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Inhalt:
17.02.2010

Sehr geehrter Herr Präsident von Förster! Lieber Herr Erzbischof Thissen!
Lieber Herr Weihbischof Jaschke!
Meine Damen und Herren!

Zu allererst bedanke ich mich bei Ihnen, dem Überseeclub, herzlich dafür, dass Sie mich eingeladen haben, über das Thema Christentum und Europa zu sprechen. Ich bin der Einladung gerne gefolgt, weil der Name ihres Clubs die Botschaft enthält, sich nicht mit dem Blick auf die Hamburger Verhältnisse, oder auf den deutschen Raum alleine zufrieden zu geben. Ich habe vielmehr verstanden, dass Sie die Tradition pflegen wollen, die der Historiker Percy Ernst Schramm in "Hamburg, Deutschland und die Welt" wunderbar beschrieben hat. Aus dieser Perspektive bin ich als Dominikanermönch und Erzbischof von Wien zweifellos der weiteren Welt zuzuordnen. Ich werde die Weltoffenheit, die in Ihrer Tradition liegt, in Anspruch nehmen müssen, wenn Sie meinen Gedanken über Christentum und Europa folgen, genauer der Fragestellung: "Ist das Christentum in Europa ein Fremdkörper oder die Wurzel von Europa?" Meine Antwort wird sein: Es ist beides.

Das Christentum ist einerseits eine Wurzel Europas, und Europas Zukunft in der Welt hängt in erheblichem Maße davon ab, dass das den europäischen Gesellschaften bewusst bleibt. Das Wissen davon schwindet aber bedrohlich.

Und das Christentum ist andererseits ein Fremdkörper in einer durch Vernunft, Aufklärung und Demokratie bestimmten Welt. Meine These ist, dass dieses Europa, ja in gewisser Weise diese Welt keinen Bestand hat ohne die Fremdheit, die das Christentum bringt. Oder anders gesagt: Europa wird seine geschichtliche Rolle im Konzert der Weltkulturen nur spielen können, wenn es sich den Fremdkörper Christentum als Teil seiner Identität erhält.

Aber ist Europa nicht auf dem besten Weg, sich aus dem Konzert der Weltkulturen zu verabschieden? Zum Beispiel demographisch. Und hängt dies nicht auch damit zusammen, dass Europa inzwischen der areligiöseste Kontinent geworden ist? Ich darf dazu zwei jüdische Stimmen zitieren:

Der britische Oberrabbiner Jonathan Sacks macht eine Kultur des "Konsumismus und der sofortigen Befriedigung" materieller Wünsche für den Geburtenrückgang in Europa verantwortlich. "Europa stirbt", sagte Sacks bei einem Vortrag Anfang November in London; denn seine Bevölkerung sei zu selbstsüchtig, um genügend Kinder großzuziehen: "Wir erleben das moralische Gegenstück zum Klimawandel, und keiner spricht darüber."

Der höchste Vertreter des Judentums in Großbritannien beschrieb Europa als die am stärksten säkularisierte Region der Welt. Zugleich sei es der einzige Kontinent mit sinkenden Bevölkerungszahlen. Und der Oberrabbiner sieht einen deutlichen Zusammenhang zwischen Religiosität und Wertschätzung der Familie: "Wo immer Sie heute hinschauen, bei Juden, Christen oder Muslimen: Je religiöser die Gemeinschaft, desto größer ist im Durchschnitt die Familie."  Eltern zu sein bedeute "massive Opfer" an Geld, Aufmerksamkeit, Zeit und emotionaler Energie, sagte Sacks und fragte: "Wo im modernen Europa finden Sie heute noch Platz für ein Konzept des Verzichts zugunsten künftiger Generationen?" Der Oberrabbiner verglich die Entwicklung in Europa mit dem niedergehenden antiken Griechenland mit seinen "Skeptikern und Zynikern".

Religiöser Glaube sei wesentlich für den Zusammenhalt einer Gesellschaft, so Sacks weiter. "Gott ist zurück", stellt er fest, aber Europa bekomme das nicht mit, und das sei sein "größter kultureller und intellektueller blinder Fleck".

Ein zweiter jüdischer Zeuge ist Prof. Joseph H.H. Weiler, Professor für Europarecht an der New York University, selber orthodoxer Jude. Er hat in einem aufsehenerregenden Buch "Christliches Europa. Erkundungsgänge" ("Pustet"-Verlag, Salzburg-München 2004), die Frage gestellt, warum die Europäer eine solche Angst hätten, die Evidenz anzuerkennen und zu benennen, dass Europa christliche Wurzeln habe. Er sprach von einer europäischen "Christophobie". Auch er sieht einen Zusammenhang zwischen dieser Vergessenheit und der demographischen Entwicklung Europas.

Ein drittes Blitzlicht: Im Oktober 2007 trafen sich die Vorsitzenden der europäischen römisch-katholischen Bischofskonferenzen zur jährlichen Vollversammlung, diesmal im portugiesischen Marienwallfahrtsort Fatima. Thema war die Familie in Europa. Einer von uns brachte die von ihm und von anderen als dramatisch eingeschätzte Lage folgendermaßen auf den Punkt: Könnte nicht schon bald der Zeitpunkt kommen, da die europäische Gesellschaft in ihrer Mehrheit den Christen sagt: Ihr seid ein Fremdkörper unter uns! Eure Werte sind nicht unsere. Die "europäischen Werte" sind anders als die christlichen. Ihr gehört nicht zu uns!

Und wenn es so wäre? Und wenn es so käme? Wäre das so überraschend? Hat nicht das Judentum in seiner langen Geschichte diese Fremdheit oft zu spüren bekommen, von Seiten der alten Großreiche des Orients und tragisch genug von Seiten der Christenheit? Ist Fremdheit nicht auch im Kern des Christentums grundgelegt? "Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat", sagt Jesus im Abendmahlssaal (Joh 15,18). "Gleicht euch nicht dieser Welt an", mahnt der Apostel Paulus die Gemeinde von Rom (Röm 12,2). "Liebe Brüder, da ihr Fremde und Gäste seid in dieser Welt, ermahne ich euch: Gebt den irdischen Begierden nicht nach, die gegen die Seele kämpfen", sagt der Apostel Petrus (1 Petr 2,11).

Sie fühlen sich als Fremdlinge in dieser Welt, von dieser ausgestoßen und verachtet. Aber sie akzeptieren diese Fremdheit: "Unsere Heimat ist im Himmel", sagt Paulus (Phil 3,20). Gleichzeitig schauen sie sehnsüchtig nach der kommenden Stadt aus  (vgl. Hebr 13,14), dem himmlischen Jerusalem (vgl. Offb 21,10).

Diese "Fremdlinge" bilden aber alles eher als eine Sekte, die sich von der Welt abschließt. Sie wollen diese Welt gestalten, die Verhältnisse ändern, indem sie Menschen ändern. Sie nennen das "Metanoia", Bekehrung und sind für "Fremdlinge" erstaunlich engagiert, eine humanere Gesellschaft aufzubauen.

Wie sieht das nun aus? Hat diese seltsame Mischung von Jenseitshoffnung und Diesseitsengagement Europa geprägt? Oder ist Europa erst auf dem Weg zu seiner Identität, seit es sich von den Paradoxien des Christentums gelöst und von kirchlicher Abhängigkeit emanzipiert hat?

Wie steht es mit den christlichen Wurzeln Europas? Der Versuch, an den Anfang der europäischen Verfassung eine Präambel mit dem Bekenntnis zur christlichen Tradition als wichtigstem Element europäischer Identität zu stellen, ist gescheitert. Die Argumente, die in der Diskussion um die berühmte  Präambel dafür genannt wurden, waren: Europa ist multireligiös geworden und muss dies in seiner Verfassung reflektieren. Und: die auf Vernunft und Aufklärung basierende demokratische Kultur musste gegen das Christentum erkämpft werden. Für beide Argumente gibt es zwar starke Gründe, die Folgerungen, die daraus gezogen werden, halte ich aber für falsch. Warum, das soll dieser Vortrag zeigen.

Nun ist der Rahmen in etwa abgesteckt, innerhalb dessen unser Thema zu verhandeln ist. Wie soll das Bild im engen Zeitrahmen von 50 Minuten gemalt werden? Es scheint mir unmöglich, dem Thema auch nur annähernd gerecht zu werden, ohne wenigstens in groben Zügen die wichtigsten geschichtlichen Etappen des Weges von Christentum und Europa nachzuzeichnen. Es ist mir bewusst, dass dies ein nahezu unmögliches Unterfangen darstellt. Jeder ernsthafte Historiker wird davon abraten. Dennoch will ich es versuchen, denn ohne Bedenken der Geschichte sind unsere Überlegungen zur Gegenwart bodenlos, ohne Wurzeln.

 Es sei also gewagt, wenigstens exemplarisch etwas zu den großen geschichtlichen Etappen der Wege des Christentums und Europas zu sagen. Ich beschränke mich auf die drei großen Perioden der Antike, des Mittelalters und der Moderne. Immer kann es nur um Skizzen, Exemplarisches, besonders Prägendes gehen.

I. Das Christentum - Fremdkörper in der Antike?
"Das Christentum tritt hervor in einer Welt, die durch die römische Friedensordnung (pax Romana) zugleich befriedet und gefesselt wird. Und es trifft in den ersten Jahrhunderten seiner Ausbreitung auf eine universelle politische Religion: den Kaiserkult" [1]. Die römische Kultur hatte keine Probleme mit der Integration fremder Religionen. Und diese hatten keine Mühe, sich in den Kaiserkult zu integrieren.

Mit einer Ausnahme: dem Judentum, und in seiner Folge dem Christentum. Alle die Kulte, die die Soldaten von ihren Kriegszügen mitbrachten und denen Sklaven und Freigelassene anhingen, fanden ihren Platz im römischen Pantheon. Nur die Juden und die Christen weigerten sich, als eine Religion unter anderen sich in den heidnischen Pantheon einzufügen.

Man warf ihnen dementsprechend scharf vor, sie seien gesellschaftsfeindlich. Ihr Anspruch, die vera religio zu sein, wurde als anmaßend empfunden. Beiden Religionen warf man vor, sie hegten ein "odium humani generis", den Hass auf die übrige Menschheit.

Paradox ist die Verknüpfung des Anspruchs, die vera religio zu sein, mit der Überzeugung, hiermit die universale, allen vernünftig denkenden Menschen einsehbare vera philosophia zu vertreten. Exemplarisch der römische Philosoph Justin (der griechisch sprach und schrieb). In seinem faszinierenden Dialog mit dem Rabbiner Tryphon (um 150) schildert er seinen Weg zum christlichen Glauben. Nachdem er von so ziemlich allen damals modischen und konkurrierenden Philosophenschulen gekostet hatte, ohne mit einer von ihnen wirklich zufrieden zu sein, begegnet er, am Meeresstrand wandelnd, einem alten Mann, der ihm eine Philosophie kundtut, deren Mitte Christus ist. Diese Philosophie erfasst ihn, in ihr erkennt er die wahre Philosophie, die er immer gesucht hat. Das Christentum - die wahre Philosophie! Von Anfang an der Anspruch, dass in der Offenbarung durch die Propheten und durch Jesus Christus die universal gültige und auch der Vernunft zugängliche (oder zumindest ihr nicht widersprechende) Wahrheit zur Sprache kommt.

Der Widerspruch ist heftig. Er wird sich politisch in massiven Verfolgungen äußern. Das Martyrium wird aber nochmals als Bestätigung gesehen, dass das Christentum die vera religio, die vera philosophia ist, für die zu sterben sich lohnt. "Sanguis martyrum semen christianorum", sagt Tertullian (das Blut der Märtyrer ist ein Samen für - neue - Christen). Angesichts der massiven Verfolgungen und der literarischen Anfeindungen ist die rasche Verbreitung des Christentums über die ganze, damals bekannte Welt und die Entwicklung zur Staatsreligion des Römischen Reiches ein Wunder. Zumindest ist es eine schwer zu erklärende Entwicklung.

Und so stehen wir vor der Frage: wie wurde dieser Fremdkörper Christentum zur Wurzel Europas? Gerne wird dabei auf eine Szene im Leben des Apostels Paulus verwiesen, die diesen Wandel symbolisieren kann. Sie steht im 16. Kapitel der Apostelgeschichte. Paulus befindet sich in Troas, in Kleinasien, auf seiner zweiten Missionsreise. Da erschien ihm im Traum ein Makedonier, ein Grieche, und bittet ihn: "Komm und hilf uns!" "Auf diese Vision hin", so schreibt Lukas, der Paulus begleitet, "wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden" (Apg 16, 9-10).

Und so kam das Evangelium erstmals nach Europa, nach Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth und schließlich bis nach Rom, wo Paulus, ebenso wie Petrus, für seinen Glauben starb. Was kam da nach Europa? Ein Fremdimport? Eine Hilfe? Etwas, das Europa erst Europa werden ließ? Oder etwas, wovon sich Europa erst in einem langen Prozess der Aufklärung emanzipierten musste und immer noch muss, um von Fremdbestimmungen frei zu werden?

Jetzt, da diese "Emanzipation" Wirklichkeit zu werden sich anschickt, erheben sich besorgte Stimmen, die vor den Folgen einer Entchristlichung Europas warnen. So etwa Jürgen Habermas, der vor einer "entgleisenden Moderne" warnt und besorgt einen Verfall des ethischen Bewusstseins, eine Tendenz zur Entsolidarisierung und eine Verknappung der "Ressource Sinn" beobachtet.

Viel wäre zu nennen, was sich bei genauerem Hinsehen positiv als Früchte der christlichen Wurzeln erweist, die nicht verloren gehen sollen.  Drei Elemente nenne ich ausdrücklich:

1. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, von der die Bibel  auf der ersten Seite spricht. Sie ist von nie zu überschätzender Bedeutung für das, was - hoffentlich - heute und auch in Zukunft als "europäische" Werte bezeichnet zu werden verdient. Die Gottebenbildlichkeit des Menschlichen ist die Basis der Menschenwürde, die Garantie ihrer Unbedingtheit und Universalität. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass diese Würde durch nichts genommen werden kann, weder durch Behinderungen noch durch Verbrechen, weder durch Religionsverschiedenheit noch durch kulturelle, ethnische, geschlechtliche Differenzen. Der Mensch ist immer "nach Gottes Bild, ihm ähnlich", unveräußerlich.

Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie sehr diese dem jüdisch-christlichen, biblischen Erbe zu verdankende Sicht heute wieder bedroht ist, wie es schon im Anfang war, als das Christentum auf den Plan trat. Verbunden mit Jesu Lehre und Praxis, die gerade die Armen, die Kranken und Leidenden, aber auch die Sünder als die besonderen Lieblinge der göttlichen Güte sieht, war diese Sicht der universal geltenden Würde aller Menschen im kulturellen Umfeld des römischen Reiches ein schockierender Fremdkörper .  In seiner "Griechischen Kulturgeschichte" beschreibt Jakob Burckhardt diesen Kontrast: "Eine Missgeburt ist nicht nur, wie heute, ein Unglück für die Familie, sondern ein Schrecken, der Versöhnung der Götter heischt, für die ganze Stadt, ja für das Volk. Man sollte also nichts Verstümmeltes aufziehen Nach Plato sollten auch kränkliche Leute nicht leben und jedenfalls keine Nachkommenschaft hinterlassen" [2]. Ganz zu schweigen "von der sonstigen Beschränkung der Volksmenge durch Abtreibung, von der Nullität der Sklavenehe, die jedenfalls massenhafte Kindertötung mit sich brachte, von der Kindertötung der Armen "[3] - Genug der antiken Schrecklichkeiten, die erschütternd heutiger Eugenik, Euthanasie und Abtreibungspraxis entsprechen.

Damals konnte das Christentum nur eines dem übermächtigen Mainstream der heidnischen Welt entgegensetzten: eine alternative Praxis. In einem frühchristlichen Dokument, dem sogenannten "Brief an Diognet", kommt diese christliche "Kontrastgesellschaft" schön zum Ausdruck:

"Die Christen nämlich sind weder durch Heimat noch durch Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen unterschieden. Denn sie bewohnen weder irgendwo eigene Städte noch verwenden sie eine abweichende Sprache noch führen sie ein absonderliches Leben.

Und sie bewohnen griechische und nichtgriechische Städte, wie es ein jeder zugeteilt erhalten hat; dabei folgen sie den einheimischen Bräuchen in Kleidung, Nahrung und der übrigen Lebensweise, befolgen aber dabei die außerordentlichen und paradoxen Gesetze ihres eigenen Staatswesens.

Sie bewohnen ihr jeweiliges Vaterland, aber nur wie fremde Ansässige; sie erfüllen alle Aufgaben eines Bürgers und erdulden alle Lasten wie Fremde; jede Fremde ist für sie Vaterland und jede Heimat ist für sie Fremde.

Sie heiraten wie alle und zeugen Kinder, jedoch setzen sie die Neugeborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, kein gemeinsames Lager." [4]

Kurz, die Christen sind keine Sekte, die sich abschließt, sondern eine Alternative, die sich durch ihre Glaubwürdigkeit anbietet. Kardinal Walter Kasper sagte auf der Europa-Bischofssynode im Jahre 2000: "Die Christen wird man in Zukunft an dem erkennen, was sie nicht tun". Überall in Europa, selbst im säkularisierten Westeuropa, finden wir heute gerade junge Menschen, die nach dem "Rezept" des Diognet-Briefes leben und damit zeigen, dass die Kraft der christlichen Botschaft stärker ist als aller Mainstream: Ihr "Nein" zu vielem heute Üblichem ist ein "Ja" zur christlichen Alternative. 

 2. Ein zweites Erbe gilt es zu nennen: Dem einen Schöpfer und der gleichen Gottebenbildlichkeit der Menschen entspricht die Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts. Die Menschheit ist wirklich eine Familie, alle Menschen sind, ausnahmslos, Mitglieder der einen Menschheitsfamilie. Wie fremd diese Vorstellung der Antike war zeigt die Reaktion des römischen Philosophen Kelsos (der ebenfalls griechisch schrieb) in seiner Streitschrift gegen das Christentum: Zu behaupten, dass die Menschheit eine sei, ist "die Sprache des Aufruhrs". Griechen und Barbaren auf einer Ebene? Die bloße Idee empört  ihn. Für ihn ist es undenkbar, der Aussage des Paulus zuzustimmen: "Ihr seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde oder Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles in allen" (Kol 3,10f). Max Horkheimer hielt diese Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts für einen der wichtigsten Beiträge der jüdisch-christlichen Tradition.

Wird diese Haltung  in Europa wieder zum Fremdkörper? Die schreckliche Geschichte der Rassenideologien und des Klassendenkens des 19. und 20. Jahrhunderts spricht dafür. Ist sie ganz überwunden? Die neuen xenophoben Bewegungen geben Anlass zur Sorge, so sehr die Angst vor zu viel Zuwanderung auch verständlich ist.

Papst Pius XII., oft gescholten wegen seines angeblich zu großen Schweigens im Zweiten Weltkrieg, hat in seiner viel zu wenig bekannten ersten Enzyklika vom Oktober 1939 in aller Klarheit gegen die Rassenideologie Stellung bezogen und berief sich dazu vor allem auf das Argument, dass die Menschheit eine ist.

,,Wunderbare Schau, die uns das Menschengeschlecht sehen lässt in der Einheit eines gemeinsamen Ursprungs in Gott ... in der Einheit der Natur, bei allen gleich gefügt aus stofflichem Leib und geistiger, unsterblicher Seele; in der Einheit des unmittelbaren Ziels und seiner Aufgabe in der Welt; in der Einheit der Siedlung auf dem Erdboden, dessen Güter zu nutzen alle Menschen naturrechtlich befugt sind, um so ihr Leben zu erhalten und zu entwickeln; in der Einheit des übernatürlichen Endziels, Gottes selbst, nach dem zu streben alle verpflichtet sind; in der Einheit der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen; ... in der Einheit des Loskaufs, den Christus für alle gewirkt hat" [5].

"Dieses Gesetz der Solidarität und Liebe (Pius XII.) versichert uns, dass bei aller reichen Vielfalt der Personen, Kulturen und Völker alle Menschen wahrhaft Brüder und Schwestern sind" (KKK 361). Sollte dieses "Gesetz der Solidarität und Liebe", das das Christentum als Ideal und als Aufgabe in Europa eingewurzelt hat, erneut zum Fremdkörper werden, der es am Anfang war?

3. Weil der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, besitzt er jene Gabe, die ihn Gott am ähnlichsten macht: die Freiheit. Im Unterschied zu den heidnischen Göttern, die zusammen mit den Menschen unter der Herrschaft des fatum stehen, hat das biblische Menschenbild die Freiheit gebracht. Ein Gott, der vom Menschen will, dass er Ihn "von ganzem Herzen" liebt, kann dieses Herz nicht zwingen wollen, soll es in Liebe antworten. Hier ist die tiefste Wurzel aller Religionsfreiheit.

Die gewaltigste "Erfindung" der biblischen Religion ist die Freiheit: die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Gott dem Menschen gegeben hat, weil nur ein freiwillig antwortender Mensch ein wirklich Gott liebender sein kann. Liebe verbannt den Zwang. "Glauben kann der Mensch nur freiwillig" (Credere non potest nisi volens), sagt Augustinus[6]. Trotz aller Verstöße gegen die eigene Freiheitslehre, die es im Lauf der christlichen Geschichte gegeben hat, bleibt diese Lehre die Grundlage für die Freiheitsrechte, die Europa großgemacht haben. Paradoxerweise ist diese Sicht der Freiheit gerade in der Neuzeit immer wieder in Frage gestellt worden. Deterministische Denkmodelle, die Bestreitung der Freiheit durch gewisse Richtungen der Gehirnforschung, aber auch philosophische und psychologische Infragestellungen der effektiven Freiheit des Menschen erinnern erstaunlich an manche fatalistische Ansichten die vorherrschten, als das Christentum im 1. Jahrhundert seinen Weg nach Europa nahm. Werden wir diese Freiheit verlieren, wenn ihre christlichen Wurzeln verloren gehen?

Spätestens hier meldet sich, so vermute ich, massiver Protest: Hat die Neuzeit ihre Freiheit nicht mühsam gegen das Christentum erobern müssen? Ist das, was an christlichen Wurzeln in Europa einmal stark war, nicht eher die Behinderung der Freiheit durch dogmatische und moralische Barrieren?

Dieser Frage müssen wir uns jetzt im 2. und 3. Teil dieses Vortrages zuwenden: Mittelalter und Neuzeit.

II. Mittelalter - die "finstere" Zeit Europas?

Bisher versuchte ich, an drei Elementen das Neue zu benennen, das das Christentum Europas gebracht hat: Die Gottebenbildlichkeit aller Menschen; die Einheit der Menschheitsfamilie und die Gabe der Freiheit.  Vieles andere wäre zu nennen: das Verständnis von Zeit (nicht zyklisch, sondern linear, also die Geburt der Geschichte); das Verständnis von Arbeit (exemplarisch im ora et labora des Hl. Benedikt), nicht als sklavischer Zwang, sondern als Verwirklichung des Menschen und als Mitwirken am Werk des Schöpfers[7].

Aber das Problem ist nicht das idealtypisch gesehene Ur- und Frühchristentum, sondern die "Christenheit", d.h. jene Gestalt des Christentums, die dieses mit der Konstantinischen Wende und vor allem seit der Erhebung zur Staatsreligion durch Kaiser Theodosius (im Jahre 380) angenommen hat. Eben die Christenheit mit ihrer alles beherrschenden Macht und Pracht, ihren Kathedralen und Klöstern, aber auch ihren Kreuzzügen und Ketzerverfolgungen. Kurz: Jenes "finstere" Mittelalter, aus dem die lichtvolle Aufklärung (und zuvor schon die Reformation) herausgeführt hat. Dieses im Kanon der "wohlerworbenen Vorurteile" fest verwurzelte Bild der finsteren Christenheit taucht immer wieder auf, wenn in den Auseinandersetzungen der Gegenwart der Verdacht geäußert wird, "die Kirche" wolle Europa "ins finstere Mittelalter" zurückschicken, wobei im "ranking" der Rückschrittlichkeit gerne dem Papst und der katholischen Kirche die Spitzenposition zugesprochen wird.

Doch genug der Ironie, kommen wir zur Sache. Das frühe, vorkonstantinische Christentum hat immer wieder eine große Faszination ausgeübt. Viele der Erneuerungsbewegungen, die die europäische Christenheit kannte, haben sich an dieser Anfangszeit orientiert, als der christliche Glaube ohne Waffen, ohne den Schutz und die Gesetze von Kaiser und Staat den Weg zu den Herzen der Menschen fand. Wir werden darauf noch zurückkommen, besonders in unseren Schlussfolgerungen.

Jetzt geht es aber darum, einen Blick auf die Epoche der "Christenheit", die über 1.000 Jahre zwischen der Konstantinischen Wende und dem Beginn der Neuzeit, zu werfen. Vorweg: Wer nach dem wohl finstersten Jahrhundert der Menschheitsgeschichte, dem "Jahrhundert der Wölfe", wie Ossip Mandelstam das 20. Jahrhundert nannte (der jüdisch-russische Dichter war eines der Millionen von Opfern des sowjetischen Terrors), wer nach diesem Jahrhundert das Mittelalter noch "finster" nennt, muss sich sagen lassen: Lernen Sie Geschichte.

Die neue Epoche, das "Mittelalter", beginnt in gewisser Weise mit dem Christwerden des Kaisers. War das nicht ein berechtigter Traum der verfolgten Christen? Was, wenn einmal der Kaiser Christ würde? Die Freiheit der Kirche wäre gesichert. Sie wäre geschützt vor Verfolgung, könnte sich frei entfalten. Der Traum war schnell vorbei. Welchen Platz hat der Kaiser, der Christ geworden ist? Herrscht er über die Kirche? Aber auch unter einem christlichen Kaiser gilt das Wort der Apostel vor dem Hohen Rat in Jerusalem: "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg 5,29). Ambrosius von Mailand widersteht dem christlich gewordenen Kaiser ins Angesicht mit Worten, die so etwas wie die Charta der "abendländischen Kirchenfreiheit" (so der Titel des Buches von Hugo Rahner, 1943, in der Schreckenszeit des Nationalsozialismus geschrieben) darstellt: "Der Kaiser ist in der Kirche, er ist nicht über der Kirche. Ein guter Kaiser sucht die Kirche zu fördern, nicht sie zu bekämpfen. So untertänig wir dies sagen, so unerschütterlich halten wir daran fest, auch wenn man uns droht mit Scheiterhaufen und Schwert und Verbannung. Wir Knechte Christi haben das Fürchten verlernt" [8].

Damit ist die Debatte eröffnet, die über 1.000 Jahre das Leben des Abendlandes prägen sollte - anders als die östliche Hälfte Europas: das Miteinander und Gegeneinander von imperium und sacerdotium, zugespitzt im Kampf um die jeweilige Rolle von Papst und Kaiser.

Zwei Päpste stehen symbolisch und real für die Entwicklung, die das christliche Abendland ermöglichten, es aber auch in seine tiefste Krise führten: Papst Gregor der Große (590-604) litt unter dem Verfall Roms, zu dessen hohem Adel er gehörte. Er sah, dass vom Kaiser in Ostrom zwar der Herrschaftsanspruch über, aber keine Hilfe für das weströmische Reich zu erwarten war. Deshalb begann die Kirche selbst die Rolle einer Hüterin und Statthalterin des weströmischen Imperiums zu übernehmen. Bis in die Gestaltung der Symbolsprache versuchte Papst Gregor dem Bischof der Römischen Kirche als "Pontifex Maximus" den Herrschaftsanspruch zu sichern und Rom als caput mundi eines christlichen, weströmischen Reiches zu behaupten. Das gelang ihm zwar nur symbolisch, aber es gab den Römern ein neues Selbstbewusstsein und der Kirche ein Ziel.

200  Jahre später hat sein Nachfolger Leo III. eine weitreichende Entscheidung getroffen: Er bat die Franken um Hilfe und krönte im Jahre 800 den fränkischen König Karl den Großen zum Römischen Kaiser. Für den byzantinischen Kaiser war dies ein tiefer Verrat an der Einheit des Reiches und der Christenheit. Bis heute leiden die beiden "Lungenflügel" der Christenheit, die östliche und die westliche, an der immer tieferen gegenseitigen Entfremdung, die schließlich zur Trennung des Jahres 1054 führte. Für den Westen Europas war diese Kaiserkrönung ein entscheidender Schritt zu einer eigenen Entwicklung der "abendländischen Christenheit".

Die Folgen dieser Entscheidung sind bekannt: mit der Entwicklung des "Heiligen Römischen Reiches" (Sacrum Romanorum Imperium) entstand auf der einen Seite im Lauf der Jahrhunderte eine eigene, hohe, christlich geprägte Kultur, das lateinische Mittelalter. Auf der anderen Seite entwickelte sich ein ebenso langer Konflikt, wer eigentlich an der Spitze des Reiches stehe: der Kaiser, der das Reich im göttlichen Auftrag regieren sollte, oder der Papst als Pontifex Maximus, der Stellvertreter Christi, der den Kaiser erst zum Kaiser machte?

Wir wissen, wie der Konflikt ausging: mit dem Sieg des Sacerdotium über das Imperium. Aber es war ein Pyrrhus-Sieg. Die Vorstellung, der Papst könne allein eine übernationale Herrschaft in Europa verwirklichen, erwies sich als Illusion. Die Dynamik der Kämpfer der europäischen Könige und Fürsten um die Bildung unabhängiger Nationen und um Landeshoheit erwies sich als stärker. Und am Ende von vielen Kriegen wurde aus dem Sacerdotium ein mittelalterlicher Staat, der Kirchenstaat, ohne Bedeutung im europäischen Konzert der Mächte. Bedeutung behält der Papst nur durch seinen geistlichen, ideellen Anspruch als Vertreter eines universalen Glaubensangebotes.

Die Konsequenz war eine tiefe Krise, die sich seit dem Mittelalter entwickelte und in die Reformation, die westliche Kirchenspaltung, die Konfessionskriege und schließlich in Aufklärung und Säkularisation mündete.

Aus dieser Geschichte gilt es eine Lehre zu ziehen: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass eine Religion, eine Glaubensgemeinschaft vor allem dadurch gestärkt wird, dass sie sich mit staatlicher und politischer Macht verbindet. Religion bedarf gewiss des Schutzes des Staates (wie auch der Staat der Kraft der Religion bedarf), aber es tut der Religion nicht gut, wenn sie sozusagen identisch wird mit staatlichen Gebilden und politischen Institutionen. Kein politisches Gebilde ist das "Reich Gottes", auch die Europäische Union nicht! Die Unterscheidung tut not, und sie tut beiden gut. Das ist die Lehre der langen Geschichte der Christenheit. Es darf keine Deckungsgleichheit mit dem Staat angestrebt werden, es geht um die  inspirierende, gestaltende Kraft authentischen Glaubens.

Es geht nicht nur um den Konflikt sacerdotium - imperium, sondern vor allem um die Kraftquellen des christlichen Lebens, die erst das Abendland gemacht haben. Allen voran sind hier die Orden und Klöster zu nennen. Man kann deren Wirkung nicht überschätzen: ohne die irischen Mönche hätte es keine Christenmission in Europa gegeben. Sie haben das Erbe der Antike, der vorchristlichen wie der christlichen, bewahrt. Klöster waren Zentren der Bildung und der Wissenschaft. Sie kämpften um die Reinheit des Glaubens. Sie machten Ländereien  urbar, entwickelten Landwirtschaft und Handwerk. Sie notierten und bewahrten die Geschichte. Und sie bildeten Netzwerke der Kommunikation über ganz Europa.

Gewiss, es gab zyklisch Phasen der Schwäche und des Niedergangs. Aber Welle um Welle gab es Erneuerungen von unglaublicher Vitalität. Zuerst die Cluniazensische Reform. Vor genau 1.100 Jahren, im Jahre 910, wurde in Cluny das Reformkloster gegründet. 200 Jahre später gab es in Europa 1.200 Klöster, die nach dieser Reform lebten. Unvorstellbare Vitalität, im sozialen, wirtschaftlichen, künstlerischen und natürlich im geistlichen Bereich. Durch Cluny, sagt Papst Benedikt XVI., "begann sich in den verschiedensten Regionen Frankreichs, in Italien, in Spanien, Deutschland und Ungarn ein Europa des Geistes abzuzeichnen".

Als Cluny Zeichen des Niedergangs zeigte, folgte die nächste gewaltige Erneuerungswelle: mit Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert die Zisterzienser, die in kürzester Zeit Europa mit einem eng kommunizierenden Netz von Klöstern überzogen. Und als im 13. Jahrhundert die Städte aufzublühen begannen, war es wieder eine Bewegung von intensivster Lebendigkeit: Franziskus und die Armutsbewegung, Dominikus.

Ist genügend bedacht worden, welches Potenzial an Freiheit in diesen Erneuerungsbewegungen lag und wie sehr das Freiheitsbewusstsein Europas von daher geprägt wurde? Von seinen Anfängen an ermöglichte das Christentum "das Heraustreten aus der weltlichen sozio-politischen Ordnung". Das "man muss Gott mehr gehorchen als dem Menschen" brachte ein Element der persönlichen Freiheit gegenüber den gesellschaftlichen Zwängen. Eines der eindrucksvollsten Beispiele dafür ist die Szene aus Assisi, im Jahre 1207, als der junge Francesco Bernadone seinem Vater und der weltlichen Obrigkeit den Gehorsam aufkündigte, um allein Gott zu gehorchen. Er gab dem Vater sein Gewand zurück, um nackt dem nackten Christus zu folgen. Diese Freiheit radikal christlichen Lebens hat in allen Jahrhunderten große schöpferische Kräfte freigesetzt. Die innere Dynamik Europas hat hier eine ihrer Ursachen. Und selbst im säkularen Europa wirkt die Strahlkraft dieser radikalen Nachfolge Christi weiter. Um meine Schlussfolgerungen vorweg zu nehmen: Ich bin überzeugt, dass hier eines der großen Hoffnungspotenziale Europas liegt. Wie im Mittelalter die großen Erneuerungsbewegungen die Christenheit aufgeweckt und dynamisiert haben, so war es auch in der Neuzeit. Und so ist es bis heute. Die Kirche (ich spreche hier von der katholischen, es gilt aber auch von den anderen christlichen Kirchen) hat ungeahnte Ressourcen der Erneuerung. Warum sollten uns nicht manche Überraschungen bevorstehen, wie jene, die der Poverello von Assisi vor 800 Jahren ausgelöst hat?

III. Die Neuzeit: die andere Sicht Europas
Wer die Wurzel Europas nicht im Erbe des antiken Christentums und dessen Verarbeitung im Mittelalter sieht, muss diese Wurzeln zweifellos bei den Reformatoren und in der Aufklärung sehen, also eher im Widerspruch zur katholischen Kirche. In dieser Sicht ist das moderne Europa vor allem ein "Kind" der Aufklärung, die ihre Werte und Sichtweisen oft gegen die Kirche, ja gegen das Christentum artikuliert und erkämpft hat. Immer wieder wird der Einwand formuliert, nicht das Christentum sei die Wurzel der europäischen Sicht der Menschenrechte, sondern diese seien gegen den zähen Widerstand besonders der katholischen Kirche erkämpft worden.

Eines ist sicher: die Glaubensspaltung im 16. Jahrhundert hat die abendländische Gesellschaft zutiefst erschüttert. Wir können uns kaum vorstellen, welche Traumata die Spaltung in "neuen" und "alten" Glauben für die Menschen bedeutet hat. Man hat die daraus folgenden Religionskriege "hermeneutische Bürgerkriege" genannt, weil sich die streitenden Parteien durch verschiedene Auslegungen der für alle gleichen Bibel legitimierten.

Eine der schlimmsten Folgen der Religionskriege war die "Territorialisierung" des religiösen Bekenntnisses: Cuius regio eius religio. Der Wohnort bestimmt das Religionsbekenntnis Bis heute leidet die europäische Politik an den Folgen dieses falschen Prinzips: Funktionalisierung der Konfession für die nationale Identität, sei es in mehrheitlich orthodoxen Ländern oder im tragischen nordirischen Bürgerkrieg. Ist das katastrophale Konzept des "ethnical cleansing" etwa am Balkan nicht auch eine tragische Weiterführung dieses Europa zerreißenden Prinzips? Die Vertreibung der Deutsch- oder Ungarischsprachigen aus der Tschechoslowakei war ein krasses Beispiel dafür. Die Balkankriege der neunziger Jahre ebenfalls. Es ist schrecklich, wenn eine Zeit nicht mehr an die Möglichkeit des Zusammenlebens von Religionen, Sprachen, Kulturen und Völkern glaubt. Das Vielvölker-Habsburgerreich war ein Gegenmodell. Kein Wunder, dass es zerstört wurde, obwohl es wie kaum eine andere europäische Realität die heute angestrebte Integration vorwegnahm.

Eine zweite Folge hatten die Konfessionskriege: die Menschen hatten genug von den theologischen Konflikten. Es musste eine Basis gefunden werden, auf der unabhängig von Theologie und Konfession ein Staat gebaut werden konnte, und die, so meinten Denker wie Hobbes oder Spinoza, findet man im mathematisch-naturwissenschaftlichen Denken. In der Physik und in der Mathematik gibt es keine Ketzer. Hier also muss die Basis sein, um sich auch über Recht, Ethik und Metaphysik zu verständigen, unabhängig von Gesichtspunkten des Glaubens. Die unglaubliche Erfolgsgeschichte des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denkens scheint voll zu bestätigen, dass die Religion rückschrittlich, die wissenschaftliche Weltsicht fortschrittlich ist. Schlimmer noch: die Religionskriege scheinen zu bestätigen, dass die Religionen die Menschen gegeneinander aufbringen, die Aufklärung aber sie frei macht.

Wenn wir noch tiefer zu gehen versuchen, müssen wir über die Frage der Religionen hinaus bis zur Gottesfrage vorstoßen. Sie ist letztlich angesprochen, wenn wir die Krise Europas seit der Glaubensspaltung betrachten. Der Philosoph Odo Marquard spricht von einer "Tribunalisierung Gottes" in der Neuzeit: Gott selbst wird angeklagt. Die alte Frage nach der Vereinbarkeit von Gottes Güte und dem Übel wird neu und akut gestellt: Unde malum? Woher kommt das Böse? Auf diese Frage kann nun freilich das naturwissenschaftliche Weltbild keine Antwort geben. Genauer: der Versuch, darauf Antwort zu geben, war der Fortschrittsglaube: Einmal wird der Fortschritt alle Übel beseitigen: Die Krankheiten werden durch die Fortschritte der Medizin überwunden, die Ungerechtigkeiten durch wirtschaftlichen Fortschritt. Der Fortschrittsglaube hat die Religion ersetzt.

Aber der Ersatz hat zwei Haken: erstens hilft mir heute ein künftiger Fortschritt nicht mehr. Dann bin ich schon tot. Denn "on the long run we are all dead". Und das schon geschehene Unrecht und Leid wird dadurch nicht ungeschehen gemacht. Und zweitens besteht berechtigter Zweifel am unbegrenzten Fortschritt. Den gibt es nicht. Die Heilserwartungen, die der Marxismus und andere Formen des Fortschrittsglaubens hegten, haben sich nicht erfüllt. Sie können sich nicht erfüllen. Denn wir sind nur Gast auf Erden. Die Zeit unserer Pilgerschaft ist begrenzt, die Ressourcen unserer Erde, auf der wir pilgern, ebenso. Die Frage ist am Ende des Tages ist nüchtern zu stellen: und das war schon alles?
Zum Schluss: Christentum - Wurzel und Fremdkörper

Die Situation des Christentums in Europa ist paradox. Es scheint heute weitgehend marginalisiert. Die Kirchen sind "unter ferner liefen" auch noch da. Aber sie haben kaum ein gewichtiges, prägendes Wort. Und doch sehe ich sie nicht als "Auslaufmodell" in einem Europa, in dem Sinnressourcen knapp werden.

In mancher Hinsicht sind wir wieder am Anfang des Christentums: in einer religiös und kulturell pluralen Welt, in einer weitgehend "heidnischen" Welt, in der die in Jahrhunderten eingeübten christlichen Grundhaltungen verlernt wurden, in der Astrologie und Abtreibung, Aberglaube und Ängste vorherrschen. Die Christen sind zwar nominell in Europa die sehr große Mehrheit. Die "praktizierenden" Christen aber sind eine Minderheit.

Ich sehe die Situation des Christentums in Europa als etwas sehr Spannendes und Chancenreiches. Es ist in vieler Hinsicht ein Fremdkörper - und weckt doch bei vielen, das Gefühl von Heimat. Es gibt in Europa zunehmend "Heimkehrer", Menschen, die aus einer völlig säkularen Lebensweise heraus den Weg zu einem bewussten Glauben finden. Sie beschreiben ihren Weg oft als ein Nach-Hause-kommen.

Hier liegt die unverwechselbare Kraft des Christentums: es verleiht eine doppelte Bürgerschaft, eine irdische und eine himmlische. Es lädt ein zu loyalem Mitwirken in der Gesellschaft, zum Annehmen der Verantwortung für die civitas terrena, ohne diese utopisch umstülpen oder umstürzen zu wollen. Dieses gelassene Engagement im Zeitlichen hat seinen Grund in der gleichzeitigen Zugehörigkeit zur civitas Dei. Dieser Anspruch, nicht nur Bürger der irdischen civitas zu sein, hat allen totalitären Regimen missfallen. Denn der Christ ist frei dem Staat gegenüber, weil er nie nur Staatsbürger ist. Nie kam diese "Freiheit eines Christenmenschen" schöner zum Ausdruck als bei den "Bekennenden Christen", die sich in der Freiheit des Glaubens dem totalitären Zugriff des Staates entzogen. Dietrich Bonhoeffer ist ein leuchtendes Beispiel eben dieser Freiheit, und ebenso der einfache oberösterreichische Bauer Franz Jägerstätter, um nur zwei zu nennen.

Dieses Ferment der Freiheit hat das Christentum im heutigen Europa einzubringen, als Freiheit gegenüber den Ansprüchen des mainstream, der political correctness oder einfach dem Zwang der Mode. Diese Freiheit hat tiefere Quellen, unerschöpfliche Ressourcen. Wir haben zu Beginn auf das so erstaunliche Phänomen der raschen Ausbreitung des Christentums in seinen Anfängen gesprochen. Ich sehe dafür neben anderen Gründen vor allem einen: Diese Ausbreitung hat mit dem zu tun, der dazu ausdrücklich den Auftrag gegeben hat und dabei versprochen hat: "Seht, ich bin bei euch alle Tage, bis ans Ende der Zeit" (Mt 28,20). Diese Zusage Jesu ist die stärkste Ressource des Christentums, und sie verifiziert sich immer neu auf höchst überraschende Weise. Aus ihr erklärt sich die unerschöpfliche Regenerationskraft des Christentums. So oft schon als sterbend erklärt, erlebt es aus der Kraft des Auferstandenen immer wieder seine Auferstehung.

Fremdkörper in Europa und doch auch Wurzel: das ist die spannende Situation des Christentums im säkularen Europa. Dieses sieht das Christentum oft kritisch. Und das ist gut so. Europa braucht beides: den prophetischen Stachel des Evangeliums als heilsame Unruhestiftung. Aber das Christentum braucht auch die kritische Rückfrage des säkularen Europa. Sie tut ihm gut. Sie weckt es auf, fordert es heraus. Sie stellt ihm unerbittlich die Frage nach der Glaubwürdigkeit. Im Tiefsten, so glaube ich, sehnt sich Europa nach einem authentischen Christentum. Denn wir alle, säkulare oder gläubige Europäer wissen insgeheim: die Wurzel, die Europa auch in Zukunft tragen kann, ist eben dies: ein glaubwürdiges, seinem Ursprung treues Christentum, so fremd es uns auch bisweilen scheinen mag. Braucht Europa nicht dringend eine neue Liebe zu diesem ihm so Fremden und doch so Nahen: dem Christentum?

Danke für Ihre Geduld!

Anmerkungen:

[1] Hans Maier, Welt ohne Christentum - was wäre anders? Herder/Spectrum 1999, S. 108.
[2] Kröner-Ausgabe Bd III,7.
[3] Zitiert nach Hans Maier, op. cit., S. 15.
[4] Der Brief an Diognet. Johannes Verlag, Einsiedeln, 1982, S 19.
[5] Pius XII., Enz. ,,Summi Pontificatus", KKK 360
[6] Augustinus, Tract. in Io. Ev. 26,2
[7] vgl. Hans Maier, op.cit.
[8] Sermo contra Auxentium 36; PL16, 1018 B: zit. nach H. Rahner, op. cit., S. 10.

 


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