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Sozialer Zusammenhalt und gegenseitige Fürsorge sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern müssen bewusst gepflegt werden. Das hat Kardinal Christoph Schönborn im Interview in der Festschrift zu 150 Jahre "Haus der Barmherzigkeit" eingefordert. "Ein Land aus Egoisten wird keine gute Zukunft haben", so der Kardinal. Schönborn zeigte sich zudem auch sehr besorgt über den zunehmenden Druck auf ältere Menschen, "freiwillig" aus dem Leben zu scheiden und kritisierte mit deutlichen Worten die latente oder auch offene Ausländerfeindlichkeit im Land.
"Wir haben uns in unserer Gesellschaft angewöhnt, zu glauben, dass all die Dinge, an denen wir uns in unserem Land erfreuen dürfen, selbstverständlich sind", so der emeritierte Wiener Erzbischof, der dies am Beispiel des Steuerzahlens erläuterte: "Natürlich haben wir in Österreich hohe Steuern. Aber wir haben auch weltweit eines der besten medizinischen Versorgungssysteme, eine hervorragende Infrastruktur, einen funktionierenden Sozialstaat, eine gute Sozialpartnerschaft." All diese Dinge betrachte man in Österreich als normal, sie seien es aber nicht "wenn man nur ein bisschen in der Welt herumschaut".
Ähnlich sei es mit der Kirche: "Wir halten es für selbstverständlich, dass es den Stephansdom gibt, dass es unsere Stifte gibt, dass es die karitative Tätigkeit der Caritas und der kirchlichen Einrichtungen gibt. Dass dahinter aber auch ein Engagement steht, wird von vielen Menschen in unserem Land einfach vergessen."
Wer wenig Bezug zur Kirche hat, trete aus ihr aus, "nicht bedenkend, dass unser Land und sein soziales Niveau, aber auch seine religiöse Toleranz und sein Grundwasserspiegel an Mitmenschlichkeit gepflegt werden müssen", bedauerte der Kardinal. Es sei nun einmal die Aufgabe des christlichen Glaubens, diesen Grundwasserspiegel des gesellschaftlichen Zusammenhalts, des Mitgefühls und der sozialen Nähe aufrechtzuerhalten.
Schönborn: "Wir sind solche Individualisten geworden in unserem Land, in unserem Wohlstand, dass wir das Soziale der Kirche zwar nach wie vor für selbstverständlich halten, viele aber nicht mehr bereit sind, das Ihre dazu beizutragen." Das mache ihm Sorge für die Zukunft des Landes, "denn ein Land aus Egoisten wird keine gute Zukunft haben". Vielmehr gelte: "Ein Land, in dem Menschen sich, Gott sei Dank, immer noch sehr, sehr viel engagieren für das Wohl der anderen, das ist ein Land, das Zukunft hat. Aber das muss gepflegt werden."
So wolle er zugleich dankbar feststellen, "dass es sehr, sehr viel ehrenamtlich tätige Menschen in unserem Land gibt". Es brauche das ehrenamtliche Engagement. Schönborn: "Laut Statistik Austria wurden in Österreich 2021 insgesamt 470 Millionen Arbeitsstunden von Menschen ehrenamtlich geleistet. Das ist ein großes Hoffnungszeichen."
Für den Bereich der Pflege würdigte der Kardinal den Einsatz der Familienangehörigen: "Diese familiäre Fürsorge füreinander ist so wichtig wie die Wurzeln für den Baum. Die Wurzeln sieht man nicht, aber der Baum könnte ohne sie nicht bestehen."
Er denke zudem auch, so der Kardinal, "dass in unserem Land die Leistungen der Mütter für die Erziehung durchaus noch besser honoriert werden könnten". Es seien aber auch Dinge umgesetzt worden, etwa die Pflegekarenz: "Das ist eine sehr begrüßenswerte Einrichtung." Die Wahrnehmung dafür, dass die familiäre Sorge für die Angehörigen eine so tragende Rolle in Österreich hat, sei schon vorhanden, es sei aber trotzdem immer wieder gut, daran zu erinnern.
Ausdrücklich würdigte der Kardinal den Beitrag der Migranten für das Pflegesystem: "Bei allen politischen Debatten, die unser Land immer wieder heimsuchen, fehlen mir die deutlichen Gegenstimmen, wenn von 'Austria first' und ähnlichen Slogans die Rede ist. Was wäre Österreich heute ohne die vielen Arbeitskräfte in allen Bereichen, die wir dank der Immigration haben? Ob das der Bau ist, das Gastgewerbe oder der Pflegebereich."
Man brauche nur die Augen und Ohren zu öffnen, um festzustellen, "wie unsere Pflegesituation ohne die vielen Frauen und Männer wäre, die ihre Heimat verlassen haben, um hier Arbeit zu finden und uns diesen Dienst zu leisten". Deshalb halte er latente Ausländerfeindlichkeit für einen "Schuss ins eigene Knie".
Schönborn: "Wie schaut denn unser Land aus, wenn die Basisdienste in der Gesellschaft von vielen eigenen Leuten nicht mehr erledigt werden - oder zumindest viel zu wenig? Da sind wir darauf angewiesen, dass Menschen aus anderen Ländern bei uns Arbeit suchen." Er vermisse aber oftmals Dankbarkeit diesen Menschen gegenüber, so der Kardinal: "Was ist das für ein unglaublicher Wert! Wenn der in Österreich nicht geschätzt wird, dann werde ich zornig. Das halte ich für empörend und beschämend und zutiefst undankbar."
Zur Frage, ob Alter und Gebrechlichkeit in der heutigen Gesellschaft zu sehr verdrängt werden, meinte der Kardinal: "Verdrängen nützt nichts. Altern ist eine Selbstverständlichkeit, wenn wir am Leben bleiben." Zugleich warnte Schönborn vor einem zunehmenden gesellschaftlichen Druck auf die ältere Generation: "In Belgien, in den Niederlanden, in Spanien, überall ist das Thema Euthanasie massiv im Vormarsch." Das sei verbunden mit sozialem Druck, "die Alten werden ein Kostenfaktor großen Ausmaßes, sie haben nicht genügend Nachwuchs in den eigenen Familien, der für sie sorgen würde".
Auch in Österreich werde dieser Druck in Richtung Euthanasie noch stärker werden. "Es gibt genügend Gruppen und genügend Bestrebungen, den Weg von Holland, Belgien und Spanien auch bei uns zu beschreiten", warnte Schönborn.
Gott sei Dank habe der österreichische Gesetzgeber in dem vom Verfassungsgerichtshof geforderten Gesetz des assistierten Suizids einen sehr starken Akzent auf die finanzielle Ausstattung der Hospizbemühungen gesetzt. Das sei ein wichtiger Punkt, betonte der Kardinal: "Ich bin sehr dankbar, dass der Gesetzgeber nicht einfach nur in Richtung assistierter Suizid tätig geworden ist, sondern mindestens ebenso, wenn nicht sogar mehr, in Richtung Ausbau der Palliativmedizin und der Hospizmöglichkeiten." Damit sei ein würdiges, menschliches Sterben weiterhin möglich. "So sehr ich die Öffnung in Richtung assistierten Suizid bedauere, so sehr begrüße ich die bessere finanzielle Ausstattung der Hospizbewegung", schloss Schönborn.