Spiritualität boomt. Innere Balance, Achtsamkeit, Stille, Meditation – spirituell sein ist eine Kraftquelle und trägt zu einem glücklichen Leben bei. Das wussten schon Heilige und Mystiker*innen. Und das fasziniert auch junge Menschen heute. Aber was versteckt sich alles hinter dem Begriff?
von Doris Schmidt und Katja Polzhofer
Was genau ist also Spiritualität? Etwas für Gurus und Asketen? Für religiöse Expert*innen? Für religiöse Spinner und Abgehobene?!
Spiritualität gibt es nicht nur im Christentum, sondern auch in anderen Religionen und sogar in Weltbildern, die sich nicht direkt als religiös verstehen. Zunächst ein paar Gemeinsamkeiten, die wir in allen Ausprägungen von Spiritualität finden:
Das Wort selbst leitet sich vom Lateinischen spiritus ab. Das heißt „Geist“ oder „Hauch“. In der Wortbildung „Spiritualität“ meint das: Neben der materiellen Welt gibt es eine (geistige, nichtmaterielle) Wirklichkeit, die den Menschen übersteigt (Transzendenz).
Grenzen überschreiten – verbunden sein
Menschen fragen und denken über sich hinaus: „Warum bin ich da? Bin ich gewollt? Woher kommt das Leben? Was bin ich wert? Was ist gut?” Gleichzeitig fühlen manche sich verbunden: mit der Natur, dem Universum, mit sich selbst, mit den Mitmenschen und auch mit einer „höheren” Kraft. Damit kann ein göttliches Wesen gemeint sein (wir sagen Gott), eine andere höhere Macht oder Energie, übersinnliche Erfahrungen oder das Erlebnis von Stille und innerem Frieden. Zu Spiritualität zählen Lebenseinstellungen und Praktiken, die solche Erfahrungen fördern, wie Meditation und Yoga, aber auch Engelsglaube oder Okkultismus – und im christlichen Kontext Gottesdienst, Gebet oder Pilgern.
Hinter all diesen Ausdrucksformen steht eine Sehnsucht, die alle Menschen verbindet: nach Glück, Sinn und erfülltem Dasein. Und die Überzeugung: Wenn ich mit dieser Wirklichkeit in Kontakt komme (mich selbst überschreite), dann erlebe ich Verbundenheit und Glück.
Spiritualität – offene Sinne, offenes Herz
Spirituelle Menschen versuchen, wach und offen zu bleiben und ihre Sinne zu schärfen für die Wirklichkeit, die sie umgibt. Sie üben zum Beispiel Sehen, Hören, Fühlen und Schmecken, weil sie das Leben spüren möchten. Weil sie verstehen möchten, was ihre Aufgabe in der Welt ist. Spirituelle Menschen üben Danke sagen. Wer sehen lernt, womit er beschenkt wird, wird reicher und glücklicher.
So gesehen ist eine spirituelle Praxis ein guter Wegweiser zu einem erfüllteren Leben – und nicht bloß etwas für Expert*innen!
Und Gott kommt gar nicht vor?!
Eine christliche Spiritualität bezieht sich auf die Wirklichkeit Gottes in seiner Dreieinigkeit. Sie spiegelt sich in einem lebendigen und vom Heiligen Geist gewirkten (Glaubens-)leben wider, mit Jesus Christus als verbindende und tragende Mitte.
Jeder Lebensweg ist unterschiedlich, weil wir alle individuell sind. So ist es auch mit der christlichen Spiritualität. Der Geist Gottes lässt sich nicht festlegen, sondern artikuliert sich bei jeder und jedem von uns anders. Daher gibt es auch keine „falsche“ oder „richtige“ Spiritualität. Aufgrund dieser Tatsache dürfen wir auch nicht andere verurteilen, weil sie ihren Glauben anders leben. Im Gegenteil: Wir sollten eine Haltung der Offenheit und der Wertschätzung an den Tag legen für jede spirituelle Form – unabhängig davon, ob sie aus unserer eigenen Reihe, einer anderen Religion stammt oder konfessionslos ist.
Grundsätzlich öffnen wir uns in einer christlichen Spiritualität auf den Gott des Lebens hin, der mit uns durch den Alltag geht. Dieser wichtige Bezug macht christliche Spiritualität lebensnah, echt und praktisch. Sie liefert ein „solides Handwerk“, das sich in unsere alltägliche Wirklichkeit einfügt.
Ganz alltäglich
Auch in der Bibel begegnet uns die Spiritualität, wenngleich nicht wörtlich davon die Rede ist. Vielmehr erzählt die Bibel davon, wie der Geist Gottes im alltäglichen Leben der Menschen präsent ist. Besonders in den Berufungsgeschichten der vielen Frauen und Männer der Bibel wird diese enge Beziehung zu Gott deutlich (z.B. Mose, Samuel, Hanna).
Auch wir dürfen in dieser von Gott erfüllten Wirklichkeit leben und Geborgenheit finden, weil es sein Geist ist, der uns dazu befähigt. Das verdeutlichen auch die Psalmen: „Die Weisung seines Gottes trägt er im Herzen. Nichts bringt seine Schritte aus dem Tritt.“ (Psalm 37,31)
Ein Blick in die Kirchengeschichte
Spiritualität fügt sich in die Wirklichkeit des Alltags ein. So auch bei Teresa von Ávila (1515–1582), wenn sie vom „Herrn der Töpfe und Pfannen” spricht. Zugleich hat Spiritualität auch immer etwas mit der eigenen Persönlichkeit und Entwicklung zu tun. Darauf macht uns Bernhard von Clairvaux (1090–1153) aufmerksam: „Du musst nicht über Meere reisen, musst keine Wolken durchstoßen und musst nicht die Alpen überqueren. Der Weg, der dir gezeigt wird, ist nicht weit. Du musst deinem Gott nur bis zu dir selbst entgegengehen.“
Der Aspekt der Gemeinschaft und der Verbindung zu anderen Menschen und der Schöpfung fehlt trotzdem nicht, wie es Johannes vom Kreuz (1542–1591) beschreibt: „Es kommt darauf an, beziehungsfähig zu werden nach dem Maße Gottes, beziehungsfähig zu Vater, Sohn und Geist, zu jedem Mitmenschen, zu aller Schöpfung.“
Der kurze Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass Spiritualität lebendig und vielfältig ist. Dennoch gibt es einen wesentlichen Punkt, der alle Spiritualität eint: Spiritualität ist Begegnung.
Madeleine Delbrêl (1904–1964), eine Schriftstellerin und katholische Mystikerin, schreibt:
Geht in euren Tag hinaus ohne vorgefasste Ideen,
ohne die Erwartung von Müdigkeit,
ohne Plan von Gott, ohne Bescheid wissen über ihn,
ohne Enthusiasmus,
ohne Bibliothek –
geht so auf die Begegnung mit ihm zu.
Brecht auf ohne Landkarte –
und wisst, dass Gott unterwegs zu finden ist,
und nicht erst am Ziel.
Versucht nicht, ihn nach Originalrezepten zu finden,
sondern lasst euch von ihm finden in der Armut eines banalen Lebens.
Spiritualität ist eine Reise
Spiritualität ist ein fortlaufender Prozess. Sie ist wie eine lebenslange Reise, auf die wir uns neugierig einlassen dürfen. Wir wissen nicht, wer und was uns alles auf dieser Reise begegnen wird. Es wird intensive Zeiten und Herausforderungen geben, aber auch intime und schöne Momente. Alle Erfahrungen und Begegnungen, die wir auf dieser Reise machen werden, schenken uns die Möglichkeit des persönlichen Wachstums. Alles darf, nichts muss!
So dürfen wir auch in aller Freiheit Gott immer mehr entdecken und immer mehr in seine Liebe eintauchen.
Quellen:
Gabriele BUSSMANN, Spiritualität, in Angela KAUPP, Gabriele BUSSMANN, Brigitte LOB, Beate THALHEIMER (Hgg.), Handbuch Schulpastoral. Für Studium und Praxis, Freiburg im Breisgau, 108–120, hier: 109–110.
Josef SUDBRACK, Spiritualität. Begriff, in: LThK3 9, Sp. 852–853 hier: 852.
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