Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 18. Mai 2025
Diese beiden Worte bilden die Kernbotschaft Jesu. Papst Leo XIV. wird sie uns immer neu in Erinnerung rufen, wie es seine Vorgänger getan haben. Heute, am Tag seiner offiziellen Amtseinführung, sind sie die Mitte des Sonntagsevangeliums: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander!“ Was wird Papst Leo XIV. darüber Neues sagen? Alle sehnen wir uns nach Liebe. Wer kann etwas gegen eine solche Botschaft haben? Und doch hat Jesus sie „ein neues Gebot“ genannt. Was selbstverständlich ist, braucht nicht geboten zu werden. Liebe kann man nicht befehlen. Man kann sie nur leben und vorleben. Woran kann man aber messen, ob man dieses „neue Gebot“ erfüllt? Schon im Alten Testament steht dafür ein Richtmaß, das Jesus wiederholt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Wir sollten nicht nur einander lieben, sondern auch uns selbst. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir uns selber lieben.
Lieben heißt, den anderen bejahen und annehmen. Sich selber lieben bedeutet also, sich selber annehmen. Das ist oft mindestens so schwer wie die Annahme der anderen. Wie oft bin ich mit mir selber unzufrieden, bin mir unerträglich, finde mich nicht liebenswert, leide an meinen Fehlern! Ein Zu-Wenig an Selbstliebe ist oft die Ursache von Beziehungsstörungen. Wer sich selber nicht mag, wird sich schwertun, andere zu mögen. Es gibt aber auch die andere Fehlform: die Selbstverliebtheit! Wer sich selbst für den besten Menschen hält, wird Kritik kaum ertragen, wird andere geringschätzen, verachten. Er wird unfähig sein, den anderen „auf Augenhöhe“ zu begegnen.
Das neue Gebot Jesu enthält ein Schlüsselwort: „Liebt einander!“ Liebe gibt es nur als gegenseitige. Deshalb macht uns nur die Liebe fähig zur Begegnung. Wie will ich anderen Menschen begegnen, wenn ich mich nicht für sie interessiere, sie verachte? Vorurteile hindern uns an echten Begegnungen. Es sind meist Vorverurteilungen.
„Liebt einander!“ – wie soll das gelingen? Jesus gibt dafür eine Art Gebrauchsanweisung: „Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.“ Hier liegt der Schlüssel, der allein die Tür zur Liebe öffnen kann: Ich kann nur lieben, wenn ich zuerst geliebt worden bin. Wer als Kind wenig oder gar keine Liebe erfahren hat, wird sich selber schwertun, Liebe zu schenken, es sei denn, er macht die Erfahrung, von der Jesus spricht: „Wie ich euch geliebt habe …“
Papst Leo XIV. bringt es mit einfachen Worten auf den Punkt: „Gott liebt uns, Gott liebt euch alle, und das Böse wird nicht siegen!“ Wir sind von Gott zuerst geliebt, bejaht, vor allen unseren Leistungen, bedingungslos.
Das Wort Jesu „Liebt einander“ steht nicht allein im Raum. Jesus sagt es, als eben Judas weggegangen ist, um ihn zu verraten. Jesus weiß, was ihm bevorsteht: das grausame Kreuz. „Jetzt ist Gott verherrlicht“, sagt Jesus im Blick auf seinen Tod. Jesus hat nicht den Weg von Hass, Krieg und Gewalt gewählt. Er hat, wie Paulus sagt, den Hass durch sein Kreuz getötet. Woran erkennt man, ob wir den Weg Jesu gehen? „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“ Glaubhaft ist nur die Liebe.