"Vielleicht verschleudern nicht diejenigen, die Reformen wollen, das 'Familiensilber' der kirchlichen Tradition, sondern diejenigen, die sich weigern, mit der Gnade Gottes zu 'wuchern'"
"Vielleicht verschleudern nicht diejenigen, die Reformen wollen, das 'Familiensilber' der kirchlichen Tradition, sondern diejenigen, die sich weigern, mit der Gnade Gottes zu 'wuchern'"
Wiener Neutestamentler Tiwald bei Antrittsvorlesung an Universität Wien: Freude und Freiheit des Evangeliums wird getrübt, wo "Fülle von Vorschriften, Ängstlichkeiten und Bedachtnahmen" überhandnehmen.
Wer fest im Glauben steht, verweigert sich nicht etwa kirchlichen Reformen, sondern - im Gegenteil - treibt sie an. Das hat der Neutestamentler Prof. Markus Tiwald im Rahmen seiner Antrittsvorlesung am Mittwochabend an der Universität Wien betont. Wer auf Gott vertraue und sich in der biblischen Tradition wisse, werde sich kirchlichen Reformen - auch Strukturreformen - nicht verschließen, sondern sie aktiv angehen: "Vielleicht verschleudern nicht diejenigen, die Reformen wollen, das 'Familiensilber' der kirchlichen Tradition, sondern diejenigen, die sich weigern, mit der Gnade Gottes zu 'wuchern'". Und vielleicht, so Tiwald weiter, sei es daher "gar nicht ein Beweis von Glaubenstreue, wenn man sich kategorisch Reformen verschließt, sondern ein Zeichen von mangelndem Gottvertrauen".
In seiner Vorlesung skizzierte Tiwald, der bereits 2019 zum Universitätsprofessor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien ernannt worden war, in einem kursorischen Durchgang durch die Evangelien "jesuanische Impulse für eine Erneuerung der Kirche". Diese zeigten sich etwa in Jesu Botschaft vom Reich Gottes, dessen Nähe er in zeichenhaften Handlungen wie der Hinwendung zu den Ausgegrenzten, den Sündern und Menschen am Rand vorgelebt habe. Indem Jesus die "Macht des Satans" als gebrochen erkannte und in Folge sein Leben und Wirken ganz im Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft deutete, habe er die "unverschämte Freiheit der Kinder Gottes" begründet, so der Titel der Vorlesung.
Diese theologische Grundhaltung bleibe nicht folgenlos für die Frage der Kirchenreform, so Tiwald weiter. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil (1962-65) habe festgehalten, dass das kirchliche Lehramt mutig den Dialog mit den Humanwissenschaften suchen und sich auch dem "Sensus fidei", dem Glaubenssinn des Volkes Gottes, nicht verschließen solle. Dieser "unverschämte Optimismus Jesu", seine Zuversicht auf die befreiende Nähe des Gottesreiches, sei heute allerdings "leider verloren gegangen", so Tiwald. Die Angst vor Veränderung lasse die Kirche "lieber in den Untergang laufen, als mutig nach neuen Formen für den neuen und lebendigen Wein Jesu zu suchen".
Diese Zuversicht gelte es auch in den aktuellen Reform-Debatten um den Synodalen Prozess neu zu entdecken: Dabei gehe es schließlich auch um eine neue "Lebendigkeit" des Glaubens. "Doch gerade diese unverschämte Freiheit, von Gott angenommen zu sein, wird durch eine Fülle von Vorschriften, Ängstlichkeiten und Bedachtnahmen empfindlich getrübt. Somit schlagen die als eng und realitätsfremd empfundenen kirchlichen Strukturen massiv auf die Freude am Glauben durch." Tiwalds Conclusio: "Will Kirche (...) das Grundsakrament darstellen, muss sie - genauso wie Jesus - die gesamte Welt in ihrer ganzen Buntheit akzeptieren, ohne irgendjemanden auszugrenzen."
Markus Tiwald wurde 1966 in Güssing geboren. Er studierte bis 1993 in Wien und Lyon Katholische Theologie. 1994 wurde er zum Priester geweiht. Bis 1998 folgte ein Lizentiatsstudium am Studium Biblicum Franciscanum mit Schwerpunkten in biblischen Sprachen, Judaistik und biblischer Archäologie. Von 1997 bis 2007 war er Universitätsassistent am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Wien. Nach der Promotion 2001 war er von 2001 bis 2007 stellvertretender Vorsitzender der "ArgeAss" (Arbeitsgemeinschaft bibelwissenschaftlicher AssistentInnen Österreichs) und Kuratoriumsmitglied des Österreichischen Katholischen Bibelwerkes. Nach der Habilitation 2007 lehrte er ab 2008 "Biblische Theologie und ihre Didaktik / Schwerpunkt Neues Testament" an der Universität Duisburg-Essen.
Im September 2019 folgte die Ernennung zum Universitätsprofessor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Dort ist er heute u.a. seitens der Fakultät Leiter der neuen "Vienna Doctoral School of Theology and Research on Religion" (VDTR).