Montag 20. Mai 2024

Kirchenmusik: Doderer dringt in Männerdomäne ein

Jahrhundertelang komponierten nur Männer für die Wiener Hofmusikkapelle. Das ändert sich jetzt: Die österreichische Komponistin Johanna Doderer hat als erste Frau eine Messe im Auftrag der Wiener Hofmusikkapelle komponiert. Am Sonntag wurde die „Friedensmesse“ in der Hofburgkapelle uraufgeführt. ORF Topos hat mit der Komponistin und einer Kirchenmusikerin über dringend benötigten Nachwuchs in der Musikszene gesprochen.

Zum ersten Mal überhaupt in der über 500-jährigen Geschichte der Hofmusikkapelle gelangt eine Messe einer Frau zur Aufführung. Die österreichische Komponistin Johanna Doderer widmet sich mit ihrer Friedensmesse, die als Auftragswerk für die Wiener Hofmusikkapelle in der Hofburgkapelle am Sonntag um 9.15 Uhr uraufgeführt wurde, nun auch der geistlichen Musik. Das Schaffen der Komponistin aus Bregenz umfasst unter anderem kammermusikalische Werke, Orchesterwerke, aber auch Musiktheater. Besonders intensiv setzt sich Doderer mit der Oper auseinander.

 

„Es gibt wie überall vieles, das man hinterfragen kann“, sagt die Komponistin zu ORF Topos. „Zum Beispiel: Ich schreibe eine Messe als Frau, und die Position der Frau in der Kirche müsste überdacht werden.“ Dass Frauen in der Kirche größere Rollen spielen, sei ein Thema, „das sich weiterentwickelt, da stecken wir mittendrin“, so Doderer.

Auch Kirchen und Klöster sind gefragt

Die Frage, wer Aufträge erteilt oder wer überhaupt die Möglichkeit hat, jemanden zu engagieren, stehe am Beginn einer Bewegung, sagt Johannes Ebenbauer, Professor für Orgel und Improvisation, Dirigent und Komponist sowie Leiter des Instituts für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) zu ORF Topos.

Von einem Mangel an Studentinnen in den Kompositionsklassen der mdw könne man derzeit definitiv nicht sprechen. Aber dass es zu einer Komposition für die Liturgie kommt – dafür braucht man den konkreten Auftraggeber oder die Auftraggeberin, denn „so etwas schreibt man nicht für die Schublade“, sagt Ebenbauer. Er plädiert auch an kirchliche Institutionen, hier die Initiative zu ergreifen.

 

Die Klangsprache, die Doderer für die Friedensmesse gewählt hat, sei eine, so Ebenbauer, „die angenommen werden kann“. Eine gegenwärtige neuartige Klangsprache, die auch völlig ungewöhnliche Klänge beinhalte, „ohne dass man ein Freak für ganz neue Sounds sein muss“, so der Dirigent.

Strukturen herausfordern

Historisch gesehen hatten Frauen wenig bis keine Möglichkeit, zu komponieren. „Viele Jahre oder auch Jahrhunderte war es Frauen gesellschaftlich untersagt, Kirchenmusik und Klassische Musik zu komponieren“, sagt Jürgen Partaj, Direktor und seit 2022 auch künstlerischer Leiter der Wiener Hofmusikkapelle zu ORF Topos. Nicht selten verhinderte auch der Ehegatte, dass kompositorischer Erfolg überhaupt möglich sei.

Zwar gehe in der klassischen Musik die Geschichte von komponierenden Frauen weit zurück – aber zu wenige seien gefördert worden, sagt Partaj. Unter den Komponistinnen waren Margarete von Österreich (die einzige Tochter Maximilians I., der die Wiener Hofmusikkapelle 1498 gründete), Marie Antoinette (sie war Schülerin bei Christoph Willibald Gluck, Hofcompositeur ihrer Mutter Maria Theresia), Fanny Hensel, Clara Schumann und die Wiener Komponistin Marianna von Martines. Richtet man den Blick auf die Gegenwart, sind Frauen in Teilen der Klassikszene nach wie vor unterrepräsentiert. Auch wenn die Akzeptanz deutlich größer geworden ist – etwa mit Blick auf die nächste Generation von Frauen im Dirigentenfach, wie ORF Topos berichtete.

 

Kirchenmusik historisch betrachtet

Aus historischer Sicht seien Kirchenmusiker sicherlich „die am stärksten patriarchalisch geprägte Berufsgruppe in der Musik“, sagte die deutsche Kirchenmusikerin Christa Kirschbaum in einem Interview 2019. Die ersten Musiker in der christlichen Kirche seien Kleriker gewesen – erst mit der Reformation erhielt die Gemeinde durch gemeinsamen Liedgesang eine „eigene liturgische Stimme, angeleitet weiterhin durch Männer“, sagt Kirschbaum im Interview.

 

Als die Schulen die Klöster als Bildungsinstitute ablösten, übernahmen die Lehrer auch die Kirchenmusik. Mit der Aufklärung tritt der männliche Genius an die Stelle des allmächtigen Schöpfer-Gottes. Frauen gebären Kinder, sind also für das Leiblich-Irdische zuständig. Männer machen Kopf-Geburten und erweitern so die geistige Welt. Um den komponierenden und dirigierenden Maestro entwickelt sich ein Starkult. Komponierende Frauen gab es wenige, sie arbeiteten vor allem für den häuslichen Bereich und in kleineren musikalischen Formaten.

 

Christa Kirschbaum, ehemalige Landeskirchenmusikdirektorin der evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, in einem Interview 2019

E- und U-Musik überholt?

Heute, so Doderer, sei das Komponieren weniger eine Genderfrage. Auch die Frage nach der aktuellen Situation von Bewerberinnen um Studienplätze – im qualitativen Sinne – sei wenig erkenntnisfördernd. An der mdw gebe es schließlich „unglaubliche Studentinnen und Studenten“, so die Komponistin im Interview.

Mit Blick auf die zeitgenössische Musik sei das heute nicht das Thema, " sondern wir müssen über Strukturen sprechen und über Offenheit", sagt Doderer. Es gebe Strukturen, „die haben sich in den letzten 50 bis 60 Jahren verfestigt und die gehören längst aufgebrochen“, so die Komponistin. Komponierende Frauen und Männer würden gleichermaßen an ihre Grenzen stoßen – die Komponistin hat die Erfahrung gemacht, wenn Frauen komponieren würden, „ist noch eine gewisse Neugierde da.“

Kategorien wie die Abgrenzung zwischen E- und U-Musik müssten längst aufgelöst werden, ist Doderer überzeugt. Historisch gesehen ging es nicht nur darum, dass Frauen auch komponieren durften, sondern dass sie neue Richtungen in ihrer Musik gehen konnten, richtungsweisend waren. Vielen sei das verwehrt worden: „Sie waren geradeso gut wie ihre männlichen Kollegen“, sagt Doderer – und plädiert für eine sogenannte Öffnung der ernsten Komposition.

Zahlen aus Österreich

Österreichweit sind kirchenmusikalisch etwa 10.000 Personen tätig. Dazu zählen Organisten, Chorleiter und Kantoren. Davon sind etwa 6.000 Frauen. Anstellungsmöglichkeiten für Kirchenmusikerinnen- und Kirchenmusiker abseits der Kirche bieten Lehrtätigkeiten an Musikschulen, Konservatorien und Musikuniversitäten.

Über ihre persönlichen Erfahrungen in der heimischen Kirchenmusikszene berichtet Stefanie Sillar. Seit September des Vorjahres ist die 29-Jährige als Stiftskapellmeisterin im Zisterzienserstift Zwettl tätig. Mit der Stelle hat Sillar die Betreuung der Chöre, des Ensembles und der Orgeln im Stift übernommen – und auch die Gregorianikschola und die Ausbildung der Kantoren zählen zur Stiftsmusik.

Stiftskapellmeisterinnen als Vorbilder

Als vielfältige, richtungsweisende Vorbilder nennt Sillar die Bestellung von Melissa Dermastia, Domkapellmeisterin in Graz. Und Andrea Fournier, die seit 2022 Domkapellmeisterin in der Stadt Salzburg ist. „Da geht die Kirche mit der Gesellschaft mit und muss konsequent dranbleiben“, sagt Sillar.

Die Kirchenmusik für die Besucherinnen und Besucher annehmbarer zu interpretieren, hält Sillar für eine zentrale Aufgabe. Am Sonntag in die Kirche gehen, wie man es lange Zeit am Land so machte, sei längst nicht mehr selbstverständlich, „und bei vielen eine willentliche Entscheidung“, sagt Sillar, „umso wichtiger ist es, dass die Kirchenbesucherinnen- und besucher sich mit der Musik identifizieren können.“

Jazzmessen in der Pfarre

Mit Jazzbearbeitungen von Messen hat die Kapellmeisterin eigenen Angaben zufolge in der Stiftspfarre positive Erfahrungen machen können. Was sich die Kirchenmusikerin für die Zukunft wünscht? „Dass Rhythmen und moderne Musiksprache innerhalb der Kirchenmusik nicht verpönt und Tabus aufgebrochen werden“.

In puncto Nachwuchs ist die Verfügbarkeit von Stellen ein wichtiges Thema. Institutionen, die schon während des Studiums eine Anstellung bieten, zumindest ein kleiner Vertrag, „das würde schon helfen“, ist Sillar überzeugt. Schließlich mache man eine akademische Ausbildung, und am Schluss müssen Arbeitsausmaß und Bezahlung „mit der Qualifikation zusammenpassen“, sagt Sillar.

Nachwuchs fehlt österreichweit

Grundsätzlich habe man in der Kirchenmusik zunehmend ein Nachwuchsproblem, sagt Daniel Mair, Leiter des Kirchenmusikreferats der Erzdiözese Wien in einem Statement gegenüber ORF Topos, „und zwar geschlechterunabhängig, das sich langfristig noch verschärfen wird“, so Mair.

Richtet man den Blick in die jüngste Vergangenheit, habe sich österreichweit gezeigt, dass diözesane Stellen und Stellen an Klöstern und Stiften nur schwer mit qualifizierten Bewerberinnen und Bewerbern zu besetzen waren, sagt der Leiter. Die Folge: Vorhandene Stellen mussten mehrmals ausgeschrieben werden oder mit adequat qualifizierten Personen besetzt werden, sagt Mair, „zum Beispiel mit ausgebildeten Musikpädagogen statt ausgebildeten Kirchenmusikern.“

Das kirchenmusikalische Berufsbild als solches sei gegenwärtig stark im Umbruch – darauf hätten aber viele Ausbildungsstätten (noch) nicht reagiert, sagt Mair, neben musikalischen Qualifikationen würden in Zukunft auch Bereiche wie Projektmanagement, Öffentlichkeitsarbeit, Rekrutierung von ehrenamtlichen Musikern und Arbeit mit Kindern und Jugendlichen eine große Rolle spielen. Möglicherweise eröffne sich dadurch ein breiteres Berufsbild und die Chance (nicht nur für Frauen), im Bereich Kirchenmusik tätig zu sein.

Leonie Markovics (Text), ORF Topos, Karoline Thaler (Video), Religion und Ethik

Pastoralamt der ED. Wien Kirchenmusik
Stock im Eisen-Platz 3/IV
1010 Wien

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