Donnerstag 18. April 2024
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

6. Katechese 2004/05: "Kreuz und Auferstehung - Durch Leid und Tod zum Leben"

Die sechste Katechese der Reihe "Evangelium der Kathedrale" ging dem Thema von "Kreuz und Auferstehung" nach. Reinhard Gruber brachte die Botschaft des Kreuzes zu Gehör, das sagt: "Dies ist nicht das Ende! Der Tod hat nicht das letzte Wort".

Eminenz, hochwürdigster Herr Kardinal!
Liebe Frau Dr. Fenzl!
Verehrte Mitchristen und Interessierte an der Botschaft von St. Stephan!

Ehrlich gesagt habe ich mir mit der Vorbereitung zum Thema des heutigen Abends sehr schwer getan. Jeder von uns kennt das Kreuz, weiß um seine Bedeutung, dass es das Zeichen des Christentums schlechthin ist und bleibt. Es ist der Inbegriff göttlicher Liebe und Barmherzigkeit, aber auch menschlicher Ohnmacht und Niederlage. Die Frage, die sich mir stellte war nur die: Haben wir uns nicht schon allzu sehr an dieses Zeichen gewöhnt?
Wir begegnen ihm ja in unseren Wohnungen und Büros, auf den Kirchtürmen unserer Kirchen, auf den Bergen meiner Heimat Tirol, in unseren Kirchen, auch hier im Dom dutzende Male, als schmückendes Ornament auf den Messkleidern und als Schmuckstück um den Hals getragen.

Ich möchte deshalb die heutige Katechese zum Thema "Kreuz und Auferstehung" mit einer ganz kurzen Geschichte beginnen. Sie stammt von einer Amerikanerin, Margaret Visser, die ein sehr interessantes Buch über die geistliche Bedeutung von Architektur in der Kirche geschrieben hat. Ich zitiere daraus in Übersetzung:

"Ich erinnere mich, wie ich vor einigen Jahren hinter einer kleinen, einsamen Kirche saß, irgendwo auf dem Gipfel eines Hügels in Spanien. Ein japanischer Tourist wurde von einem Führer, den er wohl in der etwas entfernten Stadt angeheuert hatte, zum Hauptportal gefahren und rund um das Gebäude geführt. Der Führer sprach in Englisch über die Datierung der verschiedenen Teile des Baus, dann ließ er sich lang und breit über das großartige steinerne Gewölbe aus. Der Tourist hob nicht einmal den Kopf, um es anzuschauen. Er starrte entsetzt auf eine erschreckende geschnitzte und bemalte lebensgroße Skulptur eines blutenden Mannes, der an zwei Hölzer genagelt war. Als der Führer endlich aufhörte zu reden, deutete der Mann wortlos auf die Statue. Der Führer nickte, lächelte und sagte ihm, in welchem Jahrhundert sie geschnitzt worden war."

Wir sind wohl alle manchmal in Gefahr, wie dieser Führer Darstellungen des Gekreuzigten nur mehr als Kunstwerke wahrzunehmen, sie ästhetisch zu beurteilen und kunsthistorisch einzuordnen. Sie sind Bestandteile unserer Kultur, wir kennen Kruzifixe schon seit unserer Kindheit. Nur mehr sehr selten erschrecken wir wie dieser Japaner vor dem entsetzlichen Leid, das hier dargestellt ist.

Erinnern wir uns beim Anblick dieses Schandpfahles an die Erlösungstat Christi für uns und die gesamte Menschheit? Finden wir das Kreuz Jesu Christi verträglich? Können wir bei seinem Anblick erschrecken? Sind wir noch empfindsam gegenüber dem, was sich im Kreuz zeigt?
Vielleicht ist es nichts anderes als eine Wahrnehmungsfrage. Es kommt nur auf die Art des Hinschauens an.
Gewöhnungsbedürftig: Das Kreuz zeigt Jesus entblößt und nackt, durchbohrt von Nägeln und Lanze, die Dornenkrone sitzt fest, über dem Kopf eine Schmähinschrift. Wir nehmen einen Menschen wahr, dem die Mächtigen zugesetzt haben und der selbst wehrlos blieb; ein Opfer von Hass und Ungerechtigkeit; einer, auf den menschliche Gewaltsamkeit und Rohheit in ihrem ganzen schrecklichen Ausmaß zugegriffen hat; einer ohne Platz in der Welt der Mächtigen und Starken.

Und Gott geht in Jesus auch den schmerzhaften Weg der Ohnmacht und der Niederlagen mit, steckt darin gleichsam in unserer menschlichen Haut. Er kennt den Schmerz und die Verlassenheit, die Todesangst und alle Pein.

Weil es Gott ist, der sich in seinem Sohn auf solche Weise offenbart, ist das Kreuz auch Zeichen der Hoffnung und des Lichts. Daher sagt uns das Kreuz auch: Dies ist nicht das Ende! Der Tod hat nicht das letzte Wort.
Der heilige Paulus hat die Dimension des Kreuzes im Brief an die Philipper in den folgenden so beeindruckenden Worten beschrieben (Phil 2:6-11):

Lesung aus dem Brief des Apostels Paulus an die Philipper (Phil 2:6-11):
Christus Jesus war Gott gleich,
hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein,
sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich.
Sein Leben war das eines Menschen;
er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.
Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen,
der größer ist als alle Namen,
damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde
ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt:
"Jesus Christus ist der Herr" - zur Ehre Gottes, des Vaters.

Der Philipperhymnus gehört zu den großen Texten des Neuen Testaments. Er bezeugt den Glauben der frühen Christenheit an Jesus. Es wird darin seine Gottheit anerkannt und seine Inkarnation angesprochen. Sein Tod am Kreuz und Gottes Antwort in der Auferweckung werden bestätigt.
Es wird vermutet, dass Paulus diesen Hymnus schon vorgefunden und in den Brief integriert hat. Dies bedeutet, dass der Text schon einen Weg hinter sich hatte. Eine Christengemeinde hatte ihren Glauben ausgedrückt und ihm eine feste Form gegeben. Deren Zeugnis wurde aufgegriffen und weitergereicht. So gelangte es zu Paulus, der ebenso damit verfährt: Er gibt es weiter.

Ich möchte deshalb heute, wenn wir zusammen einige der vielen Darstellungen des Gekreuzigten und des auferstandenen Herrn betrachten, die unser Dom birgt, nur Weniges dazu sagen, ich möchte Sie nicht mit Namen und Jahreszahlen überschütten. Versuchen wir vielleicht, wenn wir die folgenden Bilder betrachten, uns immer wieder bewusst zu machen, dass es hier bei aller Verschiedenheit der Werke und aller künstlerischen Freiheit der Schilderung - um ein tatsächliches Geschehen geht, und dass es kein Geschehen in der Weltgeschichte gibt, das für uns mehr Bedeutung hat als dieses: dass Christus für uns gestorben und auferstanden ist.
Das Kreuzzeichen
Zuerst aber noch ein paar Gedanken zum Kreuzzeichen:

Wie oft bekreuzigen wir uns? Zeichnen das Zeichen des heiligen Kreuzes über unseren Körper? Bei jeder hl. Messe, bei jedem Gebet, an den Gräbern unserer Verstorbenen und natürlich beim Betreten einer Kirche mit den in Weihwasser getauchten Fingern.
Vielleicht ist es auch interessant, einmal zu bedenken, dass das Kreuzzeichen das Leben des Christen von der Taufe bis zum Tod begleitet. Der erste Ritus bei der Tauffeier ist die Bezeichnung mit dem Kreuz und der letzte Ritus beim Begräbnis das Stecken des Grabkreuzes mit den Worten:
"Das Zeichen unserer Erlösung, das Kreuz unseres Herrn Jesus Christus, sei aufgerichtet über deinem Grab. Der Friede sei mit dir!"
Der Dom
Der Dom selbst war und ist auch Zeuge der Leiden der Welt. Seien es die Pestepidemien die häufige Darstellung des hl. Sebastian erinnert daran oder die verschiedenen Kriege an die Zweite Türkenbelagerung erinnern die eingemauerten Türkenkugeln. Vor allem ist es aber der Zweite Weltkrieg, der die tiefen Spuren hinterlassen hat, dem Dom Wunden geschlagen hat, die zwar vernarbt, aber noch sichtbar sind. Vor sechzig Jahren, am 11. April, begann der Dom aufgrund unglückseliger Verwicklungen zu brennen und als am 13. April das Gewölbe hier über uns im Mittelchor einstürzte war die Katastrophe perfekt. Es schien, als würde mit dem Brand des Domes jegliche Hoffnung vernichtet, als wäre Wien seiner Seele beraubt worden.
Und doch: Der Dom ist wieder auferstanden, dank dem Mut der damaligen Bevölkerung, dank dem Idealismus der damaligen Verantwortlichen. Nach sieben Jahren konnte er wieder eröffnet werden und Rudolf Henz schrieb damals:

"... wir haben ihn wieder gebaut
Mit unserem Wissen und nach dem
Werkmaß der Väter.
Ihr aber füllet ihn nun mit
Gebeten, Gesängen!
Er ist euer wie je und nicht mehr
nur Erbteil.
Aus eurem Herzen ist er gewachsen,
aus euren
Heimlichen Opfern, aus eurem
Glauben.
Um dieses hohen Werkes willen
verachtet die Zeit nicht!
Stärkt euch an diesem Zeichen des
Friedens."
Das Lettnerkreuz
Ein besonderer Zeuge dieser Ereignisse ist das Lettner-Kreuz, das sich jetzt im Südchor beim Friedrichsgrab als Denkmal für die Gefallenen und Vermissten sowie aller Opfer der Beiden Weltkriege befindet.
Es hing bis 1945 als Triumphbogenkreuz über dem Lettnergitter. Beim Brand verbrannte der Corpus bis auf Haupt und Arme. Er wurde 1952 von Josef Troyer rekonstruiert. Bis heute kann man im Gesicht des Heilands Brandspuren erkennen.
Das Schönkirchener Kreuz in der Barbarakapelle
1983 brachte man in der Barbarakapelle in der Halle des Nordturms ein spätgotisches lebensgroßes Kreuz aus der Pfarrkirche Schönkirchen an. Zu Füßen des Gekreuzigten wurde eine Kapsel mit Asche aus den Krematorien des Konzentrationslagers Auschwitz eingeschlossen. Kardinal Franciszek Macharski hatte sie anlässlich der Europavesper zum Katholikentag am 10. September 1983 im Beisein von Papst Johannes Paul II. Kardinal Dr. Franz König übergeben. Ebenfalls am Fuß des Kreuzes ist ein Reliquiar mit Erde aus dem Konzentrationslager Mauthausen in Oberösterreich eingesetzt. Die Kapelle, die in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs zerstört worden war, ist somit auch ein Mahnmal gegen Rassenwahn, Ideologie und Völkerverachtung.
Der Zahnwehherrgott
In der Westwand der Turmhalle des Nordturmes steht die Originalbüste eines gotischen Schmerzensmannes, genannt "Zahnwehherrgott". Ursprünglich befand sie sich außen an der Stirnseite der Mittelapsis, seit 1960 ist sie dort durch eine Kopie ersetzt worden. Der Name rührt von einer Legende her: Es war üblich, am Fronleichnamstag die Gnadenbilder außen am Dom mit Blumen zu schmücken. So banden fromme Frauen dieser Christusfigur ein Tuch um das Gesicht und steckten Blumen hinein, so dass es aussah, als ob Jesus mit einem Blumenkranz geschmückt wäre. Mit der Zeit verdorrten die Blumen und fielen herab, nur das Tuch blieb der Figur umgebunden. Betrunkene Männer durchquerten bei ihrem Heimgang von einer Zechtour den Stephansfriedhof und machten sich über den Gesichtsausdruck des Schmerzensmannes und das umgebundene Tuch lustig: "Der Herrgott hat Zahnweh." Des Nachts wurden sie von starken Zahnschmerzen gepeinigt und erst als sie zum Zahnwehherrgott pilgerten und Abbitte leisteten, linderten sich ihre Schmerzen.
Als ikonographisch jüngste aller Passionsszenen war der Schmerzensmann, im späteren Mittelalter die Darstellung des eucharistischen Christus schlechthin. Das Bild des leidenden Gottessohnes wird dabei seit dem 12. Jahrhundert aus jener Szene, in der Pilatus Jesus dem Volk vorführt (Johannes 19, 4 - 5) - daher auch der Name "Ecce Homo", "seht, welch ein Mensch" - abstrahiert. Seit dem 14. Jahrhundert waren mit bestimmten Bildern des Schmerzensmannes bedeutende Ablässe verbunden, was zu seiner großen Bedeutung im Begräbniskult beitrug und die häufige Darstellung auf Friedhöfen erklärt. Unterhalb des Zahnwehherrgotts erinnert eine schlichte Marmortafel an die Genesung von Kardinal Franz König, der bei einem Autounfall in Kroatien er wollte 1960 an den Begräbnisfeierlichkeiten für den mittlerweile selig gesprochenen Kardinal Alojziji Stepinac (Erzbischof von Zagreb) teilnehmen - schwer verletzt wurde.
In jedem Menschen, der gequält wird, der leiden muss, den Verachtung schlägt und Unbarmherzigkeit, begegnen wir dem leidenden Herrn. In den Alten, die von ihrer Umgebung ausgenützt und für dumm verkauft werden; in den Kindern, denen Anerkennung und Liebe versagt wird; in den Ungeborenen, die keine Stimme haben; in denen, auf die mit dem Finger gezeigt wird und in denen, die fertig gemacht werden. In all diesen Menschen lässt Gott sich selber verachten und verletzen. Seine Achtung vor dem Menschen führt ihn herab aus der Glorie des Himmels in die Tiefen des Leides und des Todes.

Ich denke, das ist die Botschaft vom Kreuz: Gott weiß um unser Leid. In Jesus Christus kennt er es aus eigener Erfahrung und in ihm stellt er sich gleich mit allen Leidenden. Inmitten all unserer Bedrängnis, aller Not und allem Elend steht hoch aufgerichtet das Kreuz, an dem Gottes Rettungstat geschieht. Auch wenn uns der leibliche Tod nicht erspart bleibt: Er durchschreitet ihn mit uns, damit wir dann mit Leib und Seele verwandelt werden können in den neuen Menschen, nicht den Menschen des Karfreitags, sondern den Menschen des Ostermorgens.

"Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten", so sagt Paulus. Denn mag auch für viele Menschen das Kreuz ein empörendes Ärgernis und eine himmelschreiende Torheit sein: Für den Gläubigen ist es jedenfalls Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen.
Gottes Nähe im Leiden
Viele denken: Das Leid ist ein Zeichen der Abwesenheit Gottes. Gott hat mich verlassen.
Nein, er lässt mich nicht allein, auch nicht im unlösbarsten aller menschlichen Probleme, im Leiden. Christus hat keine Theorie darüber entworfen, er leidet mit. Am christlichen Glauben überzeugt mich vor allem dies: Der Gott, an den wir glauben, ignoriert unsere Wunden nicht, nein, er trägt sie selbst, und er hat die Kraft, sie zu verwandeln. Das Zeichen des Glaubens ist nicht der strahlende Held mit dem Lorbeerkranz, sondern der gekreuzigte Gottessohn mit der Dornenkrone. Seine Wunden und der schreckliche Tod werden nicht verleugnet, sondern öffentlich vorgezeigt als Sinnbild seiner schöpferischen Lebenshingabe.

Das Kreuz sagt mir: Gott ist mir auch im Leiden nahe, und er ist den Leidenden nahe. Hoffnung, die trägt.
Passionsdarstellungen im Dom
Das Leiden Christi, seine Passion, sein Tod am Kreuz, aber auch die Auferstehung wird in den Pfeilerfiguren des Langhauses dargestellt. Wie ich bei meiner letzten Katechese schon gesagt habe, als eine Art "Biblia Pauperum", als Bilderbibel für die des Lesens Unkundigen.
Ich lade Sie nun zu einer Bildbetrachtung dieser Szenen ein, aufgelockert auch durch Beispiele aus den mittelalterlichen Glasmalereien in den Chorfenstern.
Christus am Ölberg
Jesus ging nach dem Abendmahl mit seinen Jüngern zum Garten Gethsemane um zu beten. Nach Mt und Mk nahm er nur Petrus, Jakobus und Johannes mit sich und ließ die anderen Apostel beim Garteneingang zurück.
Nach Lukas entfernte er sich einen Steinwurf von den Jüngern und fiel auf die Knie.
Im Gebet setzt er sich voller Angst mit der Unausweichlichkeit seines Todes auseinander und gibt sich dem Vater hin.
Mt berichtet, dass Jesus sich dreimal nieder wirft und nach jedem Gebet zu seinen schlafenden Jüngern geht und sie bittet, mit ihm zu beten und zu wachen.
In dieser Figurengruppe kommt für mich die Einsamkeit Jesu in seiner Todesangst sehr anschaulich zur Geltung. Das Hauptaugenmerk ist eigentlich auf die schlafenden Jünger gerichtet.
Freunde sollen einen nicht allein lassen, sollen nicht schlafen, wenn man sie braucht.
Ganz links und klein ist der Stifter betend dargestellt, Frau Dr. Fenzl hat in der letzten Katechese ja ausführlich über diese Thematik gesprochen.
Der Judaskuss
Hier sind verschiedene Szenen in eine Szene verpackt:

Judas verrät durch einen Kuss seinen Meister, dahinter sind schon die Soldaten zu sehen und Petrus steckt sein Schwert in die Scheide, während Jesus das abgeschlagene Ohr des Knechtes Malchus heilt.
Übrigens ist hier Petrus in der gleichen Art dargestellt wie in der Szene vom Ölberg, auch das Schwert ist dasselbe. Dies spricht für den selben Künstler.
Christus an der Geißelsäule
Diese lebensgroße Plastik, die so wie die anderen zum Stil des so genannten spröden Realismus gehört und wohl aus einer lokalen Werkstätte, vermutlich der Dombauhütte von St. Stephan, unter Jakob Kaschauer bzw. aus dem Umkreis von Niclas Gerhard van Leyden stammt, zeigt Christus an der Geißelsäule. Seine Peiniger sind nicht zu sehen, nur er selbst mit traurigem Blick nach unten. Er schaut den Betrachter an, links und rechts die beiden Stifter dieser Figur.

Eine ältere Darstellung der Geißelung aus der Zeit zwischen 1340 und 1350 finden wir im nordöstlichen Chorfenster, hier sind auch die beiden Peiniger zu sehen. Die drei Chorfenster mit den ursprünglichen Glasmalereien haben übrigens nur durch einen glücklichen Umstand den Dombrand vor 60 Jahren überstanden. Sie wurden bereits 1933 zu Restaurierzwecken entnommen und bei Ausbruch des Krieges nicht mehr eingesetzt.
Die Dornenkrönung
Auffallend bei dieser Figurengruppe der Dornenkrönung sind die kleinen Figuren der beiden Schergen. Christus selbst, majestätisch thronend trotz seiner Pein, ist mehr als doppelt so groß dargestellt. Mich fasziniert hier die königliche, ja göttliche Würde, die Jesus ausstrahlt und das im tiefsten Schmerz.
Die Kreuztragung
Und dann die Figurengruppe, die zeigt, wie Jesus das Kreuz trägt, Simon von Zyrene hilft ihm. Vermutlich wurde sie in der Barockzeit neu gefasst. Auffallend sind hier zwei Besonderheiten. Christus schaut den Betrachter eindringlich an und wie Ihnen vielleicht schon aufgefallen ist: Der Längsbalken des Kreuzes verschwindet hinter dem Körper Christi. Christus selbst verschmilzt mit dem Kreuz, das er trägt. Ein sehr schöner Gedanke, den der unbekannte Künstler hier ausdrückt: Im Kreuz begegnet uns der Erlöser selbst. Das Heilszeichen des Kreuzes, der Marterpfahl des Todes steht selbst für den, der dies alles für uns ertragen und getragen hat und durch seinen Tod den Tod endgültig überwunden hat.
Das Kreuzigungsfenster
Im Kreuzigungsfenster auf der Südseite des Chores über dem Eingang des Kapitelsaales begegnet uns eine eher seltene Darstellung des gekreuzigten Herrn. Jesus ist hier an das sogenannte Astkreuz genagelt. Das blühende Holz ist ein Hinweis auf die Auferstehung und frappant ist auch die Ähnlichkeit zum gotischen Baumkreuz, das heute hier vor dem Altar steht. Vielleicht befand sich dieses Kreuz vor Zeiten am uns nicht erhaltenen ehemaligen Hochaltar; als ikonographische Fortführung desselben war ursprünglich das Kreuzigungsfenster darüber vorgesehen. Der erste Strahl der Sonne, der am Stephanitag durch dieses Fenster auf den Altar fiel und den Chor beleuchtete, war nicht nur ein Hinweis auf den geöffneten Himmel, den Stephanus sterbend gesehen hatte wie das heutige Hochaltarbild es noch eindringlich zeigt sondern auch ein Zeichen für die neue Sonne, für Christus selbst. Man könnte es poetischer so formulieren: Am Zenit des Karfreitags leuchtet ein Stück Ostern hervor, am Abend des Karfreitags bricht der Ostermorgen an.
Maria und Johannes
"Und unter dem Kreuz Christi standen seine Mutter und der Jünger, der ihn liebte."
Unter dem Kreuz Christi, aber auch unter dem Kreuz eines jeden Menschen, so sollte es zumindest sein, versammeln sich jene, die ihm, die einem am nächsten stehen: Die Familie und die besten Freunde. Jene Menschen, die man liebt. Ist es nicht das, was wir alle so sehr ersehnen? In den schwersten Stunden nicht ganz alleine zu sein? Jemanden bei und um uns zu haben, der uns anblickt und begleitet?
Die Kreuzigung
Ich habe meinen Taufpriester nicht mehr gekannt. Er starb, noch relativ jung, als ich drei Jahre alt war. Aber noch heute wird immer wieder von seiner Kreuzesmystik erzählt. Für ihn schier das größte Mysterium war der Kreuzweg. Und so sprach er beim Sturz Jesu unter der Last des Kreuzes davon, dass dieser unbeschreiblich große Gott im Staube liegt. Aber dieser Gott lässt sich auch ans Kreuz schlagen und diese Figuren-Szene ist für mich eine der ausdrucksstärksten und inhaltsschwersten, die es hier im Dom gibt. Die Gesichtszüge des gepeinigten Herrn sind nicht schmerzverzerrt, er blickt ernst zu Boden, während Maria und Johannes in fast andächtiger Ruhe zum Betrachter schauen. Zu Füßen des Gekreuzigten erkennt man die Figur von Maria Magdalena, die ihre Hände flehentlich und bittend zum Herrn erhebt, und auf gleicher Stufe mit dieser großen Sünderin, als die sie immer wieder bezeichnet wird, knien die Stifter, die ihr Heil bei Jesus suchen. Und der Heiland selbst seine Arme sind überdimensional proportioniert, so als wollte er die zu seinen Füßen knienden, also auch uns, an sich ziehen. Mir fällt bei der Betrachtung dieser Szene immer der Spruch aus Johannes 12, 32 ein: "Wenn ich von der Erde erhöht bin, werde ich alle an mich ziehen."
Pieta
"Jesus wird in den Schoß seiner Mutter Maria gelegt" die Szene des Vesperbilds, oder der Pieta, wird im Neuen Testament und in den Apokryphen nicht erwähnt. Es verbindet so zu sagen die Berichte der Kreuzabnahme und der Grablegung (Mt 27, 57-61; Mk 15, 42-47; Lk 23, 50-55; Jo 19, 38-42). Beeinflusst wurde es von den verschiedenen Viten Jesu und Mariens, von Mysterien und Passionsspielen und besonders auch von der Mystik. Es gehört zu den um 1300 auftauchenden Andachtsbildern.
Seinen Ursprung hat es vermutlich weniger in der kirchlichen Liturgie als vielmehr in der persönlichen Frömmigkeit, also "Pieta" im Sinne von innigem Mitgefühl, Mitleid. Dem Brauch, zwischen der Kreuzverehrung und der Grablegung zur Zeit der Vesper eine besondere Betrachtung der heiligen fünf Wundmale des auf dem Schoß der Gottesmutter ruhenden toten Sohnes einzuschieben, verdankt das Vesperbild seinen im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Namen.
Was bei dieser Pieta, die übrigens eine barocke Fassung trägt, besonders zu erwähnen ist, sind eingravierte Zeichen. Dabei handelt es sich vielleicht um Gebetskürzel, von Pilgern auf Arme, Beine und Brust des Leichnams eingraviert. Man könnte dies auch als Hinweis dafür sehen, dass diese Figur sich einmal im Dom, zu ebener Erde befunden haben könnte.
Die Grablegung
Im nordöstlichen Chorfenster wird die Grablegung Christi gezeigt. Josef von Arimathäa, Maria und Johannes legen den Leichnam Jesu, der in ein weißes Kleid gehüllt ist, ins Grab. Der Tag der Grabesruhe, der Karsamstag, ist ein liturgieloser Tag, nur die Tagzeiten werden gebetet.

In St. Stephan verwahren wir eine ehrwürdige Reliquie, die heute auch neben dem Altar steht, es handelt sich dabei um eine Reliquientafel mit einem Stück vom Schweißtuch bzw. Grabtuch Christi. Dieses so genannte Sudarium wurde Herzog Rudolf IV. von einem Mainzer Kirchenfürsten geschenkt. Rudolf war selbst 1353 in Mainz, aus dieser Zeit stammt auch die Aufschrift auf der Tafel. Nach menschlichem Ermessen wird es sich hier nicht um das originale Teil des Schweißtuch oder Grabtuchs handeln, aber das war den Menschen des Mittelalters und das muss auch für uns nicht wichtig sein. Es erinnert uns an die historische Tatsache, an das glaubhaft überlieferte Geschehen der Grablegung Jesu und so ist diese Stoffreliquie eine der ehrwürdigsten Schätze, die St. Stephan verwahrt. Ganz nebenbei. Da Stoff ja eine sehr schlechte Haltbarkeit hat ist dieser Stoff, der mit Sicherheit weit über tausend Jahre alt ist, ein besonders wertvolles Stück auch für Textilforscher.

Wir begegnen dem Grabtuch, in der uns allen bekannten Form der ehrwürdigen Reliquie von Turin, auch im Tabernakel des Wiener-Neustädter-Altares, dem Haupttabernakel der Domkirche. Anlässlich des Heiligen Jahres 2000 hat das Domkapitel diesen neuen Tabernakel anfertigen lassen.
Die Auferstehung
Und als Krönung des Erlösungsgeschehens, dass uns die Pfeilerfiguren erzählen, begegnen wir der Figur des Auferstehenden. Die schlafenden Wächter bekommen gar nicht mit, wie Christus, wieder übermäßig groß dargestellt, die Mauern des Todes zerbricht und mit segnender Rechten und der Siegesfahne in der Linken glorreich aufersteht. Das ist der Kernpunkt, das ist der Angelpunkt unseres Lebens.
Wenn dann bei der Osternachtsliturgie beim feierlichen Gloria der Hochaltar wieder feierlich enthüllt und bestrahlt wird, dann begegnet uns dort auch wieder Christus, der Auferstandene, der am Bild das Kreuz nunmehr als Siegeszeichen in seinen Händen hält.
Baumkreuz und Karfreitagsliturgie
Erlauben Sie mir nun noch ein paar Worte zum gotischen Baumkreuz zu sagen, das heute Abend hier vor dem Altar steht:

Seit einigen Jahren wird im Kapitelsaal das alte Baumkreuz verwahrt, das 1931 auf einem Kasten der Oberen Sakristei gefunden wurde. Es stammt aus der Zeit um 1330/40 und war wohl ein Teil des Gottleichnams- oder Hochaltars. Die Öffnung auf der Brust des Gekreuzigten verwahrt eine Kreuzreliquie. Nach wie vor wird es am Karfreitag bei der Kreuzprozession vom Erzbischof zur Verehrung durch den Dom getragen.

Das Astkreuz, an das Jesus genagelt ist, spielt auf das "arbor vitae-Motiv an: Das Kreuz als Lebensbaum, als der Baum, von dem das Leben kam - in Gegensatz zum Paradiesesbaum, von dem der Tod gekommen war. "Vom Baum des Lebens kam der Tod. Vom Baum des Todes kam das Leben."

Bereits im 2. Jahrhundert entstand die, auch von Origenes, Ambrosius und Athanasius aufgegriffene, Legende vom Paradiesesbaum und vom Kreuz Christi: Demnach soll Adam dort gelebt haben und gestorben sein, wo Christus gekreuzigt wurde, also auf Golgotha. Die Legende berichtet weiter, dass Set vom Cherub, dem Engel, der den Eingang zum Paradies bewachte, drei Samenkörner des Lebensbaumes erhielt und diese seinem toten Vater Adam in den Mund legte. Später wuchs aus Adams Grab ein mächtiger Baum, der dann zum Holz des Kreuzes, also zum neuen Lebensbaum, wird. So hat das Holz den Kreis wieder geschlossen, die Schuld Adams, die er durch den Baum auf sich lud, löst Christus am Baum des Kreuzes. Der Galgen des Kreuzes verschmilzt somit mit dem Baum des Sündenfalls zum Baum des Lebens. Der Totenkopf, der häufig am Fuß des Kreuzes zu sehen ist, ist ein Hinweis auf Adam. Es soll sein Totenschädel sein, auf den dann erlösende Blut Christi geflossen ist.

Das Exsultet, das Osterlob, das in der Osternacht feierlich vom Diakon verkündet wird nimmt diesen Gedanken auf: "O unfassbare Liebe des Vaters: Um den Knecht zu erlösen, gabst du den Sohn dahin! O wahrhaft heilbringende Sünde des Adam, du wurdest uns zum Segen, da Christi Tod dich vernichtet hat. O glückliche Schuld, welch großen Erlöser hast du gefunden!"

Zur für mich beeindruckendsten Liturgie im Laufe des Kirchenjahres in St. Stephan gehört die Feier vom Leiden und Sterben Christi am Karfreitag, wie sie im vorjährigen Osterpfarrblatt der Dompfarre geschildert wurde: Schon wenn man den Dom betritt, merkt man, wie anders dieser Gottesdienst ist: der "nackte" Altar, keine Leuchter, kein Kreuz, wenig Licht. Dann der Einzug in völliger Stille, ohne Orgel. Der Erzbischof und seine Assistenz, die sich vor dem Altar zu Boden werfen. Ein erschütterndes Zeichen der Hingabe und der Fassungslosigkeit des Menschen vor dem Kreuz.

Die erste Lesung: das vierte Gottesknecht-Lied aus Jesaja, ein Text wie ein gotisches Kruzifix. Als Antwort "O Haupt voll Blut und Wunden" nicht einer der Bach-Sätze, sondern einstimmig, unbegleitet, puristisch. Die zweite Lesung. Dann die gesungene Johannes-Passion von Schütz in ihrer klaren Schlichtheit.
Nach den "Großen Fürbitten" dann die allmähliche Enthüllung des vor uns stehenden gotischen Baumkreuzes durch den Erzbischof: "Ecce lignum crucis ..." ("Seht das Holz des Kreuzes "); die Prozession durch die Kirche, alles kniet nieder zur Verehrung des Kreuzes, und dazu singt das Vocalensemble die "Improperien" von Palestrina in Verbindung mit dem liturgischen Geschehen das bewegendste Stück Musik, das ich kenne.
"Mein Volk, was habe ich dir getan? Womit habe ich dich betrübt? Antworte mir! Ich habe dich doch aus der Knechtschaft Ägyptens herausgeführt ... Als meinen erlesenen Weinberg habe ich dich gepflanzt ... Was hätte ich dir mehr tun sollen und tat es nicht? ... Du aber hast deinem Erlöser das Kreuz bereitet ... Du hast mir bittere Trauben gebracht ..." , beim Hören dieser herzzerreißenden Klagen eines zutiefst verletzten Liebenden zeigt sich: Der vollkommen glückliche Gott, wie es der Katechismus formuliert, hat sich dadurch, dass er uns erschaffen hat, freiwillig verwundbar gemacht, sich uns ausgeliefert; nicht nur damals am Kreuz, sondern auch jetzt, heute, in jeder Minute. Und gleichzeitig ist Er der unfassbare, heilige Schöpfer und Herrscher des Alls, den wir anbeten: "Hagios o Theos ... Heiliger Gott, heiliger starker Gott! Heiliger, unsterblicher Gott, erbarme dich unser!"
Beim Gesang des "Crucem tuam adoramus" "Dein Kreuz o Herr verehren wir" zum Abschluss der Kreuzverehrung blitzt dann schon ein Schein von Ostern auf: "...deine heilige Auferstehung preisen und rühmen wir: Denn siehe, durch das Holz des Kreuzes kam Freude in die Welt."

Es folgen die Kommunionfeier und die Grablegung, begleitet von innigem Gemeindegesang und Motetten verschiedener Meister.
Und schließlich der Auszug, wieder in völliger Stille. Und viele, die noch lange vor dem heiligen Grab knien und anbeten, manche bis Mitternacht.
Die Kreuzreliquie
Das Kreuz, an dem Christus starb, wurde nach einem Bericht des "Chronikon paschale" am 3. Mai 320 von Kaiserin Helena, der Mutter Kaiser Konstantins, in Jerusalem aufgefunden. Cyrill von Jerusalem und Johannes Chrysostomus berichten, dass gleich nach der Auffindung kleinere und größere Partikel als Reliquien an Kirchen und Einzelpersonen verteilt wurden. Der große Längsbalken jedoch blieb in Jerusalem und wurde bei der Eroberung der Heiligen Stadt durch die Perser 614 verschleppt. Das heilige Kreuz wurde aber wenige Jahre darauf durch den Sieg von Kaiser Heraklius über die Perser zurück gewonnen. Zum Andenken an dieses Ereignis feiert die Kirche am 14. September das Fest der "Erhöhung des heiligen Kreuzes".

Auch St. Stephan besitzt mehrere Reliquiare mit Kreuzpartikeln, das wertvollste, das so genannte "Pazifikale", wird im Diözesanmuseum verwahrt und jeweils dem neu ernannten Erzbischof beim Einzug in St. Stephan vom Dompropst zum Kuss gereicht.

Jetzt gleich im Anschluss wird der Herr Kardinal die Kreuzreliquie vom Wiener Neustädter Altar auf den Volksaltar übertragen und damit zum Abschluss den Segen erteilen.

Ich möchte heute schließen mit dem Ruf, den wir alle aus der Mitfeier der heiligen Messe kennen:

Deinen Tod, o Herr, verkünden wir. Und deine Auferstehung preisen wir. Bis du kommst in Herrlichkeit!
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