Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Sonntagsevangelium vom 5.10.2025
Um zwei Themen geht es im heutigen Evangelium: um den Glauben und um das Dienen. Auf den ersten Blick haben sie wenig miteinander zu tun. Vielleicht doch! Das erste Thema ist wie eine seufzende Bitte der Apostel an Jesus: „Stärke unseren Glauben!“ Ich bin vermutlich nicht der Einzige, dem diese Bitten aus dem Herzen spricht. Ich predige zwar oft über den Glauben, bin aber in schwierigen Situationen schnell kleingläubig. Zu den typischen Klagen in kirchlichen Kreisen gehört die über den Glaubensschwund in der heutigen Zeit. Man träumt gerne von früher, als seien die Zeiten damals glaubensstärker gewesen.
Wie antwortet Jesus auf die Bitte seiner Jünger? Er überrascht sie und uns: „Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn…“ Selbst ein winziges Körnchen Glauben kann unglaubliche Kraft entfalten. Jesus gebraucht dafür ein starkes Bild: „Würdet ihr zu diesem Baum sagen: Entwurzle dich und verpflanz dich ins Meer! Er würde euch gehorchen.“ Im kleinen Senfkorn liegt schon die ganze Kraft der großen Pflanze und ihrer Früchte. Glauben ist aber eine Kraft, die sich entfalten kann. Schon ein kleiner Glaube kann Großes bewirken. Er ist wie ein Senfkorn, das wachsen will. Die Jünger Jesus spüren die Sehnsucht nach diesem Wachsen: „Stärke unseren Glauben!“
Sie sind nicht allein mit diesem Wunsch. Es hat viele überrascht, dass nach der neuesten Kirchenstatistik der Gottesdienstbesuch wieder zunimmt, besonders in der jüngeren Generation. Der Glaube lebt davon, dass er praktiziert wird, nicht nur persönlich, sondern gemeinsam. Die regelmäßige Teilnahme am Gottesdienst ist ein Ausdruck dafür. Mit dem Glauben ist es wie mit dem körperlichen Training. Wer nur bequem zu Hause sitzt, darf sich nicht wundern, dass die Muskeln schlaff und schwach werden. Mit der Seele ist es nicht anders. Ich weiß es aus eigener Erfahrung: Nachlassen im Gebet führt schnell zu Schlaffheit und Unlust im Glauben.
Glauben ist eine tägliche Entscheidung, oft gegen die Schwerkraft der eigenen Trägheit. Ich verstehe die Ausrede, dass der Gottesdienst oft langweilig ist. Der Alltag ist auch nicht immer lustig. Das Leben bewährt sich im Alltag, ebenso der Glaube. Wie alle Haltungen braucht er die regelmäßige Übung. Dann wird er zu einer Kraftquelle, schenkt Freude und Geborgenheit. Wer glaubt, lebt leichter, auch wenn durch Alter oder Krankheit die körperlichen Kräfte nachlassen. Die Kraft des Glaubens hat schon vielen geholfen, Situationen zu bestehen, die so unmöglich scheinen wie das Verpflanzen eines Baumes ins Meer. In jedem Menschen steckt das kleine Senfkorn des Glaubens. Es wartet darauf, aufzubrechen und zu wachsen.
Was aber will Jesus mit dem Bild von den Knechten und ihrem Dienst sagen? Wir alle haben in unserem Leben Aufgaben zu erfüllen, selbst in der Pension, große und kleine Pflichten. Was hat das mit dem Glauben zu tun? Jesus sagt: „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.“ Das klingt sehr nüchtern, es enthält aber einen großen Trost: Mach das deine so gut du kannst und vertraue fest darauf, dass Gott das Seine tut! Dieses Vertrauen nennt man Glauben.
Lk 17, 5–10
In jener Zeit baten die Apostel den Herrn: Stärke unseren Glauben! Der Herr erwiderte: Wenn ihr Glauben hättet wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Entwurzle dich und verpflanz dich ins Meer! und er würde euch gehorchen. Wenn einer von euch einen Knecht hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Komm gleich her und begib dich zu Tisch? Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich, bis ich gegessen und getrunken habe; danach kannst auch du essen und trinken. Bedankt er sich etwa bei dem Knecht, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Knechte; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan.