Montag 6. Mai 2024
Wenn das Weizenkorn nicht auf die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es reiche Frucht
Joh. 12, 24
Katechesen von Kardinal Christoph Schönborn

3. Katechese: Jesu strenge Barmherzigkeit

Wortlaut der 3. Katechese zum Thema Barmherzigkeit von Kardinal Christoph Schönborn am Sonntag, 9. Dezember 2007, im Dom zu St. Stephan.

Die Barmherzigkeit gilt zweifellos zu Recht als Mitte von Jesu Verkündigung, ist geradezu das Kennzeichen seiner Person. Aber worin besteht sie? Wie drückt sie sich aus? Wie füllt Jesu Person und Gestalt den Begriff der Barmherzigkeit mit Inhalt?

 

In ihm kommt Gottes Barmherzigkeit uns nahe. In ihm "besucht" sie uns, wie Zacharias, der Vater des Johannes, nach dessen Geburt singt: "Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das ausstrahlende Licht aus der Höhe" (Lk 1,78). Christus ist dieser "oriens ex alto", dieses aufstrahlende Licht aus der Höhe; in ihm kommen, so heißt es wörtlich, "die Eingeweide des Erbarmens Gottes" zu uns. Dieser Hebraїsmus erinnert an die biblischen, alttestamentlichen Ausdrücke für Gottes Erbarmen: Der Sitz des Erbarmens sind die rahamim, die Eingeweide, bzw. der rehem, der Mutterschoß. Gottes Erbarmen ist so tief wie die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, ja noch tiefer. Bei Jesaja heißt es: "Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und selbst, wenn sie ihr Kind vergessen würde: Ich vergesse dich nicht" (Jes 49,15).

 

I.
Jesu Sendung ist Ausdruck dieses mütterlichen Erbarmens Gottes. Sein Kommen ist das Geschenk von Gottes treuer Barmherzigkeit. Maria besingt sie im Magnificat, als sie bei Zacharias und Elisabeth, ihrer Verwandten, zu Besuch ist: "Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten" (Lk 1,50: "misericordia eius a progenie in progenies super timentes eum"). Im Hintergrund steht hier der Begriff hesed, der gemeinsam mit dem Wort rahamim die alttestamentliche Rede von Gottes Barmherzigkeit bestimmt.
Hesed bezeichnet "eine tief verwurzelte Haltung von Güte". In dem, was hesed bedeutet, geht es nicht nur um liebevolle, gütige Zuwendung, sondern um etwas höchst Verbindliches. In seiner Enzyklika "Dives in misericordia" beschreibt Papst Johannes Paul II. diese Bindung: "Wenn sich diese zwischen zwei Menschen entwickelt, sind sie nicht nur einander wohlwollend gesinnt, sondern auch einander treu, und zwar aufgrund einer inneren Verpflichtung, also aufgrund einer Treue zu sich selbst" (§ 4, Anm. 52).

 

Beide Worte, hesed und rahamim, bezeichnen Gottes Barmherzigkeit, das eine betont mehr die männlichen Charakterzüge der Treue, das andere mehr die Mutterliebe. Die göttliche Barmherzigkeit ist eine tiefe, völlige Zuwendung, die verbindlich, dauerhaft, treu und ganz personal dem gilt, dem sie sich zuwendet. Nichts wäre ihr fremder als ein vages "Allerweltsgefühl" des Wohlwollens. Wem Gott Seine Barmherzigkeit zuwendet, der ist als Person unverwechselbar gemeint, angesprochen, geliebt. Die Barmherzigkeit macht den, dem sie gilt, nicht zu einem "Objekt", sondern sie berührt die Person in ihrer Mitte, in ihrer Würde.

 

Jesus ist gewissermaßen die "Inkarnation" von Gottes Erbarmen. In ihm wendet Gott sich nicht "der Menschheit" (als abstrakter Größe) zu, sondern jedem Menschen. Er hat mir Barmherzigkeit erwiesen. Durch Christus werde ich zum wirklichen Du der Zuwendung Gottes. Die Kehrseite davon ist, dass ich wirklich angesprochen bin. Wer in Christus der Barmherzigkeit Gottes in Person begegnet, ist persönlich betroffen und damit auch herausgefordert. Sie lässt nicht neutral.

 

II.
Die Betrachtung einiger Szenen des Evangeliums soll uns dieser persönlich ansprechenden und herausfordernden Dimension der Barmherzigkeit näher bringen können. Ich beginne mit einer Stelle aus dem Lukas-Evangelium:

 

"Einige Zeit später ging er in eine Stadt namens Naïn; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre hin und fasste sie an. Die Träger blieben stehen, und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück" (Lk 7,11-15).

 

Im Griechischen heißt es "esplanchnisthe ep' autä": Er war bis ins Innerste über sie von Mitleid bewegt, bis in seine "Eingeweide" (splanchnia) "tief berührt". Immer wieder diese Reaktion Jesu: Er sieht Leid und geht nicht daran vorbei, bleibt nicht neutral. Es ist ihm nicht egal. Das hat sich bei seinen Jüngern eingeprägt als unübersehbarer Zug, zuerst an Jesu Verhalten, dann in seinen Worten. Auch dazu einige Beispiele: Ganz am Anfang in Galiläa bittet ein Leprakranker kniefällig: "Wenn du willst, kannst du mich rein machen". Von Mitleid ergriffen (splanchnistheis) streckt Jesus die Hand aus, berührt ihn und spricht: "Ich will, sei rein" (Mk 1,41-42).

 

Auf dem Weg nach Jerusalem in Jericho flehen zwei Blinde Jesus lautstark um Hilfe an. Wieder ist er "bis ins Innerste von Mitleid ergriffen (splanchnistheis)" und schenkt ihnen das Augenlicht (Mt 20,34).

 

Die erste Begegnung mit Jesu Barmherzigkeit ist die des einfachen, elementaren Mitfühlens mit dem Leiden anderer: einer Witwe, die auch noch ihren einzigen Sohn verliert, der ihr ganzer Schutz und Schirm war; ein von der Lepra verstümmelter Ausgestoßener, dessen Anblick Grauen und Entsetzen auslöst; zwei Blinde, die mit ihrem Geschrei den Gesunden auf die Nerven gehen. Jesus geht nicht vorbei, schaut nicht weg, sondern lässt das Leid an sich herankommen. Er wendet sich den Leidenden zu, berührt sie (auch wenn es vom Ritualgesetz verboten ist, wie bei den Leprakranken).

 

III.
Ist Jesu Erbarmen eine natürliche menschliche Haltung? Eine spontane Regung, die eigentlich in jedem Menschen sein müsste, wenn wir einem echten Leid begegnen? Oder ist das nur eine von Jesus (und dem Christentum in seiner Folge) verbreitete Haltung, die spezifisch für seine Sicht ist? Ist Erbarmen "ur-menschlich" oder (nur) "ur-christlich"?

Friedrich Nietzsche sieht darin die schädliche, lebensfeindliche Haltung des Christentums. In seinem Spätwerk "Antichrist" schreibt er: "Die Schwachen und Missratenen sollen zugrunde gehen: erster Satz unserer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen. Was ist schädlicher als irgendein Laster? - Das Mitleiden der Tat mit allen Missratenen und Schwachen - das Christentum" (Schlechta-Ausgabe Bd. 4, 1980, S 1165f).

 

Der Text schockiert, weil er so direkt ist. Aber ist die Forderung nach aktiver Sterbehilfe nicht eben die genaue Umsetzung dessen, was Nietzsche im Protest gegen das Christentum "den ersten Satz unserer Menschenliebe" nennt? Wenn heute die Trisomie, das Down-Syndrom schon im Mutterschoß diagnostiziert werden kann und damit der Druck auf die Eltern wächst, ein behindertes Kind doch nicht auf die Welt zu bringen, sondern abzutreiben, dann ist Nietzsches Forderung erfüllt, man solle den Schwachen und Missratenen auch noch dazu helfen, dass sie zugrunde gehen.

 

Was ist Barmherzigkeit? Ist es nicht viel barmherziger, einen unheilbar Kranken zu töten, als die aus dem jüdisch-christlichen Ideal erwachsene Haltung, die das Leben trotz Leiden erhält? Wie steht es um Jesu Barmherzigkeit? Hat er da etwas Neues vom Himmel mitgebracht, die Offenbarung eines barmherzigen Gottes, die gegen alles (oder vieles) menschliche Empfinden läuft? Ist es natürlich, mit einem Leprakranken Erbarmen zu haben, oder ist es "übernatürlich", nur gnadenhaft zu verstehen? Oder ist es widernatürlich, ja widerlich, wie Nietzsche es sah?

 

Ich versuche eine erste Antwort.

 

Jesu Erbarmen mit den Notleidenden jeder Art hat eine im Menschen grundgelegte Basis, eine natürliche, emotionale, spontane Grundlage. Aber es geht deutlich über diese hinaus. Jesu Zuwendung ist zwar auch emotional, aber nicht nur. Sie hat ein starkes Willensmoment, sonst könnte sie den Widerwillen, den die Begegnung mit einem Leprakranken in unserer Emotion auslöst, nicht überwinden. In diesem Willen zur Zuwendung liegt auch ein Vernunftelement: im anderen nicht die abstoßende Krankheit zu sehen, sondern den Menschen, der an dieser schrecklichen Krankheit leidet. Weil er ein Mensch ist, fühlt Jesus mit ihm. Mit-Leid heißt ja, sich in das Leid des anderen hineinfühlen, ihn als ein anderes Ich zu sehen, ihn als Mit-Menschen wahrzunehmen und anzunehmen. Das wird Jesus in den Gleichnissen immer wieder zur Sprache bringen, und besonders in der sogenannten "Goldenen Regel", die sowohl vernünftig wie emotional einsichtig ist: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun; denn das ist das Gesetz und die Propheten" (Mt 7,12).

 

Doch Jesu Barmherzigkeit geht über dieses natürliche Grundmaß noch hinaus - das werden wir in der nächsten Katechese behandeln. Unsere Barmherzigkeit soll so sein wie die Gottes selbst. Was Jesus uns da zumutet, ist sicher mit unseren natürlichen Kräften nicht erreichbar. Das überfordert uns, ist ohne die kräftige Hilfe von oben nicht zu verwirklichen. Das wird etwa in der Barmherzigkeit den Feinden gegenüber deutlich, doch davon später.

Es gibt eine in der menschlichen Natur angelegte Grundform der Barmherzigkeit, die auch in Jesu Erbarmen als etwas wahrhaft Menschliches sichtbar wird. Bei der Begegnung mit Leidenden Mitleid zu empfinden, ist nicht nur eine vom Christentum geprägte Verhaltensform, auch wenn das Christentum darauf einen stark gestaltenden Einfluss hatte.

Wir empfinden es zu Recht als eine unangemessene Reaktion, wenn jemand auf Leid völlig gefühllos reagiert. Hätte Jesus die Tränen der Witwe von Naïn verspottet, empfänden wir dies als skandalös. Gefühle sind nicht rein subjektiv, sie haben ihre Angemessenheit. Vor Erschreckendem zu erschrecken, bei einem traurigen Anlass mitzutrauern, bei einem schrecklichen Unfall erschüttert zu sein, in einem guten Kabarett zu lachen - all das ist angemessen, das Gegenteil empfinden wir als unpassend.

 

Die neuere Gehirnforschung bietet hier eine spannende, inzwischen auch populärwissenschaftlich zugängliche physiologische Grundlage. Die sogenannten Spiegelneuronen im Gehirn bewirken, dass wir bei Schmerz, den wir bei anderen sehen, selber zusammenzucken, als träfe er uns selber. Joachim Bauer, Professor für Psychoneurologie in Freiburg, hat dies in seinem Buch "Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone" (Hamburg 2005) verständlich dargestellt. Es ist hilfreich, diese Forschungen wenigstens in groben Zügen zu kennen, um zu sehen, wie tief die Barmherzigkeit in die menschliche Natur eingesenkt ist. Nicht umsonst setzen wir Unbarmherzigkeit und Unmenschlichkeit gleich.

 

IV.

 

Kehren wir zur Barmherzigkeit Jesu zurück. Je mehr ich versuche, über sie nachzudenken, sie zu meditieren, desto geheimnisvoller wird sie mir und desto anspruchsvoller, manchmal auch schwerer verständlich.

 

Eine erste Frage: Hat Jesus sich einzelner erbarmt oder aller? Musste er als Mensch nicht auswählen? Jesus hat viele geheilt, manchmal heißt es sogar, er habe alle Kranken geheilt, die man an bestimmten Tagen zu ihm brachte (vgl. z.B. Mt 8,16; 14,14). Aber wie viele blieben doch mit ihren Krankheiten übrig! Jesus hat das ausdrücklich zur Sprache gebracht. Als er in Nazareth in der Synagoge sprach, waren die Mitbürger über seine Worte so empört, dass sie ihn umbringen wollten. Da sagte er: "Viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman" (Lk 4,27), d.h. ein Heide. Jesus hat nicht alle Leprakranken seiner Tage geheilt. Hatte er nicht mit allen Mitleid? Wird sein Mitleid gar willkürlich verteilt, aus unerfindlichen Gründen, oder grundlos? "Ich gewähre Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich will", sagt Gott zu Moses (Ex 33,19). Ist also das Erbarmen von der Gerechtigkeit losgelöst? Verstehen wir da besser, warum in der Kritik an der Barmherzigkeit gesagt wird, sie sei "paternalistisch". Man fordert deshalb Gerechtigkeit, d.h. das, was jedem jeweils zusteht und worauf er einen gerechten Anspruch hat, nicht aber Barmherzigkeit, die gibt, wenn sie will - oder eben nicht, wenn sie nicht will.

 

Wir kennen dieses Dilemma: Barmherzigkeit in einzelnen Fällen - was hilft das schon allen, die in derselben Lage sind? Wie verhalten sich Barmherzigkeit und Gerechtigkeit zueinander? Kehren wir zum Leprakranken zurück. Sicher hat Jesus nicht alle geheilt. Aber er hat den, der ihn angesprochen hat, nicht deshalb zurückgewiesen, weil es noch so viele andere gibt. Die Frage der Barmherzigkeit stellt sich nicht abstrakt, sondern ganz konkret: "Ein Mann ging von Jerusalem nach Jericho hinab und wurde von Räubern überfallen ". Jesus erzählt dieses Gleichnis, um genau auf diese Frage zu antworten. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst", so steht es im Gesetz Gottes. "Und wer ist mein Nächster?" fragt ein Gesetzeslehrer Jesus. Ich kann doch nicht alle lieben! Ich kann nicht mit allen barmherzig sein! Darum geht es auch nicht. Die Nächstenliebe ist konkret. Wer ist mein Nächster? Jesus lässt in seiner Erzählung einen Priester und einen Leviten daherkommen. Beide sehen den halbtoten Ausgeraubten da liegen, wechseln die Straßenseite und gehen vorbei. Es wird nicht gesagt, was sie empfanden, nur was sie taten. Denn nur das zählt. Sie hatten vielleicht gute Gründe, die wir nachempfinden können, z.B. die Angst, selber überfallen zu werden, denn die Räuber konnten ja noch nahe gewesen sein. Entscheidend ist, dass der Samariter, der fremde Halbheide, etwas anderes tat. Unweigerlich empfinden wir, dass seine Tat die richtige, der Situation angemessene gewesen ist. Wir halten es für richtig und gerecht, dass in unseren modernen Rechtsordnungen sogar eine gesetzlich geregelte Beistandspflicht festgehalten ist. Beim Samariter benennt Jesus auch, was er dabei empfand: esplanchnisthe - er war von tiefem Mitleid bewegt. Am Schluss der Erzählung fragt Jesus den Gesetzeslehrer: "Wer von diesen dreien hat sich als der Nächste dessen erwiesen, der von den Räubern überfallen wurde?" Die Antwort ist unausweichlich: "Der, der barmherzig an ihm gehandelt hat" (Lk 10,25-37).

 

Barmherzigkeit ist also ganz konkret, betrifft nicht irgendwie alle, sondern den, der hier und jetzt meines Helfens bedarf. So sehen wir auch Jesus in den Begegnungen mit Einzelnen. Er ist ganz Zuwendung, ganz da, bei der Person, die ihn anspricht, und widmet sich ihr. Er verwirklicht immer neu, was er im Gleichnis von dem einen verlorenen Schaf gesagt hat. Der Hirt lässt die 99 anderen zurück, um sich ganz der Suche nach dem verlorenen zu widmen. Ist es nicht für die 99 beruhigend, zu erleben, dass es dem Hirten so wichtig und wertvoll ist und dass er auch jedem einzelnen der anderen 99 nachgehen würde, sollte es sich verirren und in Gefahr geraten, von Raubtieren gerissen zu werden? Die konkrete Zuwendung Jesu zu den einzelnen hat etwas zutiefst Tröstliches für alle, das zuversichtlich macht.

 

Nun kennen wir aber auch Situationen, in denen Jesus sein Erbarmen auf viele ausweitet. Immer wieder klingt dieses Motiv an: "Mich erbarmt des Volkes" ("misereor super turbam", Mk 8,1). Jesus sieht, wie sie sich plagen, wie sie "schon drei Tage bei mir ausharren und nichts zu essen haben" (Mk 8,2). Jesu Sorge um die vielen Menschen, die ihn suchen, ist wiederum sehr konkret: "Wenn ich sie hungrig nach Hause gehen lasse, werden sie unterwegs erliegen, denn manche von ihnen sind von weither gekommen" (Mk 8,3).

Er sorgt aber nicht nur für ihr leibliches Brot. Bei der ersten Brotvermehrung ist es ein anderes Brot, das er ihnen vorrangig gibt:

 

"Die Apostel versammelten sich wieder bei Jesus und berichteten ihm alles, was sie getan und gelehrt hatten. Da sagte er zu ihnen: Kommt mit an einen einsamen Ort, wo wir allein sind, und ruht ein wenig aus. Denn sie fanden nicht einmal Zeit zum Essen, so zahlreich waren die Leute, die kamen und gingen. Sie fuhren also mit dem Boot in eine einsame Gegend, um allein zu sein. Aber man sah sie abfahren, und viele erfuhren davon; sie liefen zu Fuß aus allen Städten dorthin und kamen noch vor ihnen an. Als er ausstieg und die vielen Menschen sah, hatte er Mitleid mit ihnen; denn sie waren wie Schafe, die keinen Hirten haben. Und er lehrte sie lange" (Mk 6,30-34).

 

"Und er lehrte sie lange." Mich bewegt diese Stelle immer: Sein tiefes Erbarmen mit den Menschen, die ihm bis in diese einsame Gegend am See (der Tradition nach bei Tabga) nachgelaufen sind, äußert sich zuerst darin, dass Jesus sie lange lehrt. Nicht umsonst wird Unwissende zu belehren unter die geistlichen Werke der Barmherzigkeit gezählt. Jesus lehrt sie, und sein Wort ermüdet sie nicht, denn er lehrt "wie einer, der Vollmacht hat, und nicht wie die Schriftgelehrten" (Mt 7,29). Das Erbarmen Jesu ist zuerst das mit unserer Unwissenheit. Das Brot, das wir zuerst brauchen, ist sein Wort. Ohne es sind wir wirklich "wie Schafe ohne Hirten".

 

Was lehrte sie Jesus an diesem langen Tag? Wie war Jesu Art zu sprechen? "Noch nie hat ein Mensch so gesprochen" (Joh 7,46), so sagen die Gerichtsdiener dem Hohen Rat in Jerusalem. Was uns von Jesu Wort in den Evangelien überliefert ist, reicht als "Brot des Wortes" für die ganze Zeit der Kirche. Sich von seinem Wort prägen lassen, heißt auch, sich von seiner Barmherzigkeit prägen lassen. Denn seine Worte kommen direkt aus der Quelle aller Barmherzigkeit, dem Herzen des Vaters: Er sagt nur, was er vom Vater erhalten hat. "Mein Wort ist nicht mein Wort, sondern das Wort dessen, der mich gesandt hat" (vgl. Joh 14,24).

 

V.
Wie steht es um seine und unsere Barmherzigkeit? Jesu Jünger brauchten lange, bis sie in die "Herzkammer" seiner Barmherzigkeit eindringen konnten. Es war ein mühevoller Weg Jesu mit seinen "Schülern", seinen Jüngern, bis sie seine Barmherzigkeit "intus" hatten. An zwei Beispielen soll das gezeigt werden:

 

Jesu Barmherzigkeit und die Barmherzigkeit der Apostel: "Jesus lehrte sie lange. Gegen Abend kamen seine Jünger zu ihm und sagten: Der Ort ist abgelegen und es ist schon spät. Schick die Leute weg, damit sie in die umliegenden Gehöfte und Dörfer gehen und sich etwas zu essen kaufen können." - Wie barmherzig sind die Apostel! Ich habe den großen Verdacht, dass am Ende dieses langen Tages sie die ersten waren, die genug gehört hatten von ihrem Meister und die ein gewisses Gefühl in der Magengrube spürten, oberhalb der Rachamim, und dass aus diesem Gefühl heraus der Wunsch entstand, es wäre doch Zeit, dass wir etwas zu essen bekommen. Aber da stören die vielen Menschen, die da sind, und deshalb wäre es praktisch, wenn Jesus mit diesen Menschen barmherzig wäre und sie wegschicken würde, "dass sie in die Gehöfte und Dörfer gehen, sich etwas zu kaufen zu essen".

 

Diese Art der Barmherzigkeit ist sehr verständlich. Jesus aber hat das ein bisschen anders gesehen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie verdutzt, um nicht zu sagen entsetzt die Apostel dreingeschaut haben, als er ihnen sagte: "Gebt ihr ihnen zu essen!" Sie sagten zu ihm: "Woher sollen wir Brot für so viele nehmen? Sollen wir weggehen und für 200 Denare Brot kaufen und es ihnen geben, damit sie zu essen haben?"

 

Hier sehen wir zum ersten Mal deutlich, was im Folgenden noch klarer wird: Jesu Barmherzigkeit ist eine menschliche Überforderung. Das, was er von seinen Jüngern erwartet, ist eigentlich unmöglich. Was die Jünger wünschen und sagen, ist ganz verständlich. Es ist Zeit, zum Abendessen zu kommen, es ist Zeit, dass die Leute gehen. Wir sind ja hierher gekommen, um Ruhe zu haben, das war die Ausgangssituation. Jesus sagt: "Kommt gehen wir an einen einsamen Ort und ruht ein wenig aus". Stattdessen wieder ein Tag mit einem Haufen Menschen (Mk 6,35-44). Die Barmherzigkeit Jesu ist anspruchsvoll, schwierig.

 

Ich darf noch auf eine zweite Szene hinweisen, wo der Kontrast zwischen der Barmherzigkeit Jesu und der der Jünger noch akuter zum Ausdruck kommt. Es ist eine Szene, die sich abseits von Galiläa abspielt, in der Küstengegend bei Tyrus und Sidon im heidnischen Gebiet. Jesus hat sich für einige Tage dorthin zurückgezogen und will nicht, dass man weiß, dass er da ist. Aber es bleibt nicht geheim, dass er dort ist, und so kommt eine kanaanäische Frau aus jener Gegend zu ihm und ruft: "Hab Erbarmen mit mir Herr, du Sohn Davids, meine Tochter wird von einem Dämon gequält!" Nun haben wir hier die Situation, dass ein armes Menschenkind zu Jesus kommt und um Erbarmen bittet. "Jesus aber gab ihr keine Antwort" - scheinbar ganz unbarmherzig. "Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Befreie sie von ihrer Sorge!" Die Jünger scheinen barmherzig und Jesus unbarmherzig. Ehrlicherweise haben die Apostel den Grund der Barmherzigkeit angeführt. Die Jünger bitten Jesus "Befreie sie von ihrer Sorge!" Warum? "Denn sie schreit hinter uns her".

 

Gib ihr, was sie bittet, denn sie ist uns schon sehr lästig, das ist die Barmherzigkeit der Apostel! Wie oft ist unsere Barmherzigkeit so, dass wir jemanden loswerden wollen. Das Verhalten Jesu wirkt geradezu schockierend unbarmherzig. Er antwortete: "Ich bin nur zu den verloren Schafen des Hauses Israel gekommen." Mich gehen diese Heiden nichts an, ich bin für die Juden gekommen. Das ist nicht mein Problem, auch wenn sie um Erbarmen bittet - nicht sehr freundlich und nicht sehr barmherzig. "Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir!" Sie lässt nicht locker, sie wirft sich ihm zu Füssen, sie ist lästig. Darauf erwidert Jesus, jetzt alles eher als 'politicly correct': "Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen." Die Juden sagten gelegentlich: die Heiden sind Hunde. Die Christen haben im Mittelalter die Juden als Hunde bezeichnet. Die schlimmste und abwertendste Bezeichnung, die man gebrauchen kann. Jesus sagt: Die Kinder, das sind die Juden, die Heiden, das sind die Hunde. Sehr charmant dieser armen Frau in Not gegenüber! "Da entgegnete sie: Ja du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen." Da sagt Jesus: "Frau, dein Glaube ist groß" (Mt 15,21-28).

 

Wir schließen hier und müssen darüber nachdenken, was das heißt, dass Jesus in seiner Barmherzigkeit so anspruchsvoll ist, mit dieser Frau einen so steilen Weg geht, sie so herausfordert und ihr nicht sofort gibt, was sie haben will. Deshalb war der Titel der heutigen Katechese "Jesu strenge Barmherzigkeit".

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