Im Wiener Stephansdom kritisierte Kardinal Christoph Schönborn die gesellschaftliche Verrohung. Er forderte mehr Empathie und stellte die Frage, ob die Nation den "Jammer" der Flüchtlinge höre.
Zum traditionellen Festakt am Nationalfeiertag im Wiener Stephansdom nutzte Kardinal Christoph Schönborn die Kanzel für eine klare innenpolitische Ansage. Im Zentrum seiner Predigt stand am Sonntag die dringende Forderung nach gesellschaftlicher Orientierung für ein Land, dessen Fundamente – Freiheit und Frieden – er explizit als nicht selbstverständlich bezeichnete. Der Kardinal spannte den Bogen vom Evangelium bis in die Gegenwart und identifizierte eine schmerzhafte gesellschaftliche Erosion: die Verachtung.
Schönborn zitierte das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner, um die menschliche Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit ins Visier zu nehmen. Er diagnostizierte die Verachtung als eine „große Wunde in Österreich“. Dabei scheute er sich nicht, konkrete und historisch belastete Begriffe anzusprechen. Er erinnerte an die Verwendung des Schimpfworts „Tschuschn“ und warf die Frage auf: „Was ist das für eine Basis für ein gutes Gedeihen in unserem Land?“ Schönborn forderte die Anwesenden, die auch Vertreter des öffentlichen Lebens umfassten, zur Selbstreflexion auf, da wohl jedem „mancher Spruch herausrutscht, der von Verachtung zeugt.“
Über die generelle gesellschaftliche Kritik hinaus bezog der Kardinal klar Stellung zu einer aktuellen Herausforderung. Er mahnte, dem Beispiel Jesu zu folgen, der den Hilferuf von Witwen und Waisen nicht überhöre. Die implizite Frage an die österreichische Öffentlichkeit lautete:
„Hören wir auch den Jammer von Menschen, die ihre Heimat verloren haben und flüchten mussten, in unserem Land?“
Als Wegweiser nannte Schönborn die drei Pfeiler Gerechtigkeit, Gebet und die Bewusstheit des eigenen Todes, welche die Menschen „in das richtige Maß“ rücke.
Der Appell des Kardinals, dankbar für einen Sozial- und Rechtsstaat mit Grundrechten zu sein, unterstrich die Ernsthaftigkeit der Mahnung zur Besinnung. Die Feier im Stephansdom endete mit dem Geläut der Pummerin, als sprechendes Symbol für Vertrauen und den Frieden in Freiheit.