicht einen guten Bäcker, einen guten Piloten, einen guten Computerfachmann, aber das allein macht noch nicht einen guten Menschen.

III.

Zum gelungenen Menschsein gehört noch etwas anderes. Dazu gehört auch Schulung, Entwicklung, Gestaltung, aber nicht nur einer Fähigkeit sondern des ganzen Menschen, der Persönlichkeit, der sittlichen und menschlichen Qualitäten. Genau das ist das Werk der Tugenden. Das sollen die Tugenden im Menschen erreichen, dass man wirklich ein abgerundeter, ein ganzer, ein geglückter Mensch wird. Wie geschieht das? Wie ordnen wir unser Leben? Wie wird man ein guter Mensch?

Man kann fragen: Ist denn der Mensch nicht von Natur aus gut? Gott hat ihn doch gut geschaffen. Kann man nicht Kinder einfach wachsen lassen, ungestört und frei sich entfalten lassen? Es gibt hier zwei Sichtweisen, die in den letzten Jahrzehnten oft gegeneinander ausgespielt wurden, was auch ganz praktische Konsequenzen hat. Freilich wurden beide, so scheint es mir, auch vom Leben widerlegt.

1. Die "antiautoritäre Erziehung", die in den Sechziger- und Siebzigerjahren ihre Blüten getrieben hat, ging davon aus: Der Mensch ist von Natur gut, man braucht ihn nur wachsen zu lassen, dann wird er schon gut werden. Alles, was ihn stutzt, was ihn eingrenzt, alles, was autoritär ihn an seiner Entwicklung hindert, was wie Zwang, wie Druck aussieht, das muss man vermeiden, damit das Kind sich frei entfalten kann. Ich vermute, die vielen Eltern, die hier anwesend sind, wissen, dass das Resultat einer solchen Erziehungsmethode oder Nichterziehung katastrophal ist. Denn offensichtlich brauchen Kinder nicht autoritäre Erziehung, aber Autorität, Formung. Nicht nur die Kinder, auch wir Erwachsenen brauchen Grenzziehungen, Widerstand gegen unsere schlechten Neigungen, aber auch, und das ist sicher ein Grundfehler in der antiautoritären Erziehung, das ernst-genommen-Werden in dem Ringen um den eigenen Weg, der sich mit anderen Wegen, mit anderen Freiheiten auseinander setzen muss, der auch Grenzen erfahren muss, an denen man wachsen kann. Eine solche Nichterziehung, wie sie die Antiautoritäre Erziehung war, nimmt im Grunde das Kind nicht ernst. Es reicht sicher nicht, dass mich Eltern und Erzieher einfach meinen Trieben und Gefühlen überlassen, meiner Lust und Laune. Das kann nicht gutgehen.

2. Aber es gibt auch einen zweiten Weg. Die antiautoritäre Erziehung hat vielfach gegen diesen Weg reagiert, eine autoritäre Erziehung, die die Erziehung zur Tugend vor allem als eine "Dressur" verstand. Ich kann mich erinnern an eine Äußerung von einem Vater, der sagte: "Bis sechzehn muss man sie dressieren." Ich weiß nicht, ob das die richtige Sicht ist und ob nicht die antiautoritäre Erziehung eine Reaktion auf eine solche Sicht von Erziehung war, wo es darum zu gehen schien, den Kindern die rechten Verhaltensweisen einzubläuen, sozusagen die richtigen Reflexe beizubringen, so wie jener berühmte Hund des sowjetischen Psychologen Pawlow, dem man immer vor dem Füttern eine Glocke geläutet hat. Dann hat man festgestellt, wenn die Glocke ohne Futter läutet, läuft ihm auch der Saft im Mund zusammen "pawlowsche Reflexe", sogenannte andressierte, anerzogene Reflexe. Sind Tugenden anerzogene Reflexe? Sind das Verhaltensweisen, die man uns eingebläut hat, gewisse Vorstellungen von Anständigkeit, die man uns beigebracht hat? Das wäre sicher eine Karikatur.

Gewiss, Tugenden entstehen durch Wiederholung, durch wiederholtes Tun des Richtigen und des Guten. Wenn die Eltern sagen: "Halt dich gerad!", und das immer wieder sagen und immer wieder sagen, dann geht einem das in Fleisch und Blut über. Man erinnert sich daran. Daran liegt natürlich auch ein gewisser Gewöhnungseffekt. Es gibt ja gute Gewohnheiten, die sich anzugewöhnen auch durch äußeren Drill zumindestens nicht schlecht ist. Leider entstehen auch Laster durch Gewöhnungseffekte. Wenn man nicht dagegen ankämpft, dann werden sie zu Gewohnheiten, eben zu schlechten Gewohnheiten. Die Gewohnheit des Tratschens oder gar des Vernaderns kann eben auch ein Laster werden, eine üble Gewohnheit. Ob das Rauchen eine solche ist, möchte ich jetzt hier nicht beurteilen als ehemaliger Raucher. Das Laster des Zornes nistet sich ein durch wiederholtes Nichtbekämpfen des Zorns und seines Aufwallens. Freilich besteht zwischen Lastern und Tugenden ein ganz wesentlicher Unterschied. Sie sind nicht einfach auf der selben Ebene, gute und schlechte Verhaltensweisen, die man sich so oder so "andressiert" hätte. Es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied: Laster sind ein Abbau der Menschlichkeit. Tugenden sind ein Aufbau der Menschlichkeit. Laster entstehen nicht durch mühsames Üben, sondern durch ständiges Gehenlassen. Tugenden entstehen durch oft mühsames, geduldiges Aufbauen, während Laster durch sich-gehen-Lassen und Abbauen entstehen. Tugenden wachsen, wenn sie gepflegt werden, wenn sie bearbeitet werden, wenn sie ständig gehegt werden. Laster wachsen durch Vernachlässigung wie Unkraut in einem verwilderten Garten.

Die geduldige, zähe, ständige Arbeit an den Tugenden hat natürlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Dressur, doch ist sie alles andere als nur ein äußeres sich Angewöhnen. Sicher, wenn man uns als Kinder beigebracht hat: "Sag Danke!", hundertmal wiederholt: "Sag Danke!", dann ist das auch ein Gewöhnungseffekt. Wenn man uns beigebracht hat, aufzustehen um einem älteren Menschen Platz zu machen, zu grüßen, Höflichkeitsformen, alle diese äußeren Formen sind Stützen. Wir brauchen auch solche äußeren Stützen, weil wir Menschen aus Fleisch und Blut sind. Anerzogene gute Gewohnheiten sind wie ein Skelett, das trägt, eine große Hilfe für das Zusammenleben. Es ist einfach sehr viel angenehmer, wenn wir einander höflich begegnen, als wenn wir immer unseren Launen freien Lauf lassen. Aber das sind noch keine Tugenden, das sind gute Gewohnheiten.

IV.

Tugend ist mehr als gute Gewohnheit. Tugenden sind der innere Aufbau der Person. Sie sind nicht etwas "Aufgesetztes", etwas Übergestülptes, sondern sie sind innere Gestaltungskräfte der Person, nicht ein äußeres Korsett, das man mir oder ich mir auferlegt habe oder angelegt habe, nicht ein äußerer Zwang, den ich manchmal auch brauche. Die Tugenden sind vielmehr innere Prägungen, nicht nur unseres äußeren Verhaltens sondern unseres Seins. Sie machen uns gut. Hier gilt es, etwas ganz Wichtiges zu beobachten. Tugenden sind kein umgeschnürtes Korsett, kein Zwangsverhalten. Aber sie sind auch nicht einfach fertig. Sie sind nicht einfach da. Sie prägen sich nicht von selber aus, so wie der menschliche Körper, auch nicht von selber, aber doch nach seiner Eigengesetzlichkeit, wächst. Die Tugenden bedürfen der Pflege. Aber sie sind grundgelegt in uns. Sie sind gewissermaßen keimhaft in jedem Menschen da, als Anlage, die es zu entfalten gilt, oft durch Mühe, durch Überwindung, durch manchen Schweiß. Aber wenn sie sich entfalten, dann ist es wie ein Aufblühen. Dann wird unser Menschsein, wir dürfen es so sagen, ein schönes Menschsein, ein wohltuendes.

Ich nehme ein Beispiel. Schon kleine Kinder haben, ich glaube mich selber daran erinnern zu können, ein sehr genaues Gespür für Gerechtigkeit. Sie reagieren sehr empfindlich, zum Beispiel, auf eine ungerechte Strafe. Ich kann mich sehr gut erinnern an eine Strafe, eine sehr schwere Strafe, die ich als gerecht empfunden habe und die auch gerecht war, die ich wirklich verdient habe. Aber ich erinnere mich auch an Strafen, die ungerecht waren. Kinder haben hier ein sehr feines Gespür für Unrecht und Recht. Das hat man ihnen nicht andressiert. Das ist in uns da, keimhaft. Die Tugend der Gerechtigkeit entsteht durch Pflege dieses Gespürs für Gerechtigkeit. Tugenderziehung heißt deshalb immer: Entfalten dieser Keime, die in uns da sind. Das ist nun das Entscheidende beim Wachstum der Tugenden: Erziehung zur Tugend ist immer Erziehung zur Selbsterziehung. Es kann nicht nur von außen kommen. Zum Beispiel, noch einmal dieses Empfinden für Gerechtigkeit, um dieses Empfinden zu entfalten zur Tugend der Gerechtigkeit muss es dazu kommen, auch schon beim Kind, dass es selber auch gerecht ist und nicht nur empfindlich reagiert, wenn im Unrecht widerfährt, dass es selber lernt, dass das Tun des Gerechten eben notwendig ist, richtig ist. Das kann bedeuten, das bedeutet meistens auch einen Kampf mit sich selber, eine Überwindung, denn es gibt in uns wohl die Anlage zur Tugend, aber es gibt auch die Neigung zum Bösen. Deshalb kann sich dieser Keim nicht ohne Mühen und Kämpfe entfalten. Eine Erziehung, die auf diesen Kampf verzichten will, wie die antiautoritäre Erziehung es versucht hat, kann nicht gelingen, wie wir auch keinerlei Fertigkeiten, Tüchtigkeiten erlernen können ohne Disziplin. Unsere Sportler, die jetzt Medaillen geerntet haben, haben sehr viel Selbstbeherrschung, Selbstüberwindung, Disziplin gebraucht, um ihr Können aufzubauen, um sich fit zu machen für diese großen Leistungen.

Noch etwas Wichtiges. Wo dieser Aufbau gelingt, wo diese Keime der Tugenden sich entfalten, werden sie zu aktiven Quellen eines guten menschlichen Handelns. Im Katechismus steht eine sehr schöne Definition der Tugend, die ich zu der des hl. Thomas hinzufügen möchte: "Die Tugend ist die beständige, feste Neigung, das Gute zu tun" eine Neigung, eine beständige, feste Neigung, das Gute zu tun (KKK 1803). Tugend heißt deshalb, dass es nicht jedesmal einer neuen, schweren Entscheidung bedarf, etwas Gutes zu wählen und zu tun, sondern Tugend macht, dass das Tun des Guten mir zur Neigung wird, eine feste, beständige Neigung hin zu diesem guten Tun. Das wird besonders deutlich in dramatischen Situationen. Wenn ich gar nicht die Zeit habe zu überlegen: Wie muss ich jetzt handeln?, wenn ich nicht jemanden um Rat fragen kann, wenn es schnell zu handeln gilt, dann zeigt sich in solchen Momenten, ob ich die feste, beständige Neigung habe, dass Gute zu tun. Dann kommt das Gute aus mir heraus wie aus einer Quelle, nicht über den Verstand sondern sozusagen aus dem Herzen, ganz spontan und treffsicher.

Alexander Solschenitzin hat im Archipel Gulag, diesem monumentalen Werk über die sowjetischen Lager er war selber jahrelang in einem solchen Lager am Schluss dieses riesigen Werkes die Frage gestellt: Warum bin ich auf der Seite gewesen und nicht auf der anderen? Warum bin ich nicht ein KGBist, ein Geheimdienstler, ein Unterdrücker geworden? Warum bin ich den Weg ins Lager gegangen? In einer sehr eindrucksvollen Weise analysiert er, wie es eigentlich dazu gekommen ist. Er sagt: Es waren immer wieder kleine Weggabelungen, unmerklich in den Momenten, in denen er fast unbewusst das Gute gewählt hat und nicht das Böse, ohne sich der Tragweite dieser kleinen Entscheidungen bewusst zu sein. Diese Neigung zum Guten, die wir Tugend nennen er meinte, vielleicht kam sie auch einfach von seiner Erziehung, von seiner Großmutter, wo immer her ließ ihn in den schwierigen, dramatischen Momenten seines Lebens der Versuchung widerstehen und das Gute wählen. Viele unserer Entscheidungen fallen nicht durch bewusste Entschlüsse, sondern aus einem gewissen Instinkt heraus. Wenn wir diese feste, dauerhafte Neigung zum Guten haben, die wir Tugend nennen, dann wird spontan auch unser Entscheiden fast natürlich von innen heraus in die richtige Richtung gehen.

Zum Abschluss dieses zu langen ersten Teils zwei zusätzliche Beobachtungen. Wer Tugend erworben hat, hat sozusagen ein natürliches Gespür für das Gute. Der hl. Thomas gebraucht gerne ein Beispiel. Er sagt, ein Richter kann alle Gesetzestexte perfekt kennen, kann studiert haben über die Fragen der Gerechtigkeit, aber er kann persönlich ein sehr ungerechter Mensch sein. Vielleicht kommt er sogar auf theoretischem Weg zu einem gerechten Urteil in seinem Arbeiten als Richter, aber er selber ist deswegen noch nicht ein gerechter Mensch. Dem stellt der hl. Thomas einen ganz einfachen Menschen gegenüber, der nicht studiert hat, der sich nicht auskennt in der Gesetzesflut, der keine Moralphilosophie studiert hat, aber der ein ausgeprägtes inneres Gespür für Gerechtigkeit hat und der durch langes Tun des Guten und des Gerechten einen starken Spürsinn, eben jene Neigung zum Guten entwickelt hat, die wir Tugend nennen. Nun sagt der hl. Thomas, ein solcher Mensch kann gegebenenfalls gerechter urteilen als der Fachmann, weil er das Gespür dafür hat. Sein Urteil kann treffsicherer sein als das des Fachmanns, weil er selber gerecht ist durch die Tugend der Gerechtigkeit.

Ein zweites gilt es dazu zu beobachten. Im Katechismus heißt es: Die Tugenden "verleihen dem Menschen Leichtigkeit, Sicherheit und Freude zur Führung eines sittlich guten Lebens" Leichtigkeit, Sicherheit und Freude (KKK 1804). So wie man bei einem guten Handwerker, der sein Handwerk meisterhaft versteht, den Eindruck der Leichtigkeit hat, der Sicherheit und auch der Freude, so ist es beim tugendhaften Menschen. Wenn die sittliche Persönlichkeit aufgebaut ist, dann tut man das Gute nicht mit Ächzen und Stöhnen, mit ständig verbissener Selbstüberwindung, sondern mit Leichtigkeit und Freude. Bei großen Künstlern hat man diesen Eindruck, ich denke an einen Film über Yehudi Menuhin, den großen Geiger. Er hat daran erinnert, wie schwer seine Kindheit war, wie er Tag für Tag üben musste, draußen die Kinder spielen hörte und sah. Er musste üben. Aber dann ist sein Spiel geflossen aus einer strömenden, strahlenden Leichtigkeit, die eben das Kennzeichen der Tugend ist.

V.

Nun bleibt mir nicht mehr viel Zeit zu der zweiten Frage: Was hat das eigentlich alles mit christlicher Tugend zu tun? Das gilt doch für jeden Menschen. Das stimmt, auch die heidnischen Philosophen, auch andere Kulturen und Religionen kennen diesen Blick auf die Tugenden, die den Menschen erst richtig zum Menschen machen. Was ist das besondere der christlichen Tugend? Wir glauben in unserem christlichen Glauben, dass der Mensch nicht nur die natürlichen Keime der Tugenden hat, sondern dass uns in der Taufe auch die Keime der göttlichen Tugenden geschenkt wurden, dass in uns nicht nur die natürlichen Tugenden gewissermaßen schlummern und auf Entfaltung warten, sondern auch das göttliche Leben selbst, die göttlichen Tugenden, Glaube, Hoffnung, Liebe. Wir glauben, dass uns in der Taufe und dann immer wieder durch die Sakramente das göttliche Leben wie ein Keim eingesenkt wurde und dass dieser Keim sich entfalten will und uns wirklich verwandeln. Ist einer in Christus, dann ist er eine neue Schöpfung (2 Kor 5,17).

Eine kleine Brücke, eine kleine Hilfe um das deutlicher zu sehen: Die Kirchenväter sagen, der Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen, jeder Mensch. Das ist die Würde des Menschen, selbst bei den größten Lastern, selbst bei den schlimmsten Verbrechen bleibt dem Menschen die Würde, die unverlierbare Würde, Bild Gottes zu sein. Aber in der Genesis heißt es auch, Gott habe den Menschen "nach seinem Bild ihm ähnlich" geschaffen (Gen 1,26). Nun sagen die Kirchenväter ja, wir sind alle nach dem Bild Gottes geschaffen und wir sind alle dazu berufen, Gott ähnlich zu werden. Erst in dem Maß, wie dieses Bild sich entfaltet, Gott immer mehr anverwandelt wird, desto ähnlicher werden wir Gott, desto mehr verwirklicht sich tatsächlich das Bild Gottes in uns.

Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei machen uns Gott ähnlich. Ganz kurz ein Wort dazu, ich werde versuchen, Sie nächstes Jahr, so Sie noch Geduld dazu haben, ausdrücklicher zu behandeln, die drei göttlichen und die vier Kardinaltugenden, Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Maßhaltung. Jetzt nur ein kurzes abschließendes Wort. Die göttlichen Tugenden, sagt uns der Glauben, die Glaubenslehre der Kirche, sind ein Geschenk, sind eine Gnade. Ich kann sie nicht erwerben. Ich kann sie nur, wenn ich sie geschenkt bekommen habe, pflegen und entfalten. Die Eltern wissen, sie können den Glauben vorleben, sie können ihn erklären, sie können versuchen, ihn weiterzugeben, aber sie können ihn nicht machen. Er bleibt auch in den eigenen Kindern Geschenk. Dennoch nennen wir sie Tugenden, weil sie uns eigen werden. Ich glaube, ich hoffe, ich liebe. Gott schenkt sie uns so, dass sie wie die natürlichen Tugenden sozusagen eine Quelle in uns werden, aber nicht nur zum menschlichen sittlichen Handeln, sondern zu einem Leben, das mit Gott in Verbindung ist, das an Gott teilhat. Paulus sagt: "Christus wohne durch den Glauben in euren Herzen" (Eph 3,17). Heute möchte ich abschließend auf zwei Besonderheiten dieser göttlichen Tugenden hinweisen.

1. Der Katechismus sagt: "Die menschlichen Tugenden wurzeln in den göttlichen Tugenden" (KKK 1812). Ist es nicht genau umgekehrt? Brauchen nicht die göttlichen Tugenden eine gute, solide, menschliche Grundlage? Die christliche Lebenserfahrung zeigt, dass beides zutrifft. Wir brauchen, um ein christliches Leben zu leben, eine gute menschliche Grundlage. Aber umgekehrt zeigt das christliche Leben, dass durch den Glauben, die Hoffnung und die Liebe auch die menschlichen Qualitäten sich entfalten. Das werde ich nächstes Mal thematisieren mit den Gaben des Heiligen Geistes, wie Glaube, Hoffnung und Liebe uns auch im Menschlichen fester verwurzeln und stärken. Der Glaube stärkt die Vernunft, macht uns hellsichtig, klarsichtig. Die Hoffnung gibt uns die Kraft, die göttliche Kraft des Durchstehens von Widrigkeiten.

2. Am schönsten ist die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist, wie Paulus sagt (Kol 3,14). Am deutlichsten sieht man es im Leben der Heiligen, die gerade durch die göttlichen Tugenden sich in ihrem Menschsein erst richtig entfaltet haben. Das ist am deutlichsten bei der Liebe selbst. Der hl. Thomas sagt: Es gibt überhaupt keine Tugend ohne Liebe. Eine Klugheit ohne Liebe ist vielleicht Schlauheit. Eine Gerechtigkeit ohne Liebe droht unbarmherzig zu werden. Die Liebe ist das Vollmaß aller auch menschlichen Tugenden. Was wäre alle unsere Gerechtigkeit, Tapferkeit, unser Maßhalten ohne die Liebe! Deshalb sagt der hl. Thomas, die Liebe ist die Form aller Tugenden. Sie macht die Tugenden erst richtig zu Tugenden; oder der hl. Paulus, wir haben es vorhin gehört, sagt: "Sie macht alles vollkommen" (Kol 3,14).

 

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