Gedanken zum Evangelium Sonntagsevangelium vom 7.9.2025 Lk 14,25-33 von Kardinal Christoph Schönborn
Wird das Christentum immer mehr ein Minderheitenprogramm? Die Demographie und die Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Woran liegt es, dass sich (scheinbar) in Europa das Christentum in einer Abwärtsspirale befindet? Ist es nicht mehr zeitgemäß, überholt, veraltet? Eigentlich hätte es nach menschlichem Ermessen von Anfang an gar nicht wachsen dürfen. Wer das heutige Evangelium ernst nimmt, muss sich wundern, dass es einen solchen Erfolg hatte. Was Jesus im heutigen Evangelium sagt, ist das Gegenteil von einer Werbekampagne. Alles klingt so, als wollte Jesus nachdrücklich davor warnen, sich ihm anzuschließen. Doch aus der kleinen Gruppe der Anhänger Jesu wurde in den ersten drei Jahrhunderten die zukunftsstärkste Religion der damaligen Zeit. Wie konnte es dazu kommen?
Viele Menschen begleiteten damals Jesus auf seinem Weg durch die Dörfer von Galiläa. Sie waren von Jesus fasziniert, hörten ihm zu, staunten über seine Wunderheilungen. Eine große Hoffnung ging von Jesus aus: Er könnte der Verheißene sein, durch den alles endlich besser werden würde. Ist er der ersehnte Messias? Jesus durchkreuzt alle diese Erwartungen. Er tut es bis heute! Er trifft eine klare Unterscheidung: Ihn begleiten, von ihm begeistert sein, ist nicht dasselbe wie sein Jünger werden. Die Bedingungen, die er dafür nennt, sind so radikal, dass man sich fragen muss, ob es überhaupt jemanden gibt, der sie erfüllen kann. Im Klartext verlangt Jesus, dass alle, die seine Jünger, also Christen sein wollen, alles andere hintanstellen müssen: die Familie, das Geld, den Besitz, ja sogar das eigene Leben. „Jesus first!“ würde man heute sagen. Jesus in allem den Vorrang geben, nicht mehr und nicht weniger wird erwartet. Warum hatte ein so anspruchsvolles Programm am Anfang einen derart durchschlagenden Erfolg? Ist es heute zur Erfolglosigkeit verurteilt?
Das Natürlichste im Leben ist die Familie, „Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern“. Familie ist Heimat. Jesus sagt: Sie ist dennoch nicht das Höchste. Sie kann zu Zwang und Fessel werden. Familienehre wird leicht zum Familienegoismus. „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“, sagt die Bibel. Besitz ist gut und wichtig. Er darf nicht zum Gott, zum Götzen werden. Sich selber schützen und bewahren ist gut. Hingabe ist etwas Größeres. Opfer sind schwer, doch ohne sie bleiben wir Gefangene unseres Egoismus. Noch einmal stellt Jesus klar: „Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger sein.“ Jesus nachfolgen ist ein Weg der Befreiung von menschlichen Zwängen und Engen. Das haben viele Menschen damals erlebt. Christ werden war deshalb so anziehend. Es hatte freilich oft einen hohen Preis: die Christenverfolgung! Warum war es trotzdem so erfolgreich? Vielleicht gerade deshalb! Vielleicht ist das „Erfolgsrezept“ des Christentums Jesus selber, sein Leben und Sterben, seine Liebe zu denen, die ihn abgelehnt haben, sein Vorbild an dem sich alle orientieren können. Ein deutscher Politiker hat vor kurzem gesagt, er sei zwar Atheist, aber es mache ihm Sorge, wenn bei uns die Werte des Evangeliums nicht mehr gelebt würden. Es ist keine Frage: Der Weg der Nachfolge Jesu ist herausfordernd und anspruchsvoll. Aber er ist sicher der Weg, der uns Frieden und Gerechtigkeit bringen kann. Trotzdem wird heute weltweit keine Religion mehr verfolgt als die der Christen. Könnte das ein Zeichen dafür sein, dass das Evangelium auch heute, wie damals am Anfang, ein „Erfolgsrezept“ ist?
Lk 14, 25–33
Aus dem heiligen Evangelium nach Lukas.
In jener Zeit begleiteten viele Menschen Jesus; da wandte er sich an sie und sagte: Wenn jemand zu mir kommt und nicht Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sein Leben gering achtet, dann kann er nicht mein Jünger sein. Wer nicht sein Kreuz trägt und hinter mir hergeht, der kann nicht mein Jünger sein. Denn wenn einer von euch einen Turm bauen will, setzt er sich dann nicht zuerst hin und berechnet die Kosten, ob seine Mittel für das ganze Vorhaben ausreichen? Sonst könnte es geschehen, dass er das Fundament gelegt hat, dann aber den Bau nicht fertigstellen kann. Und alle, die es sehen, würden ihn verspotten und sagen: Der da hat einen Bau begonnen und konnte ihn nicht zu Ende führen. Oder wenn ein König gegen einen anderen in den Krieg zieht, setzt er sich dann nicht zuerst hin und überlegt, ob er sich mit seinen zehntausend Mann dem entgegenstellen kann, der mit zwanzigtausend gegen ihn anrückt? Kann er es nicht, dann schickt er eine Gesandtschaft, solange der andere noch weit weg ist, und bittet um Frieden. Ebenso kann keiner von euch mein Jünger sein, wenn er nicht auf seinen ganzen Besitz verzichtet.