
Spirituelle Gewalt
Spirituelle Gewalt ist eine besondere Form von psychischer Gewalt, die im allgemeinen Sprachgebrauch auch als „Geistlicher oder Spiritueller Missbrauch“ bezeichnet wird.
"Spiritueller Missbrauch wird ausgeübt,
wenn mittels religiöser Inhalte oder unter Berufung auf geistliche Autorität
Druck und Unfreiheit entstehen
und Abhängigkeit erzeugt und ausgenutzt wird." *
Es ist wichtig, das Thema „Geistlicher Missbrauch“ offen anzusprechen und eine Kultur des Hinschauens zu etablieren. Nur so können wir unserer seelsorglichen Verantwortung gerecht werden und das Vertrauen der Gläubigen bewahren. Als Kirche sind wir aufgerufen, Räume zu schaffen, in denen Menschen in Freiheit und Würde ihren Glauben leben können.
Inhaltsverzeichnis:
Wie wird spirituelle Gewalt ausgeübt?
Woran erkenne ich spirituelle Gewalt?
Was ist spirituelle Gewalt nicht?
Was tun, wenn ich etwas beobachte?
Fragen und Infos: diözesane Stabstelle
Was ist spirituelle Gewalt?
Spirituelle Gewalt gilt als spezifische Form des Machtmissbrauchs. Es werden religiöse oder spirituelle Inhalte sowie geistliche Autorität instrumentalisiert. Das Ziel ist, manipulativ Kontrolle über Individuen oder Gruppen auszuüben. Es handelt sich um eine "Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts"**, die bei den Betroffenen zu gravierender spiritueller Not führen kann.
Das so beschriebene selbstbezogene Machtstreben der Täter/innen hat meist nicht direkt die Erniedrigung anderer zum Ziel, geht aber auf Kosten derer. Täter/innen müssen dabei keine böse Absicht haben. Es reicht, dass sie egoistisch und häufig unbewusst andere manipulieren. Motivation dahinter kann etwa sein: sich einmalig und unersetzbar zu fühlen, Rekrutierung von Arbeitskraft, gute Berufungszahlen.
Wie wird spirituelle Gewalt ausgeübt?
Spirituelle Gewalt geschieht durch Manipulation religiöser Überzeugungen, Praktiken und Strukturen. Damit werden Druck, Unfreiheit und Abhängigkeit erzeugt. Dies geschieht oft durch Entstellung christlicher Lehren (z.B. „Du musst dein Kreuz auf dich nehmen“ und darfst dich nicht widersetzen), Umdeutung biblischer Begriffe (z.B. "Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben" bis zur totalen Erschöpfung) oder Instrumentalisierung spiritueller Erfahrungen (z.B. "Gott hat mir gezeigt, dass du...").
Ein zentrales Element ist die "Verwechslung von geistlichen Personen mit der Stimme Gottes", wie es Klaus Mertes SJ beschreibt.*** Diese Verwechslung kann in drei Ausprägungen auftreten:
- Der Seelsorger/ die Seelsorgerin verwechselt sich selbst mit der Stimme Gottes.
- Die begleitete Person verwechselt den Seelsorger/ die Seelsorgerin mit der Stimme Gottes.
- Beide unterliegen zugleich dieser Verwechslung.
Das Ziel von Seelsorge muss jedoch immer sein, dass gottsuchende Personen immer unmittelbarer in Beziehung mit dem dreifaltigen Gott treten können und der Seelsorger/ die Seelsorgerin sich nicht zwischen Gott und dem Menschen stellt.
Lesen Sie mehr: Klaus Mertes, Geistlicher Machtmissbrauch, in: Geist und Leben 2017 (90), 249-259. Download
Doris Wagner differenziert verschiedene Schweregrade des spirituellen Missbrauchs:
- Spirituelle Vernachlässigung: Eine einseitige Deutung des Glaubens wird vermittelt.
- Spirituelle Manipulation: Die Person wird zu Handlungen gebracht, die sie vermeintlich aus freien Stücken vollzieht.
- Spirituelle Gewalt: Vollständige Kontrolle über die betroffene Person, oft verbunden mit Isolation und rigiden Vorschriften.
Lesen Sie mehr: Doris Wagner, Spiritueller Missbrauch, Herder 2019.
Methoden spiritueller Gewalt können sein:
- emotionale Abhängigkeiten (etwa durch Bagatellisierung von Gefühlen, Erniedrigung, Abwertung ...)
- mentale Manipulation im Namen Gottes (z.B. "Gott fordert blinden Gehorsam von dir!")
- Entstellung christlicher Lehren und Werte (z.B. durch Übertreibung: "Du musst immer beten!")
- Erzeugung von Schuld- und Schamgefühlen (z.B. "Du bist ein sündiger Mensch und musst zur Buße Folgendes tun ...")
- Isolation von Familie und sozialem Umfeld
- Unterdrückung von Kritik und eigenständigem Denken
- Elitedenken (z.B. "Wir haben den einzig wahren Glauben.")
- christliche Machtspiele (z.B. "Das ist meine Hirtenpflicht für dich!")
- Entmündigung (z.B. "Du bist geistlich noch nicht so weit und kannst das nicht erkennen so wie ich.")
- Dämonisierungen (z.B. „Wer anderer Meinung ist, ist vom Geist des Unfriedens getrieben!“)
Folgen für Betroffene
Die Folgen für Betroffene sind oft schwerwiegend und können sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren:
spirituell: Erschütterung des Gottesbildes, Glaubenszweifel, Verlust der Gottesbeziehung ...
psychisch: Depression, Angststörungen, Traumatisierung, Identitätskrisen ...
sozial: Beziehungsprobleme, Isolation, Schwierigkeiten im Beruf ...
physisch: psychosomatische Beschwerden, Schlafstörungen ...
Woran erkenne ich spirituelle Gewalt?
Die „Checkliste für kritische Anzeichen“ des Bistums Münster fokussiert auf die Themenbereiche: Abschottung und Isolation, Grenzverletzung in der Geistlichen Begleitung, Gruppenidentität statt persönlicher Identität, Elitedenken und leistungsorientierte Frömmigkeit, überzogenes Gehorsamskonzept, Abhängigkeit:
Abgrenzung: Was ist spirituelle Gewalt nicht?
Spirituelle Gewalt ist nicht mit guter Geistlicher Begleitung oder normalen Meinungsverschiedenheiten in Glaubensfragen zu verwechseln. Die Grenze wird dort überschritten, wo die Freiheit und Würde des Individuums missachtet und individuelles spirituelles Wachstum verhindert statt gefördert wird.
Prävention
Prävention ist eine wichtige Aufgabe, um sichere Räume für authentische spirituelle Erfahrungen zu gewährleisten.
Um geistlichen Missbrauch zu verhindern, sind Präventionsmaßnahmen auf verschiedenen Ebenen nötig:
- Bewusstseinsbildung und Schulungen für Seelsorger/innen und ehrenamtliche Mitarbeiter/innen
- Implementierung verbindlicher Verhaltenskodizes
- Schaffung von Beschwerdewegen und unabhängigen Anlaufstellen
- Förderung einer Kultur der Achtsamkeit und des respektvollen Umgangs
- Stärkung der Persönlichkeitsbildung und Eigenverantwortung der Gläubigen
In der Erzdiözese Wien haben wir dazu konkrete Schritte unternommen:
- Einrichtung der diözesanen Stabstelle für Prävention von Missbrauch und Gewalt
- Einrichtung einer diözesanen Ombudsstelle als Anlaufpunkt für Betroffene
- Verpflichtende Präventionsschulungen für alle pastoralen Mitarbeiter
- Präventionsbeauftragte in den Pfarren und Dienststellen der Erzdiözese Wien
- Erstellung von Schutz- und Präventionskonzepten
- Erarbeitung eines Verhaltenskodex zur Prävention von Machtmissbrauch
- Regelmäßige Supervisionsangebote für Seelsorger/innen
Was tun, wenn mir spirituelle Gewalt auffällt oder mir Betroffene von verstörenden Erfahrungen erzählen?
- Ernstnehmen: Betroffene sind oft mit Misstrauen konfrontiert. Es ist daher wichtig zu signalisieren, dass man der Person glaubt.
- Besonnen handeln: Die Situation kann sehr herausfordernd sein. Nicht aus Betroffenheit überstürzt handeln.
- Nicht Detektiv/in oder Polizist/in spielen: v. a. Konfrontation des Beschuldigten der zuständigen Stelle überlassen.
- Hilfe holen – handeln: Betroffene sind oft in einer „Schockstarre“. Eine wichtige Aufgabe ist, für sich und die betroffene Person Handlungsmöglichkeiten zu schaffen und Beratungsstellen zu kontaktieren.
- Kontaktaufnahme mit Beratungsstellen: Ein erster Schritt kann sein, mit Einverständnis der betroffenen Person eine Beratungsstelle (s.u.) zu kontaktieren und weitere Schritte abzuklären.
- Meldung an die Ombudsstelle: Bei Kenntnis von Übergriffen oder Gewalttaten durch kirchliche Mitarbeiter/innen besteht die Verpflichtung, die diözesane Ombudsstelle zu informieren. Die Zustimmung der betroffenen Person sollte hierfür eingeholt werden, was möglicherweise mehrere Gespräche erfordert.
Es ist essenziell, mit höchster Sensibilität und unter Wahrung der Würde aller Beteiligten zu agieren. Das primäre Ziel muss stets der Schutz und die Unterstützung der Betroffenen sein, während gleichzeitig die Regelungen der Rahmenordnung berücksichtigt werden.
Alle Personen im ehren- oder hauptamtlichen Dienst sind (laut Rahmenordnung „Die Wahrheit wird euch frei machen“) verpflichtet, einen Verdacht oder einen beobachteten Übergriff (psychischer, physischer, sexueller oder geistlicher Art) durch kirchliche Mitarbeiter/innen oder in einer kirchlichen Einrichtung an die diözesane Ombudsstelle oder an die diözesane Stabstelle für Prävention von Missbrauch und Gewalt oder an die/den Vorgesetzte/n zu melden. Sowohl Stabsstelle als auch Vorgesetze/r leiten wiederum die Meldung an die Ombudsstelle weiter.
Die diözesane Ombudsstelle geht jeder Meldung unter Berücksichtigung des Schutzes der mutmaßlich betroffenen Person sorgfältig nach. Die Rechte der mutmaßlich beschuldigten Person werden bei der Klärung des Sachverhaltes gewahrt.
Ombudsstelle:
In der Erzdiözese Wien wurde 1996 die "Ombudsstelle der Erzdiözese Wien für Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauchs in der katholischen Kirche" eingerichtet: www.erzdioezese-wien.at/ombudsstelle
Tel. 01/319 66 45, ombudsstelle@edw.or.at
Untere Viaduktgasse 53/2B, 1030 Wien
Hilfreiche Literatur zum Download
- Rahmenordnung
- „Mein sicherer Ort“ Behelf zum Thema Prävention für Kinder und Jugendpastoral
- „Unter vier Augen“. Verantwortungsvoller Umgang mit Nähe und Macht im Seelsorgegespräch, im Beichtgespräch und in der Geistlichen Begleitung in der EDW
- Arbeitshilfe der dt. Bischofskonferenz: Missbrauch geistlicher Autorität. Zum Umgang mit Geistlichem Missbrauch, Arbeitshilfe Nr. 338, 31.5.2023, Deutsche Bischofskonferenz, Bonn 2023. Download
- Klaus Mertes, Geistlicher Machtmissbrauch. Theologische Anmerkungen, in: Stimmen der Zeit 144 (2019). Download
Für weitere Informationen und Fragen
stehen Ihnen die Mitarbeiter/innen der diözesanen Stabstelle zur Verfügung:
Fußnoten:
* Die Wahrheit wird euch frei machen, Rahmenordnung für die katholische Kirche in Österreich, 2021, S. 14
** vgl. Doris Wagner, Spiritueller Missbrauch, Herder 2019, S. 79.
*** Klaus Mertes, Geistlicher Machtmissbrauch, in: GuL 2017 (90/3) 249-259.






