Donnerstag 18. April 2024
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

"Herr, lehre uns beten" - Die Gebetsschule Jesu

Wortlaut der 3. Katechese 2011/12 von Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 4. Dezember 2011, im Dom zu St. Stephan.

In der Lebensschule Jesu ist jeder herzlich willkommen. Aber er oder sie muss wollen. Wie in jeder Schule, muss man auch wollen. Was, so frage ich mich, will ich von Jesus lernen? Wer zu einem Geigenlehrer geht, der will Geige spielen lernen. Wer in die Fahrschule geht, will fahren lernen. Aber was will ich in der Schule Jesu lernen? Weiß ich ganz persönlich eine Antwort auf diese einfache Frage?

I.

Die beiden ersten, die Jesu nachgefolgt sind, waren die Johannesjünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus, und der Lieblingsjünger (Johannes, wie die Tradition mit guten Gründen angenommen hat). Als sie hinter Jesus her gingen, drehte er sich um und fragte: "Was wollt ihr?" (Joh 1,38). – Was wollen wir? Was suchen wir? Was erhoffe ich mir, von Jesus zu lernen? Erhoffe ich überhaupt etwas? Ich glaube, die Frage lohnt sich, vielleicht führt sie auch zu einer peinlichen Überraschung. Habe ich überhaupt darüber nachgedacht, was ich von Jesus lernen will?

Man spricht in der Pädagogik gerne von "Lernzielen". Was ist mein Lernziel? Bin ich lernwillig, neugierig darauf, von Jesus etwas zu lernen? Auf die Frage Jesu "Was sucht ihr?" haben die beiden – künftigen – Jünger geantwortet: "Meister, wo wohnst du?" Sie wollten ihn einfach kennenlernen. Meistens beginnt es damit, dass man jemand neu kennen lernen möchte. Kennen wir Jesus? (Vgl. Hans Urs von Balthasar, Kennt uns Jesus – kennen wir ihn?, Freiburg/Br. 31995). "Kommt und seht!", war Jesu Antwort. Das erste Lernziel der Apostel war einfach, Jesus kennen zu lernen. "Sie sahen, wo er wohnte und sie blieben diesen Tag bei ihm" (Joh 1,39), heißt es weiter. Das ist das erste und wichtigste in der Lebensschule Jesu: Ihn ganz persönlich kennenlernen. Die Lehren Jesu sind wichtig, aber es gilt zuerst, ihn selber kennenzulernen, mit ihm Umgang zu haben, mit ihm vertraut zu werden, mit ihm eine Freundschaft aufzubauen. Also geht es in der Lebensschule Jesu nicht zuerst darum, möglichst viel Wissen anzusammeln, auch wenn das wichtig ist. Es geht nicht um etwas, sondern um jemanden. Ihn zu kennen und ihn zu lieben, ist der größte Lernerfolg. "Wir möchten Jesus sehen" (Joh 12,21), haben Griechen, also Heiden, die zum Osterfest nach Jerusalem gekommen waren, zu den Jüngern Jesu gesagt: Neugierde, kennenlernen wollen, Interesse an diesem Mann, von dem man so viel redet. Ohne Interesse gibt es kein Lernen. Das wissen alle, die im Lehrberuf tätig sind und das wissen wir selber, wenn wir studiert haben oder noch studieren.

Die erste Frage lautet: Was will ich eigentlich in der Lebensschule Jesu lernen? Weiß ich das? Habe ich darüber nachgedacht? Aber eine zweite Frage ist ebenso wichtig: Was will Jesus uns beibringen? Was ist sein pädagogisches Ziel? In die Schule gehen wir, weil wir lernen wollen oder müssen. Aber was wir lernen, bestimmen eigentlich die Lehrer. Was will Jesus uns beibringen? Diese beiden Fragen möchte ich an den Anfang stellen und sie werden uns das ganze Jahr über begleiten. Was will Jesus uns lehren und was wollen wir lernen?

Es gibt einen Begriff, der in der Lehre Jesu so oft vorkommt, dass der Eindruck entsteht, das ist der Inbegriff dessen, was Jesus lehren wollte, das Wort "Reich Gottes", oder im Matthäusevangelium, um den Gottesnamen zu vermeiden, "Himmelreich". Beim Evangelisten Markus heißt es ganz am Anfang: "Nachdem man Johannes, den Täufer ins Gefängnis geworfen hatte, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium" (Mk 1,14-15). Matthäus spricht vom "Evangelium vom Reich" (Mt 4,23). Das ist der eigentliche Inhalt der Lehre Jesu. Aber was will Jesus lehren, wenn er vom "Reich Gottes", vom "Himmelreich" spricht? Allein bei den sogenannten Synoptikern, als bei Matthäus, Markus, Lukas, kommt das Wort "Reich Gottes" 99mal vor, davon 90mal im Mund Jesu. Insgesamt kommt es im Neuen Testament 122mal vor. Jesu Lehre hat eindeutig einen Akzent auf das Reich Gottes. Es ist die Botschaft Jesu. Aber was sagt diese Botschaft? Vom Reich Gottes spricht Jesus sehr oft in Gleichnissen (vgl. Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Jesus von Nazareth. Bd 1, Freiburg/Br. 2007, 77). Wir werden später noch darauf zurückkommen.

Jesus kündigt an, dass das Reich Gottes kommt, es ist nahe, bricht herein, wächst und wird angefochten. Aber was ist das Reich Gottes, was sollen wir darüber lernen? Was ist sozusagen das Lernziel in der Lebensschule Jesu? Jesus spricht einmal davon, dass wir "Jünger des Himmelreiches", des Reiches Gottes werden sollen (Mt 13,52). Man kann das lernen. Wir sollen Schüler werden, Lernende, und da Lernen nicht Selbstzweck ist, sollen wir auch in der Lage sein, Lehrende des Reiches Gottes zu werden. Was macht jemand zum ausgewiesenen Schüler des Reiches Gottes, des Himmelreiches? In der Folge dieser Katechesen wird uns diese inhaltliche Seite der Lehre Jesu noch beschäftigen.

Heute möchte ich einen nonverbalen Zugang wählen. Die Jünger Jesu haben nicht zuerst durch die Worte Jesu gelernt, sondern durch seine Taten und noch mehr durch ihn selber. Sein Vorbild, sein Verhalten, war die erste Schule. Noch bevor es um die Lehre ging, ging es um die Person. So möchte ich heute ein wenig hinschauen auf das, was Jesu Verhalten die Jünger gelehrt hat. Von Lehrern merkt man sich meistens nicht den Inhalt, sondern die Person. Was wirklich herüberkommt ist das, was der Mensch darstellt. Wenn ich mich an meinen wunderbaren Deutschlehrer im Gymnasium erinnere, ist es vor allem der Eindruck von seiner Persönlichkeit, der mir geblieben ist. Die Gedichte, die wir auswendig lernen mussten, habe ich großteils vergessen.

II.

Ein Zug im Leben Jesu hat die Jünger beeindruckt und vielleicht am tiefsten geprägt und hat wohl auch uns viel über Jesu Lehre, mehr noch über seine Person zu sagen, nämlich das Beten Jesu. Ich beginne mit einer Szene, am Anfang des Markusevangeliums. Markus beschreibt den ersten Tag Jesu in Kafarnaum, das öffentliche Wirken Jesu, nachdem er von Nazareth nach Kafarnaum übersiedelt ist. Es ist ein Tag intensiver Begegnungen, einer Heilung in der Synagoge. Am Abend des Sabbats, als die Sabbatruhe vorbei war, kommen die Menschen in Scharen zu seinem Haus. Er heilt viele Kranke, Besessene. Ein erfolgreicher, ein intensiver erster Tag. Dann aber, am nächsten Tag, es ist nach dem Sabbat, also der erste Tag der Woche, heißt es bei Markus: "Früh morgens, als es noch dunkel war, erhob sich Jesus, ging weg, begab sich an einen einsamen Ort und betete dort" (Mk 1,35). Die Jünger suchen und finden ihn, sie sind ganz überrascht: Was machst du da? Was ist das? Sie sind ja erst frisch bei ihm, es ist der Anfang der Lebensschule mit Jesus. Sicher waren sie beeindruckt von dem, was sie erlebt haben, von den ersten Heilungen und Dämonenaustreibungen. Aber unverwechselbar eingeprägt und wohl am tiefsten in die Jüngerschaft eingeführt hat sie das Erlebnis, dass ihr Meister betet, stundenlang, nächtelang. Er zieht sich zurück in die Einsamkeit, oft auf einen Berg und betet. Die Jünger "ertappen" ihn dabei. Ohne viele Worte seinerseits darüber zu verlieren, hat er durch sein Beten wohl die tiefste Sehnsucht nach Jüngerschaft ausgelöst. Durch das Erlebnis seines Betens, durch sein Vorbild erweckt er die Sehnsucht der Jünger, es ihm gleichzutun.

Was geht da in ihm vor, wenn er so lange Zeit im Gebet verbringt? Es ist ganz Faszinierendes um das Gebet. Die ersten Mitbrüder des heiligen Dominikus (†1221), unseres Ordensvaters, haben ihn gerne in der Nacht beobachtet, wenn er allein in der Kirche gebetet hat. In Santa Sabina in Rom auf dem Aventin gibt es heute noch ein Fensterchen, wo man hinuntersieht in die Kirche, und die Tradition sagt, dort haben die Brüder hinuntergeschaut und ihn beobachtet, wie er stundenlang in der Nacht gebetet hat. Bei den ersten Jüngern Jesu muss es ähnlich gewesen sein. Lukas berichtet: "Jesus betete einmal an einem Ort; und als er das Gebet beendet hatte, sagte einer seiner Jünger zu ihm: Herr, lehre uns beten, wie schon Johannes seine Jünger beten gelehrt hat" (Lk 11,1). Darauf lehrt Jesus sie das "Vater unser". Beeindruckend an dieser Szene ist die Note des Respekts, die man hier spürt, sie trauen sich nicht Jesus beim Gebet zu unterbrechen. Sie warten, bis er das Gebet beendet hatte. Wie lange hat das wohl gedauert?

Als Papst Johannes Paul II. (†2005) bei seinem dritten Besuch in Österreich 1998 zum Gottesdienst in den Salzburger Dom eingezogen ist, war bei einem Seitenaltar vor dem Tabernakel eine kurze Adoratio, eine Gebetszeit, geplant. Er hatte offensichtlich völlig vergessen, dass da Tausende Menschen und das Fernsehen warteten, und verbrachte 20 Minuten dort im Gebet. Es ist für mich unvergesslich, wie er eingetaucht ist ins Gebet. Das Gebet eines Menschen löst spontan Respekt und Behutsamkeit aus, zumindest bei Menschen, die halbwegs sensibel dafür sind.

Das ist das Geheimnis des Gebets. Gebet ist universal, genauso universal wie die Religion. Es gehört einfach zum Menschsein. Es ist deshalb auch sinnvoll und möglich, eine Phänomenologie des Gebets zu schreiben, eine Beschreibung des Gebetsverhaltens, verschiedener Gebetsweisen und Gebetsformen. Friedrich Heiler (†1967) hat ein dickes Buch geschrieben: "Das Gebet. Eine religionsgeschichtliche und religionspsychologische Untersuchung" (München 1919). Darin hat er vergleichend, beschreibend, nicht wertend dargestellt, wie gebetet wird.

Viele haben solche Erfahrungen gemacht. Für mich unvergesslich waren 1977 betende Frauen in einem buddhistischen Tempel in Taiwan. Das Gebet ist unverkennbar, eindrucksvoll, wenn man etwa in eine Moschee kommt, wo Menschen sich niedergeworfen haben zum Gebet. Beten lernen gehört in allen Religionen zum Weg des religiösen Lebens. Formeln und Formen muss man lernen. Gebete haben ihre Traditionen. Ich war sehr beeindruckt, in der Türkei ein Heftchen für junge Muslime über die Gebetsformen, die Ausdruckformen des Gebetes, die körperlichen Haltungen etc. zu bekommen. Das ist eine Gebetsschule. Normalerweise lernt man das Gebet zu Hause, von Eltern, Großeltern. Wie viele haben in der Sowjetunion noch von der "Babuschka", der Großmutter, das Beten gelernt. So hat wohl auch Jesus von seinen Eltern und in der Synagoge in der Tradition seines Volkes beten gelernt. Die jüdische Gebetswelt ist faszinierend, dieser große Schatz der Gebetskultur mit den Psalmen, den liturgischen Gebeten. "Jesus betet mit jenen Worten und jenen Formen, mit denen sein Volk in der Synagoge von Nazaret und im Tempel betet", heißt es im Katechismus (KKK 2599). Die jüdische Welt des Gebetes hat im Vergleich zu anderen Religionen etwas Besonderes. Sie kennt eine Vertrautheit mit Gott, die etwas Neues darstellt. Das jüdische Beten ist Antwort auf einen Gott, der den Menschen anspricht, sich ihm offenbart. Das kann zu einer Innigkeit und einer Nähe führen, die anderen Religionen fremd ist. Es ist kein Zufall, dass das jüdische Volk, das erwählte Volk, beim Propheten von Gott in engster Vertrautheit als "mein Sohn" angesprochen wird (vgl. Hos 11,1; Mt 2,15). Aber was die Jünger mit Jesus erleben, geht weit darüber hinaus. Das ist einmalig selbst im Judentum, ein Maß an Vertrautheit, das man auch in der großen jüdischen Tradition nicht findet. Lukas spricht am häufigsten über das Gebet Jesu. Er lässt uns schon sehr früh ahnen: Da gibt es einen Punkt im Leben Jesu, der etwas Einzigartiges ist. Ich erinnere an die Szene, als der zwöfjährige Jesus in Jerusalem im Tempel zurückbleibt. Seine Eltern suchen ihn voll Sorge. "Nach drei Tagen fanden sie ihn im Tempel; er saß mitten unter den Lehrern, hörte ihnen zu und stellte Fragen" (Lk 2,46). Jesus scheint sich darüber zu wundern: "Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?" Gerade hat Maria gesagt: "Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht!" (Lk 2,48-49). Jesus sagt: "Ich muss in dem sein, was meinem Vater gehört." Hier offenbart sich etwas Neues, das für seine Eltern schwer begreiflich ist. Die Vertrautheit, die Jesus mit Gott hat, den er seinen Vater nennt, ist etwas Einzigartiges.

III.

Theologisch wäre es interessant, hier nach dem Selbstbewusstsein Jesu weiter zu fragen: Wusste er, dass er der Messias ist? Wusste er als Zwölfjähriger, dass er der Sohn Gottes ist? Aber es ist eine Katechese, keine theologische Vorlesung. Es wäre ein eigenes großes und höchst wichtiges Thema. Viele sagen, die Kirche habe Jesus zu Gott gemacht, den einfachen Mann aus Galiläa, aus Nazareth. Sie habe ihn vergöttlicht und zum Sohn Gottes erhoben. Diese Frage hat heute, abgesehen von der Diskussion innerhalb der Christenheit, eine große Aktualität bekommen durch den Islam. Denn wenn es einen Punkt gibt, in dem der Islam das Christentum fundamental kritisiert, ist das der Anspruch der Gottheit Jesu. Von Anfang an war das der zentrale Vorwurf des Islam gegen das Christentum. Gewiss hat Mohammed zu Beginn seiner Tätigkeit gegen den "älteren arabischen Polytheismus" gekämpft, aber die Experten sagen, dann wurde der Angriff gegen den Glauben an die Dreifaltigkeit immer deutlicher, der Vorwurf, die Christen würden an drei Götter glauben, wären also doch letztlich Polytheisten (vgl. Gerhard Lohfink, Beten schenkt Heimat. Theologie und Praxis des christlichen Gebets, Freiburg/Br. 2010, 30).

In der berühmten Sure 112 im Koran heißt es: "Sprich: Gott ist Einer, ein ewig-alleiner, er hat nicht gezeugt, und ihn zeugt keiner, und ihm gleich ist nicht einer" (Diese Sure steht übrigens als Spruchband im Felsendom in Jerusalem). Das scheint sich doch ausdrücklich gegen das christliche Bekenntnis zu richten, denn das christliche Credo sagt, dass Christus, der Sohn Gottes, "gezeugt, nicht geschaffen" ist. Wie radikal der Koran das versteht, sieht man an der Sure 4, 48, wo die Vielgötterei als unvergebbare Sünde bezeichnet wird. Dort heißt es: "Siehe Allah vergibt nicht, dass man ihm Götter beigesellt. Was darunter liegt, vergibt er, wem er [es vergeben] will. Wer Allah [andere Götter] beigesellt, der hat eine gewaltige Sünde ersonnen". Das heißt wohl, alle anderen Sünden können vergeben werden, aber diese, Allah andere Götter beizugesellen, kann nicht vergeben werden (vgl. Lohfink, a.a.O. 30-31).

Beten die Christen zu drei Göttern? Ist unser christliches Beten Götzendienst? Wir beten zum Vater im ‚Vater unser‘, dann beten wir wieder zu Jesus, etwa im Jesusgebet oder in einzelnen Gebeten der Liturgie, oder wir beten zum Heiligen Geist: "Veni creator spiritus" ("Komm, Schöpfer Geist"). Beten wir da immer zum selben Gott, zu einem Gott? Das ist eine vitale Frage. Können wir über unseren Glauben Rechenschaft ablegen? Können wir argumentieren, warum wir an den einen Gott, Vater, Sohn und Heiliger Geist glauben, ein Gott in drei Personen? Aber es genügt nicht, nur rationale Argumente zu haben, wir müssen noch besser auskunftsfähig über unseren Glauben werden. Die entscheidende Frage ist die existenzielle: Wie beten wir? Beten wir zu drei Göttern? Oder beten wir zu dem einen Gott, wenn wir zum Vater, zum Sohn, zum Heiligen Geist beten? Wir müssen in die Schule Jesu gehen und fragen: Wie hast du gebetet, Herr? Zeige uns, wie ist dein Gebet? Wie ist das mit seinem Gebet, wenn Jesus der Sohn Gottes ist? Betet Gott zu Gott? Was heißt das, dass Jesus stundenlang in der Nacht gebetet hat? Die Jünger scheinen gerade durch die Erfahrung vom Gebet Jesu zum Geheimnis Jesu den tiefsten Zugang gefunden zu haben. Ja, gerade wenn sie Jesus beten sehen und betend erleben, erschließt sich ihnen das innerste Geheimnis Jesu.

Ich möchte hier sozusagen die Hand meines Lehrers Joseph Ratzingers/Benedikt XVI. ergreifen, der in einem besonders tiefgehenden und eindrucksvollen Beitrag aus den frühen 80er Jahren, schlicht "Christologische Orientierungspunkte" (in: Schauen auf den Durchbohrten, Einsiedeln 1984, 13-40) genannt, versucht hat, vom Beten Jesu auszugehen, um das innerste Geheimnis Jesu zu erspüren, genauso wie es den ersten Jüngern ergangen ist, wenn sie Jesus beten gesehen haben. Es geht darum, gewissermaßen den Ort zu erspüren, wo Jesus wohnt, wo er seine Mitte hat, wo sein Herz ist, seine Quelle. Diese Mitte ist das Wort "Abba", Vater, lieber Vater! Jesus ist, wenn er betet, beim Abba, beim Vater. Und so erleben es die Jünger. Sicher ist jeder, der betet, irgendwie auf Gott ausgerichtet. Aber wenn Jesus in seinem Gebet bei Gott ist, dann ist er das wie kein anderer. Was die Jünger da erahnen, hat bei ihnen die Sehnsucht erweckt, diesen Ort kennenzulernen: "Meister, wo wohnst du? – Kommt und seht" (Joh 1,38-39). Das bewegt mich immer wieder. Diese Begegnung der ersten beiden Jünger mit Jesus ist so etwas wie der Schlüssel: "Meister, wo wohnst du?" Nicht nur, wo ist deine Adresse, sondern: Wo bist du zu Hause, wo ist dein Lebensgeheimnis, deine Bleibe (pou meneis)? Es ist schlicht und einfach das Wort Abba. Jesus ist, wie Johannes im Prolog sagt, "beim Vater", oder noch ausdrücklicher am Schluss: "Im Schoß des Vaters" (Joh 1,1.18).

Zu dieser Klarheit sind die Jünger sicher nicht am Anfang gekommen, als sie frühmorgens aus Kafarnaum hinausgingen, Jesus suchten und ihn dann irgendwo in der Natur fanden, wie er in der Einsamkeit betete. Aber sie erlebten Jesus in einer einzigartigen Zwiesprache. Sie verstehen im Umgang mit ihm mehr und mehr, dass sein Wort und sein Tun, sein ganzes Wesen aus dieser Quelle kommt. Sie ahnen, dass Jesus nicht aus sich heraus spricht, nicht aus sich heraus handelt, sondern dass er aus dieser Zweisprache mit dem Vater heraus lebt. Joseph Ratzinger sagt dazu: "Denn darin ist das gesamte Evangelienzeugnis einhellig, dass Worte und Taten Jesu aus seinem innersten Zusammensein mit dem Vater hervorgingen" (a.a.O. 16-17). Das ist die Quelle. Als Jesus die Zwölf aus der ersten Schar seiner Jünger auswählt, da verbringt er, so heißt es bei Lukas, die ganze Nacht davor betend auf einem Berg. Dann wählt er sie. Dazu schreibt Joseph Ratzinger: "Die Berufung geht aus dem Gebet, aus den Reden des Sohnes mit Vater hervor. Die Kirche wird in dem Gebet geboren, in dem Jesus sich dem Vater zurückgibt und der Vater dem Sohn alles übergibt. In dieser tiefsten Kommunikation von Sohn und Vater verbirgt sich der wahre und immer neue Ursprung der Kirche, der zugleich ihr verlässliches Fundament ist" (vgl. Lk 6,12-17; a.a.O. 17). Jesus schöpft aus dieser ständigen inneren Verbundenheit mit dem Abba, dem Vater. Kardinal Ratzinger nennt ein zweites Beispiel, wo auch wiederum Lukas uns daran erinnert, dass Jesus im Gebet war. Es ist der Moment bei Cäsarea Philippi, wo Petrus Jesus als den Messias, den Christus bekennt. Bei Lukas heißt es: "Jesus betete einmal in der Einsamkeit, und die Jünger waren bei ihm. Da fragte er sie: Für wen halten mich die Leute?" Dann fragt er sie nach einer Weile: "Ihr aber, für wen haltet ihr mich?" Worauf Petrus ihn als den Messias bekennt (Lk 9,18-20). Wieder der Kommentar von Kardinal Ratzinger: "So macht der Evangelist [Lukas] deutlich, dass Petrus in dem Augenblick das Eigentliche der Person Jesu begriff und aussagte, in dem er ihn betend in seinem Einssein mit dem Vater erblickt hat. Wer Jesus ist, sieht man […] dann, wenn man ihn in seinem Beten sieht". Wenn wir Christen Jesus als Messias und Sohn bekennen, ist das nicht eine Theorie, nicht eine Hypothese, sondern etwas, das sich im Gebet erschließt. Noch einmal Kardinal Ratzinger: "Die gesamte Rede von Christus – die Christologie – [ist] nichts anderes, als die Auslegung seines Betens" (a.a.O. 18-19). Jesus eins mit dem Vater, das haben die Jünger erlebt, wenn sie ihn betend erlebt haben. So stammt das grundlegende christliche Bekenntnis, dass Er der Sohn ist, mehr noch aus der Erfahrung, als aus den Worten Jesu. "Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes", sagt Petrus. Jesus sagt: "nicht Fleisch und Blut haben dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel" (Mt 16,16-17). Das zu erkennen, ist nicht eine Sache der Theorie, sondern der Offenbarung, die über das Herz geht. Kardinal Ratzinger: "Die ganze Person Jesu ist in seinem Beten enthalten" (a.a.O. 19).

Wir können das an einzelnen Gebeten im Neuen Testament durchexerzieren und hinhören: Wie hat Jesus sein Gebet nach außen dringen lassen, wenn er es ausgesprochen hat? meistens betet er ja in der Stille, in der Nacht auf dem Berg, in der Einsamkeit. Da ist der "Jubelruf" Jesu nach der schweren Enttäuschung über den Unglauben an den Orten seines Wirkens, Chorazin, Betsaida und Kafarnaum (vgl. Mt 11,20-24). Trotzdem betet Jesu: "Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, weil du all das den Weisen und Klugen verborgen, den Unmündigen aber offenbart hast. Ja, Vater, so hat es dir gefallen. Mir ist von meinem Vater alles übergeben worden; niemand kennt den Sohn, nur der Vater, und niemand kennt den Vater, nur der Sohn und der, dem es der Sohn offenbaren will" (Mt 11,25-27).

Ja, Vater und Sohn sind unterschieden und doch so völlig eins, dass wir den Vater nicht ohne den Sohn und den Sohn nicht ohne den Vater verehren und anbeten können. Das ist die Antwort auf die Herausforderung des Islam: Wenn wir zu Christus beten, dann beten wir nicht zu einem anderen Gott. Dann ist das nicht jemand, "den wir Gott beigesellen", wie der Koran sagt. Das wäre ein Missverständnis des christlichen Gebets, zu dem die Christen vielleicht auch selber beigetragen haben. Wir beten vielmehr durch Jesus Christus zum Vater im Heiligen Geist. Wir beten nie zum Vater ohne den Sohn. Wir beten nie zum Heiligen Geist, ohne den Vater und den Sohn. Jesus wird nicht Gott beigesellt, wie der Koran dem Christentum vorwirft, Jesus ist eins mit dem Vater, "eines Wesens mit dem Vater". Vielleicht kommt das am stärksten in den wenigen Gebetsworten am Kreuz, die wir überliefert bekommen haben, zum Ausdruck. Gerade in dieser extremen Situation der Todesnot betet Jesus. Alle vier Evangelien stellen uns Jesus in seiner Passion als Betenden vor. Nach den Evangelien, sagt Kardinal Ratzinger "ist Jesus betend gestorben. Er hat seinen Tod zu einem Gebetsakt, zu einem Akt der Anbetung gemacht" (a.a.O. 21). Zuerst: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun" (Lk 23,34). "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?", aus dem Psalm 22 (21),1 (Mk 15,34). Dann an den Vater vor dem großen Schrei, mit dem er stirbt: "Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist" (Lk 23,46). Jesus ist bis zum letzen Atemzug, bis er den Geist am Kreuz aushaucht, ganz Gebet. Sein Leben und sein Sterben sind ganz eins mit dem Vater.

IV.

Ist das nicht etwas entmutigend in der Schule Jesu? "Herr, lehre uns beten!" Wenn wir aber Jesus ansehen, wie er betet und sehen, dass sein ganzes Leben Gebet ist, dann bin ich versucht zu sagen: Das kann ich nicht lernen. Das schaffe ich nicht, es geht völlig über meine Fähigkeiten. Ich bete, an manchen Momenten des Tages. Aber wie sollen wir schwache Menschen, die wir kaum einen konsequenten Willensakt zusammenbringen, die wir kaum ein "Vater unser" konzentriert beten können, so völlig in das Gebet eintauchen wie Jesus, der nicht neben anderen Dingen betet, sondern dessen Wesen, dessen Leben Gebet ist. Sicher haben wir Menschen erlebt, die Felsen des Gebetes sind. Von Papst Johannes Paul II. war schon die Rede, von dem überwältigenden Eindruck, dass hier ein Felsen des Gebetes ist. Ein anderes eindrucksvolles Beispiel ist Padre Pio (†1968). Trotzdem sagt ein so großer Beter wie Paulus: "Wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen" (Röm 8,26). Deshalb kommt er zu dem Schluss: Das kann nur Gott machen! Gott selber muss in uns beten, sonst wird nichts daraus. "Der Geist selber tritt … für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein" (Röm 8,26-27; vgl. Lohfink, a.a.O. 25).

Wir sind noch unendlich weit entfernt von dem Gebet, das im Herzen Jesu lebt, von diesem völligen, ständigen, das ganze Leben erfassenden Austausch von Vater und Sohn. Wir sehen Jesus beten, wir wollen beten wie er und seufzen über unsere Unfähigkeit. Wir wissen nicht nur nicht wofür wir eigentlich beten sollen, sondern auch nicht, wie wir eigentlich beten sollen. Schmerzliches Seufzen unserer Unfähigkeit: Je mehr wir spüren, wie wenig wir an das Gebet Jesu, dieses vollständige in Gott Sein, dieses innergöttliche Gespräch, heranreichen, umso eher sind wir bereit, bei Jesus wirklich in die Schule zu gehen. Er ist ein anderer Lehrer als unsere Schulmeister, Professoren und Katecheten, denn er kann durch den Geist lehren, was wir nur erbitten können. Der Heilige Geist lehrt uns beten, ja er selbst betet in uns. Nicht du bist es, der betet. Das Gebet ist kein Werk des Menschengeistes. Je geringer unser Anteil ist, desto besser beten wir, sagt ein geistlicher Meister des 17. Jahrhunderts. Beten mit leeren Händen, so gehen wir in die "Betschule" Jesu. Er, der wirkliche Beter macht uns zu seinen Kindern, zu seinen Söhnen und Töchtern. Durch seinen Geist betet er selber in uns. Das ist das eigentliche Geheimnis des christlichen Betens.

Ich schließe mit einem Wort von Gerhard Lohfink, dem großen Exegeten: "Beten heißt letztlich einschwingen in das Gespräch zwischen dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, nicht aus eigener Kraft und Fähigkeit, sondern ermächtigt durch die Kindschaft, die dem Christen in der Taufe geschenkt wird" (a.a.O. 28). In dieser Kraft dürfen wir es wagen, in der Schule Jesu Betende zu sein.

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