Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium vom 15. August 2025
Das heutige Fest wird allgemein „Maria Himmelfahrt“ genannt. Sein genauer Name ist: „Aufnahme Marias in den Himmel“. Unter Himmelfahrt können wir uns wenig vorstellen. Das Wort „Aufnahme“ weckt hingegen viele Erfahrungen. Aufgenommen werden ist die Sehnsucht vieler Menschen, vielleicht von uns allen. Viele hoffen, Aufnahmeprüfungen für eine Schule, ein Studium, eine Arbeit zu schaffen. Flüchtlinge hoffen auf Asyl, Soldaten auf die Heimkehr. Aufnahme zu erfahren ist lebenswichtig, für das Kind, den Jugendlichen. Ablehnung, Ausschluss ist bitter, fast unerträglich, und doch müssen so viele Menschen auf die eine oder andere Art diese Erfahrung erleiden: Du bist nicht willkommen! Du gehörst nicht zu uns!
Das heutige Fest ist wie ein großes, herzliches „Willkommen!“. Wir müssen alle einmal dem jetzigen Leben „Ade“ sagen. Trotz allem Bemühen der Hinterbliebenen werden wir früher oder später vergessen sein. Wer kennt noch die eigenen Vorfahren, die im 19. Jahrhundert gelebt haben? Das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel bedeutet: Der Sohn hat die Mutter nicht vergessen. Sie hat ihn als Mutter aufgenommen, ihn im Schoß getragen, ihn geboren. Sie hat zu ihm Ja gesagt. Sie hat ihn bis zu seinem Tod begleitet, ist zu ihm gestanden, als er gekreuzigt wurde. Als es für sie so weit war, aus diesem Leben zu scheiden, hat Jesus sie für immer zu sich aufgenommen, nicht nur ein bisschen, nicht nur ihre Seele, sondern ganz und gar, mit Leib und Seele. Er hat für sie nicht ein schönes Grab errichten lassen, damit viele zu ihm hinpilgern können wie zu den Gräbern berühmter Heiliger. Nirgendwo wird das Grab Mariens verehrt. Eigenartig! Den Grund dafür nennt das heutige Fest: Maria wurde mit Leib und Seele dorthin aufgenommen, wo es keine Gräber mehr gibt, wo die Toten leben, wo Tod keine Macht mehr hat.
Wie wir uns „Himmelfahrt“ nicht vorstellen können, so auch nicht, was es heißt, mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen zu sein. Oder gibt es doch eine Ahnung davon? Es geht um die Frage, was unser Leib bedeutet. Christen glauben an die Auferstehung des Leibes. Wenn wir sterben, bleibt der Leib zurück. Ist er dann nur mehr so etwas wie eine „ausgebrannte Rakete“?, fragt Bischof Kamphaus und erinnert uns daran: „Wir haben nicht nur einen Leib, wir sind ein Leib.“ Unser seelisches Wohl hängt eng mit dem leiblichen Wohl zusammen, und umgekehrt. Es ist ja kein Zufall, dass am heutigen Tag überall die Kräuter gesegnet werden. Ihre Heilkraft dient beiden, dem Leib und der Seele. Den Tod kann freilich kein Kraut verhindern. Das kann nur der, der seine Mutter Maria mit Leib und Seele zu sich aufgenommen hat. Auch uns ist es versprochen. Das ist wirklich ein Grund zu feiern.
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas.
In jenen Tagen machte sich Maria auf den Weg und eilte in eine Stadt im Bergland von Judäa. Sie ging in das Haus des Zacharías und begrüßte Elisabet. Und es geschah: Als Elisabet den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib. Da wurde Elisabet vom Heiligen Geist erfüllt und rief mit lauter Stimme: Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes. Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? Denn siehe, in dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte, hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib. Und selig, die geglaubt hat, dass sich erfüllt, was der Herr ihr sagen ließ. Da sagte Maria: Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. Denn auf die Niedrigkeit seiner Magd hat er geschaut. Siehe, von nun an preisen mich selig alle Geschlechter. Denn der Mächtige hat Großes an mir getan und sein Name ist heilig. Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten: Er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden beschenkt er mit seinen Gaben und lässt die Reichen leer ausgehen. Er nimmt sich seines Knechtes Israel an und denkt an sein Erbarmen, das er unseren Vätern verheißen hat, Abraham und seinen Nachkommen auf ewig. Und Maria blieb etwa drei Monate bei ihr; dann kehrte sie nach Hause zurück.