Donnerstag 25. April 2024
Ansprachen, Reden und Vorträge von Kardinal Christoph Schönborn

Christsein in säkularer Gesellschaft

Vortrag von Kardinal Christoph Schönborn, in der Oberbank Linz, am 3. Mai 2017 im Wortlaut:

Es ist eine eigenartige Fügung des Kalendermanagements, dass dieser Vortrag am Vorabend des Florianifestes stattfindet, der zweifellos zu den beliebtesten Heiligen unseres Landes gehört. Er ist Patron der Diözese Linz und Schutzpatron von Oberösterreich und der Stadt Linz. In diesen Tagen werden Hunderte, sogar Tausende Florianifeiern unserer Feuerwehren stattfinden, oft mit einer Messe, aber dann auch mit einen ordentlichen Zeltfest.

 

Christsein in der säkularen Gesellschaft! Wie christlich ist sie? Und wie säkular ist sie? Und ist beides ein Widerspruch? Ist es so, dass eine Gesellschaft entweder christlich oder säkular ist? Oder gibt es zwischen beiden, dem Christsein und dem Säkularsein Verbindungslinien? Gegensätze oder Zusammenspiel?

 

In unseren Tagen machen viele Menschen sich Sorgen wegen der wachsenden Zahl der Muslime in Österreich. Bald sind sie 700.000, bald werden sie 10 Prozent der österreichischen Bevölkerung sein. Wird in Österreich die säkulare Gesellschaft die Oberhand über das Christentum haben, oder vielleicht der Islam über das Christentum und die säkulare Gesellschaft? Solche Fragen werden heute oft gestellt. Ich bekomme viel Post von Menschen, die mit großer Sorge sagen: Was wird aus unserem Land? Und was tut die Kirche dagegen, dass wir sozusagen Islamisiert werden?   Manche befürchten ein Aus für das Christentum. Andere auch ein Aus für den säkularen Staat. Oder wird der Islam bei uns eine Form annehmen, die sich integriert in den säkularen Staat und die säkulare Gesellschaft, wie es das Christentum auf seinem Weg des Zusammenlebens mit der säkularen Gesellschaft gefunden hat? Sicher ist, dass wir in einer Zeit des Umbruchs leben, in der sich vieles neu formiert und formuliert und in der sich neue Gestaltungsräume öffnen. Wir erleiden nicht nur ein fatum, sondern wir sind Mitspieler in diesem spannenden Prozess. Dazu möchte ich Sie heute ermutigen. Gott hat uns die Fähigkeit zur Mitgestaltung gegeben. Das ist unsere hohe Würde und unsere Aufgabe.

 

Ein christliches Europa

 

Angeblich wollen 80 % der Österreicher, dass Österreich ein „christliches Land“ bleibe. Ich weiß nicht, wie glaubwürdig diese Zahl ist, vor allem aber stellt sich die Frage: Wenn die Zahl stimmt, was stellen sich diese 80 % der Österreicher unter „einem christlichen Land“ vor? Ist die Tatsache der vielen Florianifeiern ein Zeichen eines christlichen Österreich? Sind die Gipfelkreuze, die Kreuze in den Schulen und im Gericht ein Zeichen dafür?

 

Ich erwähne ganz kurz die Statistiken der katholischen Kirche des letzten Jahres: Taufen: 48.587, Erstkommunionen: 50.100, Firmungen 47.146, Trauungen 11.494, Begräbnisse 54.929. Es ist gut, dass es diese starke volkskirchliche Wirklichkeit gibt. Sie wurde und wird gerne kleingeredet und mit dem Wort „noch“ versehen: noch gibt es…dies und das…, als wäre die „Entchristlichung“ Österreichs ein Naturprozess. Aber zugleich gibt es auch 56.000 Austritte, das ist die höchste der genannten Zahlen.

 

Ein Blitzlicht: Letzten Sonntag hatte ich eine Firmung in einer Stadtrandpfarre von Wien. Es war der dritte Firmungstermin in dieser Pfarre. Es waren viele junge Leute, viele Familien mit Kindern in diesem Gottesdienst. Am Schluss sagt mir der Pfarrer: „In zwanzig Jahren wird es das alles nicht mehr geben“, und hat hinzugefügt: „Das hat vor zwanzig Jahren einer Deiner Mitarbeiter gesagt“.  Es ist kein Fatum, es muss nicht so sein, dass es dazu kommt, wie zum Beispiel in der Türkei und in Nordafrika. Kleinasien und Nordafrika waren einmal ganz christlich. In Nordafrika ist das Christentum völlig untergegangen, in der Türkei fast vollständig, und im Nahen Osten ist es extrem gefährdet. Welche Zukunft hat das Christentum bei uns? Ich glaube, das ist nicht entschieden. Es kann uns wie dem Nahen Osten und Nordafrika ergehen – oder auch ganz anders. Ich habe meine erste Dissertation über den hl. Sophronius von Jerusalem geschrieben, jenen Patriarchen von Jerusalem, der 638 die Stadt dem Kalifen Umar, dem 3. Nachfolger Mohammeds, ausliefern musste, nur sechs Jahre nach dem Tod Mohammeds. Niemand konnte das ahnen. Wie im Sturm wurden der ganze Nahe Osten und Nordafrika erobert und islamisiert. Heute stehen wir vor der Frage: Wird das Christentum im Nahen Osten überleben? Dank einer sinnlosen, absurden Politik ist im Irak das Christentum von 1,5 Millionen auf 300.000 geschrumpft. Und diese 300.000 sind in ihrer Existenz bedroht. In Nordafrika ist das einst blühende Christentum völlig verschwunden, in Syrien und Mesopotamien hielt es sich als Minderheit. Ich durfte im Oktober Ägypten besuchen. Die Kopten sind 10 Prozent des Landes und eine sehr lebendige Kirche. Schön, dass Papst Franziskus sie besucht hat. Es ist unglaublich beeindruckend, wie dieses Christentum in einer 1.400jährigen Geschichte der Islamisierung des Landes standgehalten hat. Wird bei uns das Christentum standhalten? Oder wird es gar eine neue Blüte erleben, wie wir es bei den Kopten in Ägypten sehen? Ich war so beeindruckt von den koptischen Klöstern in der Wüste, unglaublich blühend, mitten in der Wüste.

 

Wird bei uns das Christentum eine neue Blüte erleben? Wie soll es aussehen, wenn dieses Österreich christlich bleibt, was sich angeblich 80% der Österreicher wünschen?

 

Mich hat in den letzten Jahren eine Frage intensiv beschäftigt: Ist das Christentum in Europa ein Fremdkörper oder ist es Wurzel Europas? Die Antwort auf diese Frage ist gar nicht so einfach.

 

Gerade der hl. Florian und seine Gefährten werfen ja die Frage auf, ob die Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian nicht deutlich macht, dass das Christsein nicht nur Zustimmung findet, sondern auch auf Widerstand stößt und oft auch Verfolgung mit sich bringt. Nach der Legende hat der hl. Florian seine Beamtenrolle (er war schon in Pension) für die verfolgten Mitchristen eingesetzt. Heißt Christsein nicht immer auch Bereitschaft zum Widerspruch gegen Unrecht, zum Mut für die Wahrheit, zum Einsatz für die Benachteiligten? Gehören Verfolgung und letztlich das Kreuz zum Christsein?

 

Es wäre höchst spannend, die ganze Geschichte des Christentums durchzugehen unter diesem Gesichtspunkt. Nicht erst in der säkularen Gesellschaft bedeutet Christsein immer wieder im Widerspruch zu stehen, und zugleich dem Staat gegenüber loyal zu sein, solidarisch mit den Anliegen der Gesellschaft und engagiert in den Nöten der Zeit.

 

In zugespitzter Form kommt diese Situation des Christen in der Gesellschaft im Martyrium zum Ausdruck. Oberösterreich hat nicht nur die Märtyrer von Lorch und den hl. Florian, sondern auch den seligen Franz Jägerstätter, mit dem ich mich seit 1967 mit Begeisterung beschäftigt habe, als ich das erste Buch über Jägerstätter von Gordon Zahn gelesen hatte. Seine Seligsprechung war lange umstritten und ein schwieriges Kapitel in der Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus und der Kriegszeit. Seine Haltung, sein Gewissensentscheid kann auch als Vorwurf an eine christliche Gesellschaft gesehen werden. Warum war er so alleine? Sind nur wenige wirkliche Christen in diesem Land? Sind wir in der großen Zahl der Christen nur „Taufscheinchristen“, von denen es nur wenige zum vollen, radikalen Christsein bringen? Ich schließe auch uns Bischöfe voll in diese Frage ein!

 

Franz Jägerstätter hat ein solches Urteil über die anderen Christen entschieden gewehrt. Er hat niemand verurteilt, der nicht seinen radikalen Weg gegangen ist. Er sagte schlicht, dass er die Gnade bekommen habe, so zu handeln und seinem Gewissen zu folgen. Er urteilte aber über niemand anderen. Er ist seinem Gewissen gefolgt. Er hat sich nicht für einen besseren Christen gehalten. Aber er hat – auch dank seiner wunderbaren Frau Franziska – in einer einsamen Glaubensentscheidung sein Ja zu Christus und seinem Reich mit dem Leben bezahlt. Auch wenn von uns nicht dasselbe Zeugnis gefordert ist, hilft uns ein Beispiel wie das von Franz Jägerstätter, das von uns geforderte Zeugnis zu geben.

 

Zeugnis, Martyrium: das ist wohl eines der stärksten Zeichen der Lebendigkeit des Christentums in unserer Zeit. In der ganzen Geschichte des Christentums gab es noch nie so viele Märtyrer wie im 20. Jahrhundert und bis heute. Auf das Jahr 2000 hin ließ Papst Johannes Paul II ein Großprojekt starten, das die Biographien der christlichen Märtyrer des 20. Jahrhunderts (nicht nur der katholischen) sammeln sollte. Das Projekt wurde abgebrochen nach etwa 20.000 Biographien. Denn es war erst ein kleiner Anfang – und es erwies sich als schlicht undurchführbar angesichts der Zahlen. Die Zahl der Zeugen und Märtyrer des 20. Jahrhunderts ist einfach nicht aufzuarbeiten, es sind einfach zu viele. Märtyrer des Kommunismus, des Nationalsozialismus, der Diktaturen…

 

Heute ist das Christentum zweifellos weltweit die am meisten verfolgte Religion. Immerhin beginnt man auch darüber zu sprechen. Die OSZE hat jetzt einen Desk for Discrimination of Christians eröffnet und ein monitoring für solche Verfolgungen etabliert. Das ist etwas Neues und Ungewohntes in den Vereinten Nationen. Es gibt einen jährlichen Bericht über Diskriminierung von Christen im Bereich der OSZE. Einzelne Politiker wie Volker Kauder im deutschen Bundestag oder auch unser Außenminister u.a.m. sprechen das Thema doch immer wieder an. Insgesamt aber sind die Politik und auch die Medien noch zu wenig für das Thema engagiert. Was steht da dahinter? Warum wird speziell das Christentum weltweit so verfolgt? Das erleben die Christen im Nahen Osten besonders schmerzlich.

 

Früher waren die Großmächte Beschützer der Christen im Nahen Osten. Heute fühlen sie sich besonders von Europa und den USA verlassen und alleingelassen. Was immer wir tun können, um unseren Glaubensgeschwistern zu zeigen, dass wir sie nicht vergessen haben, sollten wir es tun. Bischof Manfred Scheuer war selber im wieder befreiten Gebiet von Mossul, ich war ein Jahr zuvor dort, und er konnte sogar wieder Gottesdienst mit den dort lebenden Christen feiern. Wir sind in diesem Bemühen um die verfolgten Christen nicht nur Geber, wir empfangen auch so viel vom Glauben dieser Christen, die unter schwierigsten Verhältnissen ihrem Glauben treu bleiben. Nicht umsonst wurden in der frühen Kirche die Berichte von den Märtyrern im Gottesdienst verlesen, die Berichte über das Leben und Sterben der Märtyrer. Gleichzeitig sage ich dazu: Verfolgung von Religionen ist inzwischen ein weltweites Phänomen. Nicht nur im Kommunismus, im offiziellen Atheismus, wurden alle Religionen verfolgt.

 

Heute erleben wir ein Phänomen, das meines Erachtens viel zu wenig bedacht wird und das insgesamt Religion zu diskreditieren droht. Nämlich das Phänomen, dass es fundamentalistische Strömungen in fast allen großen Religionen gibt. Es gibt einen hinduistischen Fundamentalismus, der in Indien Muslime und Christen diskriminiert und verfolgt, und sich wünscht, dass Indien ein hinduistisch-monolithischer Staat werde.  In Sri Lanka sind es radikale Buddhisten. Die wollen, dass nur Buddhisten in Sri Lanka Heimatrecht haben und alle anderen Religionen zu verschwinden haben. Natürlich haben wir dieses Phänomen in dramatischer Form im Islam in den verschiedensten Ausdrucksformen.

 

Was bedeutet das für Religion in der säkularen Gesellschaft? Ist Religion im Grunde ein Störungsfaktor? Es mehren sich die Stimmen, die sagen: Hört uns auf mit der Religion, sie bringt nur Unfrieden, sie zerstört das Zusammenleben und macht die Menschen zu Fanatikern. So haben wir im Blick auf die Geschichte eine eigenartige Ambivalenz. Auf der einen Seite die massive Verfolgung von Christen, auch von anderen Religionen, und auf der anderen Seite, dass Religionen selber eine gefährliche Form von Gewalt sein könnte. Eines ist für uns Christen sicher: Wenn wir der verfolgten Christen gedenken, müssen wir immer auch der anderen Verfolgten gedenken.

 

Emblematisch ist für mich das christliche Martyrium der seligen Sr. Restituta Kafka, die Johannes Paul II 1998 am Heldenplatz seliggesprochen hat. Diese Franziskanerin, eine einfache Krankenschwester, kam ins Gefängnis wegen ihrer klaren Kritik am Nationalsozialismus, die sie im Spitalsalltag praktizierte. Trotz Gnadengesuch von Kardinal Innitzer – angeblich sogar von Hitler persönlich abgelehnt – wurde Sr. Restituta zum Tode verurteilt. Sie wurde im Exekutionsraum des Wiener Landesgerichts mit der Guillotine hingerichtet. Der Raum existiert unverändert: ein Schlachtraum wie in einem Schlachthaus. Über 1.200 Menschen sind dort exekutiert worden. Als Sr. Restituta dran war, wurden gerade im Zwei-Minuten-Takt sechs Straßenbahner aus Wien 20 exekutiert, illegale Kommunisten, deren Verbrechen darin bestanden hatte, dass sie am Grab eines ihrer exekutierten Kollegen einen Kranz niedergelegt hatten. Für einen schlichten Akt der Humanität wurden diese Männer enthauptet, und mitten unter ihnen Sr. Restituta. Sie sind keine christlichen Märtyrer, aber sie sind Zeugen, Märtyrer der Humanität.

 

 „Versuch in der Wahrheit zu leben“, so lautet der Titel eines Werkes von Vaclav Havel. Das verbindet Menschen wie die sel. Sr. Restituta mit den kommunstischen Straßenbahnern. Von Sr. Restituta berichteten Mitgefangene – eine lebt noch: Käthe Sasso, damals 16jährig, war Zeugin der Hinrichtung von Sr. Restituta. Sie und andere bezeugen, dass Sr. Restituta allen geholfen hat, egal welche Religion und Weltanschauung sie hatten.

 

Was will ich damit sagen? Wenn wir von den christlichen Werten sprechen, von der christlichen Haltung, dann dürfen wir nie übersehen, wie viel an Humanität, an gelebter sozialer Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft vorhanden ist. Wir können natürlich sagen, das sind säkularisierte christliche Tugenden, mag sein. Aber vielleicht tut es uns gut daran zu erinnern, wie diese sechs kommunistischen Straßenbahner, es gibt echte Humanität in ganz säkularer Gestalt, vor der wir uns verneigen können.

 

Ich habe Alfred Hrdlicka gebeten, eine Darstellung der Sr. Restituta zu gestalten. Sie wurde ganz anders als wir uns das vorgestellt hatten. Es ist aber sein letztes Werk 2009, er ist kurz danach gestorben. Es wurde und wird dafür heftig kritisiert. Ich hatte Hrdlicka erzählt von diesen sechs kommunistischen Straßenbahnern. Sein Vater war ja Kommunist und war deshalb im Gefängnis. Hrdlicka hat auf die mütterliche Brust der Sr. Restituta die Namen dieser sechs Straßenbahner geschrieben.

 

Für mich ist das emblematisch für eine Haltung des Christseins in der säkularen Gesellschaft. Was ist das? Kann man es näher formulieren? Ein Franz Jägerstätter und eine Sr. Restituta hatten eine ganz klare Identität. Es ist ein Ineinander von zwei Haltungen, die oft als Gegensatz gesehen werden, in Wirklichkeit aber engstens verbunden sind: Sr. Restituta, um bei ihr als Vorbild zu bleiben, hatte sicher eine starke christliche, katholische Identität. Aus ihr heraus hat sie gelebt, ihre Verbundenheit mit Christus, ihr fester Stand in ihrem Glauben hat ihr die Kraft gegeben, die nationalsozialistische Ideologie zu durchschauen und ihre Falschheit zu erkennen. Ähnlich war es bei Franz Jägerstätter. Er hat in seinen Schriften, die er für seine Familie niederschrieb, eine Klarsicht gezeigt, die manche Universitätsprofessoren weit übertraf, die sich vom Nazi-Geist blenden und täuschen ließen. Diese klare Identität, dieser feste Stand, diese tiefe Glaubens- und Lebensüberzeugung hat sie nicht nur getragen und ihnen den nötigen Stand gegeben, um Widerstand leisten zu können. Sie hat ihnen auch die Weite des Geistes und des Herzens gegeben, um anderen gegenüber offen zu sein, um keine Scheuklappen zu haben, um das Gute auch dort zu sehen und zu finden, wo Menschen aus ganz anderen Weltanschauungen und Lebensentwürfen herkamen. Diese Herzensweite hatte eine Sr. Restituta und ein Franz Jägerstätter. So konnte Sr. Restituta mitgefangenen Kommunisten ein Trost und eine Hilfe sein. So konnte Franz Jägerstätter diese Herzensweite haben, zu verstehen ohne zu verurteilen, wenn andere seinen Weg nicht verstanden.

 

Hier komme ich zum Kern des Themas, das uns heute Abend beschäftigt. Christsein in säkularer Gesellschaft erfordert vor allem und als unabkömmliche Voraussetzung einen festen persönlichen Stand im Glauben. Konkret heißt das: eine lebendige Gottesbeziehung, eine Verbundenheit mit Jesus, dem Herrn, der Mitte des christlichen Glaubens ist. Denn dazu genügt heute nicht mehr ein bloßes Traditions- und Kulturchristentum, auch wenn ich dieses nicht schlecht machen will. Nichts gegen die Florianifeste! Es ist gut, dass es in unserem Land so viele Formen der Volksreligiosität gibt. Sie bewahren eine kostbare Ressource unseres Landes. Sie sind ein Schatz, der nicht vergeudet werden soll. Aber in den Herausforderungen der säkularen Gesellschaft braucht es mehr. In seiner Antrittspredigt am 24. April 2005 hat Papst Benedikt XVI. gesagt: das Christentum sei nicht zuerst eine Moral, sondern eine Beziehung, eine Freundschaft mit Jesus.

 

Und nun das Paradoxe: diese Art von festem Stand, wie an Sr. Restituta oder Franz Jägerstätter sichtbar, ist alles andere als ein Fundamentalismus oder ein Fanatismus. Sie ist aus ihrem innersten Wesen heraus eine Öffnung, eine Offenheit, und nicht eine Isolation oder eine Ghettobildung. Sie öffnet die Herzen für die Begegnung mit dem Anderen, der anders denkt und lebt und empfindet. Darum konnte eine Sr. Restituta ihren kommunistischen Mitgefangenen so nahe sein. Christsein ist keine Ghettobildung, es soll nicht die Bildung einer Sonderwelt bewirken, möglichst abgeschirmt von der als feindlich und böse gesehenen säkularen Welt. Eine echte christliche Identität schafft keine Berührungsängste gegenüber Andersdenkenden. Sie sieht das Gute, das in säkularer Gestalt lebendig und vielfältig da ist.

 

Die Herausforderung für das Christsein in säkularer Gesellschaft ist gerade dies, um es wirklich auf den Punkt zu bringen: immer mehr, immer tiefer und entschiedener die Haltung Jesu selber zu leben. Seinen Blick auf die Menschen zu lernen. Seine Art, Menschen zu begegnen, sie anzunehmen, sie zu mögen! Und seine Art, die Dinge zu unterscheiden, was der Weg des Lebens ist und was das Leben zerstört, seine Kritik an der Heuchelei, der Eigensucht, des Pharisäertums, der Eingebildetheit und der Geringschätzung der Einfachen und Kleinen.

Kurz gesagt: Christsein, das sich in der säkularen Gesellschaft bewähren soll, braucht vor allem die Orientierung an Jesus und am Evangelium. Dann ist es sozusagen „fit“ für unsere säkulare Gesellschaft. Dann ist es überzeugend. Papst Franziskus zitiert oft ein Wort von Papst Benedikt XVI: „Das Christentum wächst nicht durch Proselytismus, sondern durch Anziehung“. Nicht das Rekrutieren, das „Keilen“ von neuen Mitgliedern, nicht das propagandistische Anwerben gewinnt Menschen für das Christentum, sondern seine Anziehungskraft.

 

Anziehend: Ist das Christentum bei uns anziehend? Für viele nicht. Die Austrittszahlen sind nach wie vor hoch. Papst Franziskus hat sehr hohe Sympathiewerte, trotzdem haben sich die Austrittszahlen nicht verändert. Der „Franziskuseffekt“ schlägt sich nicht als Bonus für die Kirche nieder.

 

Und doch gibt es Menschen, die von der Kirche, dem Christentum, angezogen sind. Über sie muss ich hier etwas sagen. Ein Gradmesser der Anziehung sind die Erwachsenentaufen. Warum wollen erwachsene Menschen Christen werden? Was zieht sie an? Was können wir daraus lernen? Vor über 10 Jahren haben wir in der Erzdiözese Wien begonnen, zu Beginn der Fastenzeit im Stephansdom die Taufkandidaten zur feierlichen „Einschreibung“ einzuladen, zur letzten Vorbereitung auf die Taufe in der Osternacht. Beim ersten Mal waren es 7. Seither sind es von Jahr zu Jahr mehr geworden. 2016 waren es zum ersten Mal über 100. Und heuer waren es 254! Insgesamt waren es in Österreich über 500. Die große Überraschung aber war, dass von diesen 254 über 200 muslimischer Herkunft waren.

 

Was bewegt Muslime, die Taufe zu erbitten? Die Antwort ist einfach. Ich habe sie in vielen Postings und Zuschriften bekommen: Natürlich möchten sie alle Asyl bekommen. Eine sehr einfache Antwort! Mitnichten! So ist es nicht. Wir haben uns österreichweit auf gemeinsame Standards geeinigt. Alle unsere erwachsenen Taufbewerber müssen durch ein gründliches, mindestens ein Jahr lang dauerndes Katechumenat gehen. Da zeigt sich, ob der Taufwunsch echt ist oder andere Motive hat. Der Asylgerichtshof vertraut auf die Glaubwürdigkeit unserer Taufvorbereitung.

 

Viel wichtiger aber ist die Tatsache, dass diese Taufbewerber selber ein hohes Risiko eingehen, für sich persönlich und für ihre Familien. Für Muslime ist der Religionswechsel oft lebensgefährlich. Diesen Schritt tut normalerweise nur jemand, der wirklich überzeugt ist. Viele der als Flüchtlinge gekommenen Taufbewerber haben bereits in ihren Heimatländern mit dem Christentum Kontakt gehabt, haben sich zu interessieren begonnen und mussten oft deshalb flüchten, weil schon der Besitz einer Bibel, das Interesse für das Christentum zu massiven Verfolgungen geführt hat. Manche haben wirklich alles verlassen, um Christen werden zu können.

Ich durfte alle die Kurzbiographien der 254 Taufbewerber lesen. Ich habe selten so intensiv gespürt, was am Christentum so anziehend ist, warum Menschen alles riskieren und bereit sind, alles zu verlieren, nur um Christen werden zu können. Wie kamen diese vielen Menschen zur Begegnung mit dem Christentum und was hat sie besonders angezogen? Ich denke, wir tun gut daran, darüber nachzudenken. Wir haben viel davon zu lernen.

  • Da ist sehr häufig das Angesprochen werden. Sie sind Menschen begegnet, die ihnen von ihrem Glauben und von Jesus etwas gesagt haben. „Face to face“ – von Mensch zu Mensch! Das ist die Chance der säkularen Gesellschaft. Niemand muss heute Christ sein. Es ist schon eher etwas Originelles, wenn man sich heute als gläubig „outet“. In islamischen Ländern ein Hochrisiko. Bei uns eigentlich keine Schwierigkeit, würde man meinen.
  • Eine große Rolle spielt bei vielen die Bibel. Besonders auch bei Muslimen. Erste Kontakte mit der Bibel – oft sehr gefährlich und verfolgt – dann das Lesen der Bibel, besonders der Evangelien. Und dadurch ein Kennenlernen Jesu, anders als die wenigen Stellen über Jesus im Koran. Was sind die Stichworte in diesen Kurzbiographien? Versöhnung, Vergebung, Liebe, selbst zu den Feinden, Ablehnung der Gewalt: all das kann anziehend werden.
  • Immer wieder wird berichtet, dass sie Jesus im Traum gesehen haben und Worte von ihm bekommen haben. Es ist kaum anzunehmen, dass es sich hier um Einbildungen handelt. Dazu sind die Erfahrungen zu stark und in der Art glaubwürdig.
  • Schließlich spielen (vor allem in den islamischen Ländern) geheime Hauskirchen eine wichtige Rolle. Gemeinschaft, gemeinsames Gebet, gegenseitige Stärkung und Erfahrungen der Mission, des Weitersagens und Weitergebens des Erfahrenen. „Hauskirche“, wie im Anfang des Christentums.

Von all dem haben wir viel zu lernen. Denn es zeigt uns, wie Gott heute wirkt und welchen Weg er dafür gebraucht. Dieses Jahr hatten wir in rund 70 Pfarrgemeinden Erwachsenentaufen. Das bedeutet viel für unsere Pfarrgemeinden. Sie erleben, was anziehend ist an unserem Glauben, und werden selber ermutigt, mehr auf andere zuzugehen und sie zum Glauben einzuladen.

Einwand: Das ist ja alles schön und recht und erfreulich, aber was sind diese – österreichweit – etwa 400 bis 500 Erwachsenentaufen gegenüber den Austrittszahlen? Was sind 200 - 300 Muslime, die Christen werden, gegenüber den 700 000 Muslimen in Österreich?

 

Dazu eine Schlussbemerkung: Am 12.September 2016 waren es 333 Jahre seit der Schlacht um Wien von 1683, als Wien von der Türkenbelagerung befreit wurde. In meiner Predigt aus diesem Anlass habe ich gesagt: „Der Islam will Europa erobern“. Dieses Wort ging durch die Medien. Nicht gesagt wurde der zweite und ergänzende Satz: „Sorge macht mir nicht die Stärke des Islam, sondern die Schwäche des Christentums“.

 

Ich ergänze: Wir dürfen den Muslimen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie alle Menschen zum Islam führen wollen. Das wollen wir als Christen doch auch: alle Menschen zum Glauben an Christus führen. Das ist Jesu Urauftrag an seine Kirche. Was wir wohl klar sagen müssen: Mission ist berechtigt, aber immer unter der Voraussetzung der Achtung vor der Freiheit des Anderen, vor seinem Gewissen. Kein Zwang, kein Druck, keine Diskriminierung dürfen hier keinen Platz haben. Das mussten wir Christen erst schmerzhaft lernen nach all den Religionskriegen, die in Europa Christen einander geliefert haben. Die Toleranz untereinander, den Respekt vor der Glaubens- und Gewissensentscheidung des Anderen, hätten wir Christen eigentlich von Jesus und vom Evangelium lernen müssen. Es war die säkulare Gesellschaft, die Aufklärung, die uns zerstrittene Christen damals zur Toleranz genötigt und uns daran erinnert hat, oft in schweren Konflikten und gegen den heftigen Widerstand unserer Kirchen.

 

Wir sollten daher vorsichtig sein mit dem Steine werfen auf den Islam, da wir selber im Glashaus sitzen. Der Islam tut sich schwer mit dem, was wir mühsam nach dem 30jährigen Krieg, nach der Aufklärung und letztlich nach dem 2. Vatikanum erst lernen mussten. Der Islam geht zur Zeit durch eine gewaltige Krise, eine Identitätskrise, herausgefordert durch die Radikalen, die den Islam von innen her zu zerreißen drohen; die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten, zwischen Saudi-Arabien und Iran; der Kampf um die Hegemonie im Islam; die Spannung zwischen verengter, überspannter Tradition und Herausforderung der säkularen Welt.

 

Darum ist es so wichtig, dass Papst Franziskus mit aller Entschiedenheit den Weg des Dialogs mit den Muslimen geht, wie sein Besuch in Kairo letzte Woche gezeigt hat. Er zeigt der ganzen Welt mit seinem ganzen Wesen den Weg des Evangeliums heute. Das ist der Weg des Christseins in der säkularen Gesellschaft. Wir brauchen vor ihr keine Angst zu haben. Sie ist unsere Welt, in der wir leben, die Christen und auch die anderen, die Gläubigen und die weniger Gläubigen. Eine Welt, die einen solchen Hunger und Durst nach Echtem und Glaubwürdigem hat, nach Orientierung und Halt, nach Güte und Liebe. Worauf warten wir?

 


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