Mit einer Ausnahme: dem Judentum, und in seiner Folge dem Christentum. Alle die Kulte, die die Soldaten von ihren Kriegszügen mitbrachten und denen Sklaven und Freigelassene anhingen, fanden ihren Platz im römischen Pantheon. Nur die Juden und die Christen weigerten sich, als eine Religion unter anderen sich in den heidnischen Pantheon einzufügen.
Man warf ihnen dementsprechend scharf vor, sie seien gesellschaftsfeindlich. Ihr Anspruch, die vera religio zu sein, wurde als anmaßend empfunden. Beiden Religionen warf man vor, sie hegten ein "odium humani generis", den Hass auf die übrige Menschheit.
Paradox ist die Verknüpfung des Anspruchs, die vera religio zu sein, mit der Überzeugung, hiermit die universale, allen vernünftig denkenden Menschen einsehbare vera philosophia zu vertreten. Exemplarisch der römische Philosoph Justin (der griechisch sprach und schrieb). In seinem faszinierenden Dialog mit dem Rabbiner Tryphon (um 150) schildert er seinen Weg zum christlichen Glauben. Nachdem er von so ziemlich allen damals modischen und konkurrierenden Philosophenschulen gekostet hatte, ohne mit einer von ihnen wirklich zufrieden zu sein, begegnet er, am Meeresstrand wandelnd, einem alten Mann, der ihm eine Philosophie kundtut, deren Mitte Christus ist. Diese Philosophie erfasst ihn, in ihr erkennt er die wahre Philosophie, die er immer gesucht hat. Das Christentum - die wahre Philosophie! Von Anfang an der Anspruch, dass in der Offenbarung durch die Propheten und durch Jesus Christus die universal gültige und auch der Vernunft zugängliche (oder zumindest ihr nicht widersprechende) Wahrheit zur Sprache kommt.
Der Widerspruch ist heftig. Er wird sich politisch in massiven Verfolgungen äußern. Das Martyrium wird aber nochmals als Bestätigung gesehen, dass das Christentum die vera religio, die vera philosophia ist, für die zu sterben sich lohnt. "Sanguis martyrum semen christianorum", sagt Tertullian (das Blut der Märtyrer ist ein Samen für - neue - Christen). Angesichts der massiven Verfolgungen und der literarischen Anfeindungen ist die rasche Verbreitung des Christentums über die ganze, damals bekannte Welt und die Entwicklung zur Staatsreligion des Römischen Reiches ein Wunder. Zumindest ist es eine schwer zu erklärende Entwicklung.
Und so stehen wir vor der Frage: wie wurde dieser Fremdkörper Christentum zur Wurzel Europas? Gerne wird dabei auf eine Szene im Leben des Apostels Paulus verwiesen, die diesen Wandel symbolisieren kann. Sie steht im 16. Kapitel der Apostelgeschichte. Paulus befindet sich in Troas, in Kleinasien, auf seiner zweiten Missionsreise. Da erschien ihm im Traum ein Makedonier, ein Grieche, und bittet ihn: "Komm und hilf uns!" "Auf diese Vision hin", so schreibt Lukas, der Paulus begleitet, "wollten wir sofort nach Mazedonien abfahren; denn wir waren überzeugt, dass uns Gott dazu berufen hatte, dort das Evangelium zu verkünden" (Apg 16, 9-10).
Und so kam das Evangelium erstmals nach Europa, nach Philippi, Thessaloniki, Athen, Korinth und schließlich bis nach Rom, wo Paulus, ebenso wie Petrus, für seinen Glauben starb. Was kam da nach Europa? Ein Fremdimport? Eine Hilfe? Etwas, das Europa erst Europa werden ließ? Oder etwas, wovon sich Europa erst in einem langen Prozess der Aufklärung emanzipierten musste und immer noch muss, um von Fremdbestimmungen frei zu werden?
Jetzt, da diese "Emanzipation" Wirklichkeit zu werden sich anschickt, erheben sich besorgte Stimmen, die vor den Folgen einer Entchristlichung Europas warnen. So etwa Jürgen Habermas, der vor einer "entgleisenden Moderne" warnt und besorgt einen Verfall des ethischen Bewusstseins, eine Tendenz zur Entsolidarisierung und eine Verknappung der "Ressource Sinn" beobachtet.
Viel wäre zu nennen, was sich bei genauerem Hinsehen positiv als Früchte der christlichen Wurzeln erweist, die nicht verloren gehen sollen. Drei Elemente nenne ich ausdrücklich:
1. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen, von der die Bibel auf der ersten Seite spricht. Sie ist von nie zu überschätzender Bedeutung für das, was - hoffentlich - heute und auch in Zukunft als "europäische" Werte bezeichnet zu werden verdient. Die Gottebenbildlichkeit des Menschlichen ist die Basis der Menschenwürde, die Garantie ihrer Unbedingtheit und Universalität. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass diese Würde durch nichts genommen werden kann, weder durch Behinderungen noch durch Verbrechen, weder durch Religionsverschiedenheit noch durch kulturelle, ethnische, geschlechtliche Differenzen. Der Mensch ist immer "nach Gottes Bild, ihm ähnlich", unveräußerlich.
Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, wie sehr diese dem jüdisch-christlichen, biblischen Erbe zu verdankende Sicht heute wieder bedroht ist, wie es schon im Anfang war, als das Christentum auf den Plan trat. Verbunden mit Jesu Lehre und Praxis, die gerade die Armen, die Kranken und Leidenden, aber auch die Sünder als die besonderen Lieblinge der göttlichen Güte sieht, war diese Sicht der universal geltenden Würde aller Menschen im kulturellen Umfeld des römischen Reiches ein schockierender Fremdkörper . In seiner "Griechischen Kulturgeschichte" beschreibt Jakob Burckhardt diesen Kontrast: "Eine Missgeburt ist nicht nur, wie heute, ein Unglück für die Familie, sondern ein Schrecken, der Versöhnung der Götter heischt, für die ganze Stadt, ja für das Volk. Man sollte also nichts Verstümmeltes aufziehen Nach Plato sollten auch kränkliche Leute nicht leben und jedenfalls keine Nachkommenschaft hinterlassen" [2]. Ganz zu schweigen "von der sonstigen Beschränkung der Volksmenge durch Abtreibung, von der Nullität der Sklavenehe, die jedenfalls massenhafte Kindertötung mit sich brachte, von der Kindertötung der Armen "[3] - Genug der antiken Schrecklichkeiten, die erschütternd heutiger Eugenik, Euthanasie und Abtreibungspraxis entsprechen.
Damals konnte das Christentum nur eines dem übermächtigen Mainstream der heidnischen Welt entgegensetzten: eine alternative Praxis. In einem frühchristlichen Dokument, dem sogenannten "Brief an Diognet", kommt diese christliche "Kontrastgesellschaft" schön zum Ausdruck:
"Die Christen nämlich sind weder durch Heimat noch durch Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen unterschieden. Denn sie bewohnen weder irgendwo eigene Städte noch verwenden sie eine abweichende Sprache noch führen sie ein absonderliches Leben.
Und sie bewohnen griechische und nichtgriechische Städte, wie es ein jeder zugeteilt erhalten hat; dabei folgen sie den einheimischen Bräuchen in Kleidung, Nahrung und der übrigen Lebensweise, befolgen aber dabei die außerordentlichen und paradoxen Gesetze ihres eigenen Staatswesens.
Sie bewohnen ihr jeweiliges Vaterland, aber nur wie fremde Ansässige; sie erfüllen alle Aufgaben eines Bürgers und erdulden alle Lasten wie Fremde; jede Fremde ist für sie Vaterland und jede Heimat ist für sie Fremde.
Sie heiraten wie alle und zeugen Kinder, jedoch setzen sie die Neugeborenen nicht aus. Sie haben gemeinsamen Tisch, kein gemeinsames Lager." [4]
Kurz, die Christen sind keine Sekte, die sich abschließt, sondern eine Alternative, die sich durch ihre Glaubwürdigkeit anbietet. Kardinal Walter Kasper sagte auf der Europa-Bischofssynode im Jahre 2000: "Die Christen wird man in Zukunft an dem erkennen, was sie nicht tun". Überall in Europa, selbst im säkularisierten Westeuropa, finden wir heute gerade junge Menschen, die nach dem "Rezept" des Diognet-Briefes leben und damit zeigen, dass die Kraft der christlichen Botschaft stärker ist als aller Mainstream: Ihr "Nein" zu vielem heute Üblichem ist ein "Ja" zur christlichen Alternative.
2. Ein zweites Erbe gilt es zu nennen: Dem einen Schöpfer und der gleichen Gottebenbildlichkeit der Menschen entspricht die Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts. Die Menschheit ist wirklich eine Familie, alle Menschen sind, ausnahmslos, Mitglieder der einen Menschheitsfamilie. Wie fremd diese Vorstellung der Antike war zeigt die Reaktion des römischen Philosophen Kelsos (der ebenfalls griechisch schrieb) in seiner Streitschrift gegen das Christentum: Zu behaupten, dass die Menschheit eine sei, ist "die Sprache des Aufruhrs". Griechen und Barbaren auf einer Ebene? Die bloße Idee empört ihn. Für ihn ist es undenkbar, der Aussage des Paulus zuzustimmen: "Ihr seid zu einem neuen Menschen geworden, der nach dem Bild seines Schöpfers erneuert wird, um ihn zu erkennen. Wo das geschieht, gibt es nicht mehr Griechen oder Juden, Beschnittene oder Unbeschnittene, Fremde oder Skythen, Sklaven oder Freie, sondern Christus ist alles in allen" (Kol 3,10f). Max Horkheimer hielt diese Überzeugung von der Einheit des Menschengeschlechts für einen der wichtigsten Beiträge der jüdisch-christlichen Tradition.
Wird diese Haltung in Europa wieder zum Fremdkörper? Die schreckliche Geschichte der Rassenideologien und des Klassendenkens des 19. und 20. Jahrhunderts spricht dafür. Ist sie ganz überwunden? Die neuen xenophoben Bewegungen geben Anlass zur Sorge, so sehr die Angst vor zu viel Zuwanderung auch verständlich ist.
Papst Pius XII., oft gescholten wegen seines angeblich zu großen Schweigens im Zweiten Weltkrieg, hat in seiner viel zu wenig bekannten ersten Enzyklika vom Oktober 1939 in aller Klarheit gegen die Rassenideologie Stellung bezogen und berief sich dazu vor allem auf das Argument, dass die Menschheit eine ist.
,,Wunderbare Schau, die uns das Menschengeschlecht sehen lässt in der Einheit eines gemeinsamen Ursprungs in Gott ... in der Einheit der Natur, bei allen gleich gefügt aus stofflichem Leib und geistiger, unsterblicher Seele; in der Einheit des unmittelbaren Ziels und seiner Aufgabe in der Welt; in der Einheit der Siedlung auf dem Erdboden, dessen Güter zu nutzen alle Menschen naturrechtlich befugt sind, um so ihr Leben zu erhalten und zu entwickeln; in der Einheit des übernatürlichen Endziels, Gottes selbst, nach dem zu streben alle verpflichtet sind; in der Einheit der Mittel, um dieses Ziel zu erreichen; ... in der Einheit des Loskaufs, den Christus für alle gewirkt hat" [5].
"Dieses Gesetz der Solidarität und Liebe (Pius XII.) versichert uns, dass bei aller reichen Vielfalt der Personen, Kulturen und Völker alle Menschen wahrhaft Brüder und Schwestern sind" (KKK 361). Sollte dieses "Gesetz der Solidarität und Liebe", das das Christentum als Ideal und als Aufgabe in Europa eingewurzelt hat, erneut zum Fremdkörper werden, der es am Anfang war?
3. Weil der Mensch nach Gottes Bild geschaffen ist, besitzt er jene Gabe, die ihn Gott am ähnlichsten macht: die Freiheit. Im Unterschied zu den heidnischen Göttern, die zusammen mit den Menschen unter der Herrschaft des fatum stehen, hat das biblische Menschenbild die Freiheit gebracht. Ein Gott, der vom Menschen will, dass er Ihn "von ganzem Herzen" liebt, kann dieses Herz nicht zwingen wollen, soll es in Liebe antworten. Hier ist die tiefste Wurzel aller Religionsfreiheit.
Die gewaltigste "Erfindung" der biblischen Religion ist die Freiheit: die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die Gott dem Menschen gegeben hat, weil nur ein freiwillig antwortender Mensch ein wirklich Gott liebender sein kann. Liebe verbannt den Zwang. "Glauben kann der Mensch nur freiwillig" (Credere non potest nisi volens), sagt Augustinus[6]. Trotz aller Verstöße gegen die eigene Freiheitslehre, die es im Lauf der christlichen Geschichte gegeben hat, bleibt diese Lehre die Grundlage für die Freiheitsrechte, die Europa großgemacht haben. Paradoxerweise ist diese Sicht der Freiheit gerade in der Neuzeit immer wieder in Frage gestellt worden. Deterministische Denkmodelle, die Bestreitung der Freiheit durch gewisse Richtungen der Gehirnforschung, aber auch philosophische und psychologische Infragestellungen der effektiven Freiheit des Menschen erinnern erstaunlich an manche fatalistische Ansichten die vorherrschten, als das Christentum im 1. Jahrhundert seinen Weg nach Europa nahm. Werden wir diese Freiheit verlieren, wenn ihre christlichen Wurzeln verloren gehen?
Spätestens hier meldet sich, so vermute ich, massiver Protest: Hat die Neuzeit ihre Freiheit nicht mühsam gegen das Christentum erobern müssen? Ist das, was an christlichen Wurzeln in Europa einmal stark war, nicht eher die Behinderung der Freiheit durch dogmatische und moralische Barrieren?
Dieser Frage müssen wir uns jetzt im 2. und 3. Teil dieses Vortrages zuwenden: Mittelalter und Neuzeit.