Dienstag 30. April 2024
Ansprachen, Reden und Vorträge von Kardinal Christoph Schönborn

Dankesworte für die Verleihung des Karlspreises 2018

Ansprache von Kardinal Christoph Schönborn, am Samstag, 19. Mai 2018, in Augsburg, im Wortlaut:

Herzlichen Dank für die große Ehre, die mir zuteil wurde.

 

Ich wurde gefragt, mit welchen Gefühlen ich den Karlspreis der sudetendeutschen Landsmannschaft entgegennehme.

 

Meine Antwort ist dreifach:

  1. Mit Dankbarkeit.
  2. Mit viel Nachdenklichkeit, persönlicher und politischer.
  3. Mit dem Bewusstsein, dass diese Verleihung einen Auftrag beinhaltet.

Nach Art. II des Statuts des Karlspreises ist „der Zweck der Verleihung der Mahnaufruf nach einer gerechten Völker- und Staatenordnung in Mitteleuropa“.

 

Gestatten Sie mir, zuerst mit dem Ausdruck der Dankbarkeit zu beginnen. Meine Dankbarkeit gilt zuerst Gott, dem ich ein Leben in Freiheit und Frieden verdanke. Kurz vor Kriegsende geboren, habe ich die Heimat nicht bewusst erleben können. Umso mehr war sie gegenwärtig in den Erzählungen und Erinnerungen der Eltern- und Großelterngeneration, über die mährische Heimat meiner Mutter; Brünn, Wischau, Ratschitz sind mir aus vielen Erzählungen vertraut, obwohl wir erst im Prager Frühling direkte Kontakte knüpfen konnten. Die böhmische Heimat des Vaters, Lukanitz bei Pilsen, Prag, Skalken bei Leitmeritz, auch davon war viel die Rede; mich hat von Jugend an die Familiengeschichte interessiert, und damit auch die Orte, wo die Familie gelebt hatte.

 

In diesen vielen Erinnerungen, Erzählungen, Fotos, Berichten, wurde meiner Generation immer auch eine Interpretation der Ereignisse vermittelt. Geschichte wird ja immer mit der Deutung vermittelt. Was war da geschehen, die Vertreibung aus der Heimat? Wie lesen wir die Geschichte, wie sprechen wir darüber? Hat sich mit den Jahren das Geschichtsbild entwickelt, verändert? Wie sehen wir heute, 73 Jahre nach den Ereignissen, was damals geschah?

 

Hier muss ich zuerst meiner Mutter tiefen Dank aussprechen. Sie hat sich viel und intensiv mit der Geschichte unserer Heimat befasst, hat die historischen, politischen und religiösen Zusammenhänge reflektiert und uns, ihren Kindern, immer ein differenziertes Bild vermittelt, in dem nicht Schwarz-Weiß-Schemata, nicht Freund-Feind-Bilder vorherrschten, sondern die Behutsamkeit im Urteil, stets der Versuch, andere Standpunkte zu verstehen.

 

Ihre politisch-historische Analyse betraf vor allem die Folgen der Schlacht am Weißen Berg (1622). Der Sieg der Habsburger, die Niederlage der Böhmischen Stände legte den Grund für Spannungen und Konflikte, die in ihrer Sicht letztlich auch zum Drama von 1945 führten. Die Habsburgische Politik privilegierte die kaisertreuen Adelsfamilien. Der enorme Großgrundbesitz von Adelsfamilien, die oft keine böhmischen Wurzeln hatten, die aber vom Kaiser für ihre Verdienste um das Herrscherhaus belohnt wurden, trug dazu bei, dass das tschechische Element stark zurückgedrängt wurde. Die Gegenreformation mit ihrer intensiven Rekatholisierung hat den alten Kern böhmischen Reformwillens (das Hussitische Erbe) nur verdeckt, aber nicht integriert. Im 19. Jahrhundert kam mit dem aufkeimenden Nationalismus mit neuer Intensität der alte Konflikt wieder hoch. Und mit ihm wuchs die deutsch-tschechische Spannung. Ich werde darauf im 2. Punkt zurückkommen.

 

In den vielen Gesprächen über die alte Heimat, über die böhmische Geschichte, über die Vertreibung, den „Odsun“ („Ausladung“) habe ich von meiner Mutter nie ein böses Wort über die Tschechen gehört. Da sie in Brünn das tschechische Gymnasium besucht hatte, spricht sie bis heute fließend Tschechisch, so gut, dass sie zu ihrem 95. Geburtstag im Tschechischen Fernsehen ein Interview gab.

 

Die Enteignung und Vertreibung des Hochadels sieht sie nüchtern, ähnlich wie Barbara Coudenhove-Kalergi in ihren Erinnerungen: Wir wurden nach der Schlacht am Weißen Berg vom Kaiser mit Gütern ausgestattet. Nun wurden uns diese wieder entzogen. Die Lage der deutschsprachigen Bevölkerung sah sie anders. Die deutschen Gebiete in den Ländern der böhmischen Krone waren seit Jahrhunderten von deutschsprachigen Böhmen und Mährern bewohnt. Ihre Vertreibung war schlicht und einfach ein Unrecht, das mit den völkerrechtlichen Mäntelchen der Aussiedlung zugedeckt wurde.

 

Aber das Entscheidende, wofür ich meiner Mutter dankbar bin, ist die gläubige Deutung der Geschichte, die wir erlebt haben. Ich möchte es in ein einfaches Wort fassen: „Der Glaube ist die Heimat hinter der verlorenen Heimat“: Wir haben die Heimat verloren, aber nicht den Glauben. Der Glaube ist uns Heimat. In Gott, in Christus, sind wir geborgen. Ich kann wohl sagen, dass ich in der Generation der Eltern und Großeltern, die die Vertreibung als Erwachsene erlitten haben, eine deutliche Vertiefung des Glaubens beobachten konnte. Der schmerzliche, brutale Verlust der alten Heimat hat bei vielen eine stärkere Hinwendung zum Glauben bewirkt. Das war nicht nur in meiner Familie so. Viele unserer Heimatvertriebenen haben aus dem Halt, den sie im Glauben hatten, ihr Schicksal bewältigt und die Kraft gefunden, ein neues Leben aufzubauen und eine neue irdische Heimat zu schaffen. Die Kirche in unseren Ländern, in Deutschland und Österreich, verdankt den Heimatvertriebenen viel durch ihren Glaubensmut, ihre Glaubenshoffnung und ihr Glaubenszeugnis.

 

So viel zum ersten Punkt, dem Dank. Ich spreche ihn gerne hier ausdrücklich aus, und darf versuchen, ihn im zweiten Punkt zu vertiefen.

 

2. Nachdenklicher Blick auf das Geschehene

 

Wie konnte es zum Odsun kommen? Zum Odsun sudetských Němců, zur „Abschiebung“ aus ihrer angestammten böhmisch-mährischen Heimat? Heute ist es möglich, über diese Ereignisse mit etwas mehr Abstand zu sprechen. Es braucht einfach Zeit, um die Geschichte gemeinsam betrachten zu können, um nicht zwei Geschichten zu schreiben, eine deutsche und eine tschechische. Allmählich wird es möglich, dass deutsche und tschechische Historiker gemeinsam die Geschichte aufarbeiten. Ein eindrucksvolles Beispiel ist Jiři Gruschas‘ letztes Buch, das nach seinem Tod veröffentlicht wurde: „Beneš als Österreicher“, Klagenfurt 2012. Der bekannte Dissident, Freund von Václav Havel, Schriftsteller, Botschafter Tschechiens in Wien und Berlin, legt hier eine scharfe, unerbittliche Abrechnung mit Edvard Beneš vor, dem er vorwirft, am Münchener Abkommen von 1938 ebenso mitschuldig zu sein, wie an der Machtübernahme der Kommunisten im Jahre 1948.

 

Ich habe mit großem Gewinn das Kapitel aus Beneš‘ Memoiren gelesen, das seine „Begründung“ für den „Odsun“ bietet. Es liest sich wie ein Regiebuch für die mitteleuropäische Tragödie. Gruša spricht vom  „ethnischen Konglomerat Mitteleuropa“ (S. 27). In diesem Konglomerat waren Sprachen, Religionen, Kulturen in einem nie spannungsfreien, aber im Großen und Ganzen gut lebbaren Neben- und Miteinander verbunden.  In den Biographien spiegelt sich dieses Vielvölkergemisch. Thomáš Garrigue Masaryk hatte eine deutsche Mutter. Beneš erzählt, Masaryk habe im 1. Weltkrieg einen hohen Wiener Beamten gefragt, was man mit den Tschechen plane, wenn der Krieg gewonnen sei. Dieser soll geantwortet haben: „Wir werden sie germanisieren!“ Umgekehrt ist das Wort der „Entgermanisierung“ sowohl von Präsident Masaryk als auch von Beneš bezeugt. Beneš am 16. Mai 1945 in Prag: „Unsere Losung muss es sein, unser Land kulturell, wirtschaftlich und politisch endgültig zu entgermanisieren“.

 

In den Memoiren von Beneš hat mich beeindruckt und erschüttert, wie sehr der Glaube an ein mögliches Miteinander zerstört war. Versuchen wir es positiv zu formulieren: in der Folge des immer radikaleren Nationalismus glaubten immer mehr Menschen, dass eine Friedenslösung nur möglich ist, wenn die Nationalitäten, die Ethnien, die Kulturen, die Sprachen, „sauber“ getrennt werden. Der maßlose Deutschnationalismus stieß auf einen immer entschiedeneren slawischen Nationalismus. Beneš kam zur fatalen Überzeugung, dass das Problem nur durch strikte, strenge Trennung zu lösen ist. Dass die Nationalsozialisten diese Überzeugung auf noch viel brutalere Weise durchzusetzen gewillt waren, sollten sie den „Endsieg“ erreichen, ist nur zu bekannt. Warum aber erhielt Beneš 1943 für seine „Transfer-Pläne“ von Präsident Roosevelt und von Großbritannien und der UdSSR die Zustimmung? Auch zur „Aussiedlung“ von 700.000 Ungarn aus der Slowakei?

 

Ich wage hier eine These, die schon zu meinem 3. Punkt überleitet. Es ist die in der Geschichte immer wiederkehrende Idee der staatlichen Einheit durch gewaltsame Vereinheitlichung. Diese Idee ist eine der großen Leidverursacher in der neueren Geschichte. Wenn es der Zweck der Verleihung des Karlspreises ist, ein „Mahnruf nach einer gerechten Völker- und Staatenordnung in Mitteleuropa“ zu sein, dann stellt sich die Frage, wie dieser Mahnruf heute formuliert werden kann.

 

3. Ein Auftrag für die Zukunft

 

Die Idee des Einheitsstaates durch die Vereinheitlichung kann hier nicht historisch entfaltet werden. Dazu fehlt mir auch die Kompetenz. Ich darf nur einige persönliche Überlegungen anstellen. Nach dem endlosen Massaker des 30-jährigen Krieges, der mit dem 2. Prager Fenstersturz begann – der 1. War jener der Hussiten von 1419 – kam es zwar im Westfälischen Frieden zu einer grundsätzlichen Toleranzbereitschaft, aber unter dem fatalen Prinzip: cuius regio eius religio.

 

Jeder Herrschaftsbereich durfte nur eine Religion haben. Dieses Prinzip bekommt in unseren Tagen wieder tragische Aktualität, wenn etwa die in Indien regierende radikale Hindupartei ganz Indien zu einem Hindustaat umwandeln will, wenn in Myanmar die Buddhisten alle Nichtbuddhisten zu Landfremden erklären und sie – wie die muslimischen Rohynga – massenweise vertreiben, oder wenn „Islamische Staaten“ jegliche Religionsfreiheit verweigern. Die Ideologie der ethnischen Vereinheitlichung hat zum unlösbaren und unlebbaren Problem des heutigen Bosnien geführt, in dem de facto eine Form des ethnical cleansing praktiziert wird. Valentin Inzko, der Karlspreisträger von 2015, kann als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, darüber sein Leid klagen. Und wie immer in der Geschichte der letzten Jahrhunderte, hat die Ideologie der Vereinheitlichung des Staates als eine der Konsequenzen die massive Vertreibung von Minderheiten zur Folge.

 

Eine weitere Folge dieser Einheit des Staates um den Preis der Vereinheitlichung ist immer ein Verlust an Freiheit. Denn Freiheit gibt es nicht ohne ein wirkliches Ja zur Vielfalt. Die „Entgermanisierung“ unserer alten Heimat, die Vertreibung von über 3 Millionen Deutschsprachigen und 700.000 Ungarischsprachigen war ein unvorstellbarer Verlust an Lebendigkeit, und das heißt immer Vielgestaltigkeit des Landes. Ganz abgesehen davon, dass eine solche Massenvertreibung ein schwerer Verstoß gegen elementare Menschenrechte darstellt, war sie auch wirtschaftlich gesehen, ein Wahnsinn. Die Folgen waren katastrophal und haben das Land auf Jahrzehnte hinaus nachhaltig beschädigt.

 

Mit der kommunistischen Machtübernahme von 1948 war die „Vereinheitlichung“ zur bleiernen Wirklichkeit geworden. Eine Partei bestimmt alles. Eine gleichgeschaltete Wirtschaft, eine gleichgeschaltete Kultur, Medien, die nur die eine „Wahrheit“ kennen dürfen, die der Partei. Dazu kam die massive Religionsverfolgung durch den atheistischen Einheitsstaat.

Ich habe mich schon früh gefragt: Wer hat das bessere Los gezogen: wir, die Heimatvertriebenen, oder die, die geblieben waren? Und ich habe mir selber schon in jungen Jahren gesagt: Es stimmt, wir haben alles verloren, aber das Wichtigste haben wir nicht verloren: die Freiheit! Meine tschechischen Verwandten, die drüben geblieben sind, haben auch alles verloren, aber dazu auch noch die Freiheit.

 

Wir wurden vertrieben, aber wir konnten in einem freien, demokratischen Land ein neues Leben aufbauen, wir konnten frei unseren Glauben praktizieren, frei unsere Ideen aussprechen, wir konnten frei über unsere Geschichte sprechen und schreiben, wir konnten aktiv am Leben unseres Landes mitwirken, am Wiederaufbau nach dem Krieg, am wirtschaftlichen Erfolg unserer neuen Heimat. Und wir gönnen den Menschen unserer alten Heimat, dass sie inzwischen, seit der „samtenen Revolution“ vom November 1989, wieder ein freies Land geworden ist. Sie wird nicht mehr unsere Heimat werden. Die Geschichte ist unumkehrbar. Das haben wir schmerzlich anzunehmen gelernt. Wir werden nicht mehr in unsere ehemaligen Dörfer und Städte zurückkehren. Wie die große Zeit des Kaisers Karl IV vorbei ist, so auch die unserer sprachlich und kulturell pluralen Heimat, die unsere Vorfahren gekannt haben.

 

Papst Franziskus hat Kindern in einem palästinensischem Flüchtlingslager den Rat mitgegeben: „Lasst niemals zu, dass die Vergangenheit euer Leben bestimmt. Blickt immer nach vorne“.

Meine Damen und Herren! Liebe Landsleute! Blicken wir nach vorne! Was sehen wir? Was fordert uns heraus?

 

Unvergesslich ist mir die erste Fahrt über die tschechische Grenze ohne Grenzkontrolle. Ich habe jahrelang von Retz aus über den Eisernen Vorhang geblickt. Für mich ist es immer noch wie ein Traum.

 

Großartig ist das Engagement so vieler für die alte Heimat. Nicht Nostalgie, erst recht nicht Ressentiments, sondern einfach gelebte Solidarität mit den Menschen, die jetzt dort leben, wo wir einmal zu Hause waren.

 

Und schließlich: eine wache Sensibilität gegen alle Tendenzen, die alten Dämonen wieder zu wecken, die das Miteinander in der alten Heimat zerstört haben: Ein Wiedererwachen des Nationalismus! Heimatliebe ist gut und notwendig. Aber Heimat darf nie zur Ausschließung werden. Sie ist immer vielgestaltig und nie nur meine Heimat.

 

Flüchtlingsschicksal! In der Bibel wird stets daran erinnert: Vergesst nicht, ihr ward Fremde in Ägypten! Deshalb betrachtet den Fremden in eurem Land als euren Nächsten!

 

André Heller hat in einer berührenden Rede zum 80. Jahrestag des „Anschlusses“ Österreichs an Hitlerdeutschland vom Mitgefühl als der „Weltmuttersprache“ gesprochen.

 

Um nochmals meine Mutter zu zitieren. In einem Interview zum 95. Geburtstag sagte sie, dass sie immer an unsere eigene Flucht denken muss, wenn sie von Flüchtlingsschicksalen heute hört. Sie war damals 25 und musste mit zwei kleinen Kindern und zwei Koffern alles verlassen. Das nicht zu vergessen, dankbar zu bleiben, im Glauben die Heimat hinter der verlorenen Heimat zu besitzen, das empfinde ich als großes Geschenk.

 

Ein wenig wollte ich dieses Geschenk mit Ihnen teilen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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