Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Sonntagsevangelium vom 12.10.2025
Erbarmen und Dankbarkeit sind die beiden Themen des heutigen Evangeliums. Eine Gruppe von zehn Leprakranken kommen Jesus entgegen, bleiben aber auf deutlichem Abstand zu ihm, wie es das Gesetz von ihnen verlangt. Aussatz ist ansteckend, das wusste man schon damals, deshalb die strengen Schutzmaßnahmen. Ihr Zustand ist erbärmlich. Sie sind ausgeschlossen, gefürchtet, leben als zum sicheren Tod Verurteilte. Ihr ganzes Elend schreien sie von weitem Jesus entgegen: „Meister, hab Erbarmen mit uns!“
Der Aussatz ist bei uns überwunden, bei weitem nicht in der ganzen Welt. Mich erbarmt es, bei uns die Drogensüchtigen zu sehen, in der U-Bahn, an bestimmten Plätzen in Wien. Die Drogen sind die Lepra unsere Tage. Es tut so weh, junge Menschen zu sehen, die oft schon hoffnungslos vom Drogenkonsum zerstört sind. Wir meiden sie, schauen weg, möchten sie aus dem Stadtbild entfernen und spüren unsere Hilflosigkeit ihnen gegenüber. Wie geht es erst recht ihren Eltern? Wie geht es ihnen selber? Haben sie eine Chance, aus der zerstörerischen Sucht herauszufinden? Doch woher sollen sie die Kraft dazu nehmen? Sie sollten sich halt anstrengen, sich zusammenreißen! Solche Aufforderungen verkennen, was Sucht mit dem Menschen macht. Auch die Lepra kann man nicht durch einen kräftigen Willensakt loswerden.
Eines bleibt uns allen immer offen: „Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns!“ Dieser Notruf ist ohne Telefon möglich. Wir alle können Jesus um sein Erbarmen bitten, auch wenn wir keine Lepra und keine Drogenabhängigkeit haben. Niemand ist ohne eigene Nöte. Alle haben wir größere oder kleinere Abhängigkeiten, die uns (und die anderen) plagen, die loszuwerden wir dennoch nicht schaffen. In diesem Sinne darf jeder sich in der Gruppe der zehn Aussätzigen wiedererkennen. Und doch geschieht Heilung, nicht immer so spektakulär wie bei den Leprakranken des Evangeliums. Es muss ein unbeschreibliches Glücksgefühl gewesen sein, als sie alle echt und wirklich ganz von ihrem Aussatz geheilt waren.
Wo immer solches geschieht, und es geschieht viel öfter als wir annehmen, da kommt es ganz darauf an, wie wir damit umgehen. Nur einer eilt zu Jesus zurück, um Gott und ihm zu danken. Die neun anderen sind wahrscheinlich einfach in ihren früheren Alltag zurückgekehrt, froh, dass sie die schreckliche Lepra los waren. „Das Leben geht weiter!“ – so sagt man und tut so, als wäre das irgendwie selbstverständlich. Mich erschüttert es immer wieder, wie selbstverständlich ich es nehme, von meinen beiden schweren Erkrankungen des Jahres 2019 gerettet und geheilt worden zu sein. Ich frage mich oft, ob wir in unserer heutigen Gesellschaft wirklich genug dankbar sind. Sind wir nicht alle versucht, uns wie die neun anderen Geheilten zu verhalten? Ganz praktisch gefragt: Danken wir den Ärzten, die uns aus schwerer Krankheit herausgeholfen haben? Oder denken wir: Die müssen ihre Arbeit tun! Sie verdienen ja gut damit! Wie leicht werden Ärzte heute geklagt! Wie wenig werden sie bedankt! Anderes Beispiel: unsere Lehrer! Sie waren sicher nicht perfekt, wie wir keine perfekten Schüler waren. Aber wie viel verdanken wir ihnen für unser Leben! Sagen wir es ihnen auch?
Dankbarkeit ist eine Lebenseinstellung. Von ihr hängt weitgehend unsere seelische (und sogar leibliche) Gesundheit ab. Doch wem sollen wir danken? An erster Stelle Gott. Ihm verdanken wir alles. Im Alltag zeigt sich die Dankbarkeit Gott gegenüber in den vielen kleinen Zeichen der Dankbarkeit den anderen gegenüber. Sie machen das Leben um so viel schöner!
Lk 17,11-19
Es geschah auf dem Weg nach Jerusalem: Jesus zog durch das Grenzgebiet von Samárien und Galiläa. Als er in ein Dorf hineingehen wollte, kamen ihm zehn Aussätzige entgegen. Sie blieben in der Ferne stehen und riefen: Jesus, Meister, hab Erbarmen mit uns! Als er sie sah, sagte er zu ihnen: Geht, zeigt euch den Priestern! Und es geschah: Während sie hingingen, wurden sie rein. Einer von ihnen aber kehrte um, als er sah, dass er geheilt war; und er lobte Gott mit lauter Stimme. Er warf sich vor den Füßen Jesu auf das Angesicht und dankte ihm. Dieser Mann war ein Samaríter. Da sagte Jesus: Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind die neun? Ist denn keiner umgekehrt, um Gott zu ehren, außer diesem Fremden? Und er sagte zu ihm: Steh auf und geh! Dein Glaube hat dich gerettet.