Im Psalm 8 der Bibel heißt es: "Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? Oder des Menschen Kind, dass du dich seiner annimmst? Wenig geringer als Engel hast du ihn gemacht, mit Ehre und Herrlichkeit ihn gekrönt und ihn über die Werke deiner Hände gesetzt. Alles hast du ihm unter die Füße gelegt" (Ps 8,5-7).
Die Bibel sieht den Menschen in einer einzigartigen Position: "Es ist fast einmütige Auffassung der Gläubigen und der Nicht gläubigen, dass alles auf Erden auf den Menschen als seinen Mittel- und Höhepunkt hin zuordnen ist" (Gaudium et spes 12,1). Der Mensch - die Krone der Schöpfung Gottes! Diese einmalige Würde kommt dem Menschen zu, da er, nach dem Bericht der ersten Seite der Bibel (Gen 1,26), als einziges unter allen Lebewesen "nach dem Bild Gottes" geschaffen ist. Der Mensch ist deshalb, so sagt das Konzil, "fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von dem er zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt ist, um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen" (Gaudium et spes, 12).
Im biblischen Verständnis ist der Mensch der "Vezier" Gottes in der Welt, sein Beauftragter, sein Mandatar. Sein Auftrag ist ein doppelter: er hat diese Welt zu gestalten. Und er hat ein transzendentes Ziel zu erreichen, das ewige Leben, die Seligkeit in Gott. Schon durch seine Doppelnatur, aus Leib und Seele einer zu sein (vgl. GS 14), zeigt sich, dass der Mensch "Bürger zweier Welten" ist, dieser irdischen Welt, in der sich unser zeitliches Leben abspielt, und der jenseitigen Welt Gottes, in der nach dem biblischen Zeugnis die wahre und endgültige Heimat des Menschen liegt.
"Der Mensch überragt unendlich den Menschen" sagt ein berühmtes Wort von Blaise Pascal, dem französischen Philosophen und Mathematiker (1623 - 1662). Als freies Wesen, von Gott mit Geist, Seele, freiem Willen und Gewissen beschenkt, ist der Mensch immer mehr als nur ein Erdenbürger. Er hat sich ganz, mit allen Kräften, seinen irdischen Aufgaben zu widmen. Aber er geht nicht ganz in ihnen auf. Sie sind nicht der einzige Lebenssinn. Das ewige Ziel bleibt in allen irdischen Dingen der Horizont, die Dimension, die das Leben offenhält auf seine größere, ewige Bestimmung hin.
Jeder Versuch eines Staates, den Menschen ganz in Beschlag zu nehmen, ist daher abzulehnen. Wir sind Bürger unseres Landes, wir sind Bürger unseres Staates, aber der Staat hat kein Anrecht auf unsere Seelen. Er muss unser Gewissen achten. Unsere Seelen sind für Gott bestimmt, nicht für den Staat. Die Gemeinschaft des Staates darf vom Einzelnen die notwendigen Solidarleistungen fordern, aber nicht den Verzicht auf das eigene Gewissen.
Die Lehre vom Gewissen und seiner Würde ist ein wesentlicher Teil der Lehren des II. Vatikanischen Konzils. Sie ist auch die Grundlage für das so zentrale Thema der Religionsfreiheit. Was ist das Gewissen? "Es ist die verborgene Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist" (GS 16). Diese innere Stimme sagt mir: Tu dies, meide jenes! Diese Stimme gibt mir Zustimmung, wenn ich das Gute tue. Sie tadelt mich, wenn ich gegen das Gute handle.
Ist die Betonung des Gewissens nicht in Gefahr, Subjektivismus und Beliebigkeit zu fördern? Wenn jeder sich auf sein Gewissen beruft wie auf eine letzte Instanz, entsteht dann nicht ein willkürliches Chaos? Gerade bezüglich der Religionsfreiheit stellt sich diese Frage. Darf, muss ich das Gewissen des anderen respektieren, wenn er im Irrtum ist? Die Frage stellte sich in den Religionskonflikten Europas: Wenn ich überzeugt bin, dass die andere Religion im Irrtum ist, wie kann dann dieser Irrtum toleriert werden?
Der "Katechismus der Katholischen Kirche"; eine umfassende Darstellung der Katholischen Lehre, sagt dazu: Die Religionsfreiheit sei nicht "ein Recht auf Irrtum", sondern " sie ist ein natürliches Recht des Menschen auf die bürgerliche Freiheit, das heißt darauf, dass im religiösen Bereich - innerhalb der gebührenden Grenzen - von der politischen Gewalt kein äußerer Zwang ausgeübt wird" (KKK 2108). Dieses natürliche Recht müsse im staatlichen Recht verankert werden. Mit anderen Worten: niemand darf zu einer Religion gezwungen oder an der privaten und öffentlichen Ausübung seiner Religion gehindert werden. Nicht umsonst war deshalb die Religionsfreiheit das Herzstück in der Entwicklung der Menschenrechte.
Die Katholische Kirche ist aber auch zuversichtlich, dass die Gewissens- und Religionsfreiheit nicht zu einem willkürlichen Chaos führt. Im Gegenteil: die Treue zum Gewissen ist geradezu die Voraussetzung für ein gutes Zusammenleben der Menschen, auch der verschiedenen Religionen. Wer aufrichtig seinem Gewissen folgt, wird mit anderen Menschen guten Willens gute Lösungen für die Probleme unserer Zeit suchen und die in allen Menschen im Gewissen verankerten objektiven Normen befolgen, zum Wohl der Allgemeinheit. Ich nehme, als aktuelles Beispiel, die Zusammenbrüche ganzer Großbanken. Die hemmungslosen Spekulationen mit dem Geld anderer Menschen sind sicher Fehlentwicklungen, die nur dort möglich sind, wo Menschen nicht mehr auf die Stimme ihres Gewissens hören. Deshalb ist die Bildung und Sensibilisierung des Gewissens eine vorrangige Aufgabe für ein gutes Zusammenleben. Gewissenlose Machtmenschen haben immer wieder die Menschheit gefährdet. Ist Gewissensbildung nicht eine vorrangige gemeinsame Aufgabe der Religionen? Gerade deshalb muss der Staat ihnen die notwendige Freiheit sicherstellen. In Österreich hat die Kirche nach den schrecklichen Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges als ihre Leitidee formuliert: "Die freie Kirche im freien Staat".