Freitag 19. April 2024

Telefonseelsorge – eine besondere Form von zwischenmenschlicher Nähe in der Distanz?

 

In Zeiten der Pandemie bedeuten „Nähe“ und „Distanz“ eine Herausforderung, die uns auf Schritt und Tritt begleitet. Doch wie ist das in den Kontakten im Rahmen der Telefonseelsorge?

 

Kann mir am Telefon jemand zu nahe treten? Oder auf Distanz gehen? Wie lässt sich ein angemessener Abstand wahren? Wieviel Nähe will ich zulassen? In vielen Gesprächen am Telefon ist es hilfreich, sowohl Nähe als auch Distanz im Blick zu behalten.

 

Die Tatsache, dass ich die Hörer des Headsets dicht an beiden Ohren habe, garantiert schon von vornherein eine unmittelbare Nähe zur anrufenden Person. Die erste Wahrnehmung, vielleicht ein schnelles Atmen, eine aufgeregte Stimme, ein leises Schluchzen, ein verzweifelter Hilferuf, ein bedrohlich-vorwurfsvolles Schreien, all das kann mich ganz schnell ahnen lassen, ob ich der Person ganz nahe sein will oder ob ich doch eher eine gesunde Distanz wahren möchte.

 

Im Laufe eines Gesprächs entwickelt sich in der Regel die Wahrnehmung von Nähe und Distanz weiter und im besten Fall finden wir eine Gesprächskultur, die für beide Gesprächspartner*innen stimmig ist. Das kann manchmal eine große vertrauensvolle Nähe sein.

 

Ich beobachte das vor allem bei Gesprächen, wo es um belastende Situationen geht und im gemeinsamen Suchen, Überlegen, Fragen und Austauschen sich ein Weg auftut, der gangbar scheint. Wenn ich selbst das Gespräch so empfunden habe, drücke ich das beim Verabschieden auch in Form von Wertschätzung und Dankbarkeit für das offene Gespräch aus.

 

Häufig stelle ich fest, dass die Wahrnehmung von stimmiger Nähe auch vom Gegenüber so erlebt wird und durchaus auch rückgemeldet wird. Nach dem Beenden lasse ich solche Gespräche gerne in mir nachklingen und ausklingen.

 

Wenn Menschen anrufen, die sehr unter Einsamkeit leiden, stelle ich mir manchmal vor, ich würde mich zu ihnen auf eine Bank setzen oder am Tisch mit ihnen Platz nehmen. „Ich würde mich jetzt gerne zu Ihnen setzen“ sage ich dann. Es kann sein, dass Anrufende überrascht, freudig überrascht auf dieses Angebot reagieren! Bei Gesprächen dieser Art kann ich dann sogar im Körper spüren, wie nahe ich einer mir bis vor wenigen Minuten noch fremden Person bin.

 

Es ist mir wichtig, auch auf meine Bedürfnisse zu achten und frage mich, wie nahe ich jemanden sein möchte, oder ob ich vielleicht ein wenig mehr Abstand brauche.

 

Uns rufen auch Menschen an, die sich im Umfeld unverstanden fühlen oder immer wieder enttäuscht werden, oder mit Institutionen wie Politik und Kirche nicht zurechtkommen und dies unmissverständlich und vorwurfsvoll äußern! Da kann es schon hilfreich sein, innerlich gebührend Abstand zu halten, um nicht zu sehr in eine aggressive Gesprächsspirale zu geraten. Wenn ich den herkömmlichen „Telefonhörer“ benutze kann es vorkommen, dass ich instinktiv den Hörer ein wenig auf Abstand halte, weg vom Ohr.

 

Wenn es mir gelingt, weder eine Abwehrposition einzunehmen, noch mich mit maßlosen Vorwürfen überschütten zu lassen, sondern zunächst einmal vorurteilslos zuzuhören, vielleicht die Not und Verzweiflung zwischen den Worten herauszuhören, dann besteht die Chance, einander näher zu kommen. Nicht immer ist es möglich und nicht immer gelingt es!

 

Wenn ich Verständnis und Vertrauen ehrlich anbieten und aufbauen kann, dann kann (muss nicht!) sich das Blatt wenden. Der Verlauf und vor allem das Ende eines solchen Gespräches, das in der Regel sehr viel Kraft, Aufmerksamkeit und Feingefühl, ebenso Authentizität verlangt, kann erstaunlich positiv sein: Und – um das Bild von Nähe und Distanz zu strapazieren – da kann sich die anfänglich große Distanz auf ein gesundes Maß hin entwickeln, zur Zufriedenheit beider Gesprächspartner*innen.

 

Nach solchen Gesprächen muss ich tief durchatmen, mich ein wenig bewegen und neue Kraft für das nächste Gespräch sammeln! An dieser Stelle empfiehlt sich ein Stück Obst oder eine Tasse Kaffee (-:

 

Ich stelle fest: je stimmiger für mich die Nähe bzw. die Distanz im Telefonat war, desto zufriedener bin ich und hoffentlich auch die Person, die angerufen hat.

 

Manche Menschen rufen immer wieder bei uns an. Sie suchen offensichtlich diese besondere Form von menschlicher Nähe. Sobald ich an der Stimme oder am Gesprächsanliegen erkenne, dass ich mit der Person schon gesprochen haben könnte, erwähne ich, dass wir möglicherweise schon miteinander telefoniert haben. Das schafft eine gute Beziehungsbasis und vermittelt eine vertraute Nähe oder eben einen gewissen Abstand, der sich in früheren Telefonaten bewährt hat.

 

Menschen, die oft enttäuscht wurden oder Gewalt erfahren haben, bringen ein recht unterschiedliches Bedürfnis nach Nähe und Distanz mit. Insofern könnte ich keine „Ideal-Nähe oder Ideal-Distanz“ im Gesprächsverhalten am Telefon definieren. Jeder Mensch ist anders und empfindet anders. Und auch ich empfinde nicht jeden Tag und jeder Person gegenüber dasselbe Bedürfnis nach Nähe oder eben nach Distanz!

 

Ich schließe mit einem Zitat bzw. einer Frage von Univ.-Prof.Dr.Wolfgang Mazal vom Institut für Arbeits- und Sozialrecht mit Blick auf die aktuelle Pandemie. „Sind Nähe und Distanz beengend, bereichernd, bedrückend oder befreiend?“ (Die Furche vom 2. Juni 2021 „KLARTEXT Nähe und Distanz“)

 

Diese Frage hat uns Telefonseelsorger*innen schon vor der Pandemie beschäftigt und wird uns auch danach weiter begleiten!

L. G.

Telefonseelsorge
Stephansplatz 6
1010 Wien
T 142

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