Gerald Hüther: „Manchmal wehrt man sich gegen etwas – und verletzt dabei die Würde anderer.“
Gerald Hüther: „Manchmal wehrt man sich gegen etwas – und verletzt dabei die Würde anderer.“
Er hat Pässe gefälscht, ist illegal über Grenzen, hat in einem Land gelebt, das Menschen unterdrückt, ihnen die Freiheit nimmt. 1979 flieht Gerald Hüther aus der DDR über Belgrad in die damalige Bundesrepublik Deutschland. Zurück lässt er Frau und Kind.
40 Jahre später ist er Hirnforscher, Professor für Neurobiologie, und Bestsellerautor. In seinem jüngsten Buch schreibt er über: „Würde – Was uns stark macht, als Einzelne und Gesellschaft.“
Gerald Hüther ist Universitätsprofessor, Hirnforscher und Flüchtling. In seiner Heimat hat er Unterdrückung, Demütigung und Entwürdigung erlebt. Heimat, das ist damals Deutschland, Ostdeutschland, die DDR. Die lässt ihn spüren, was es heißt, nicht frei zu sein, sich nicht entfalten zu können. Hüther ist damals verheiratet und hat einen kleinen Sohn. Gemeinsam zu fliehen, ist ihm aber zu riskant. Er probiert es allein. Er lässt seine Liebsten zurück und verliert sie damit.
Herr Professor Hüther, warum schreibt ein Hirnforscher ein Buch über Würde?
Ich beschäftige mich schon lange mit der Frage, was Menschen brauchen, um ihre Talente und Begabungen entfalten zu können. Was Menschen überhaupt nicht brauchen, ist entwürdigt zu werden.
Hirnforschertechnisch würde ich sagen: Man darf einen anderen Menschen nicht zum Objekt machen. Wir sind lebendige Wesen, wollen zeigen, dass wir einzigartig sind, dass wir etwas leisten können.
Wir wollen gesehen werden, wollen zu Gemeinschaften gehören und gleichzeitig als autonome Wesen in diesen Gemeinschaften leben. Das geht nur, wenn man ein Subjekt sein darf.
Im Deutschen Grundgesetz und auch in der Österreichischen Verfassung steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Sieht man sich in der Welt um, kommen einem Zweifel.
Das ist nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben worden. Nach den schrecklichen Ereignissen hat man sich erst mal darauf geeinigt, dass der Mensch eine Würde besitzt. Dann, dass sie nicht angetastet werden darf, und gehofft, dass sich die Menschen nicht gegenseitig ihre Würde rauben.
Im Grunde hätte man ahnen können, dass wir als Gesellschaft noch nicht so weit sind. Jetzt leben wir in einer Welt, wenn ich offen und ehrlich bin, wo mir tagtäglich so viel Würdelosigkeit begegnet, wie ich mir gar nicht vorstellen kann. Da ist einiges zu tun!
Zum Beispiel?
Das beginnt schon vor der Geburt! Wenn eine schwangere Frau, die sich auf ihr Kind freut, wie ein Objekt durch medizinische Untersuchungen durchgezogen wird und sich nicht dagegen wehren kann, weil ihr eingeredet wird, das muss jetzt alles sein.
Sie schreiben, dass schon Babys ein Gespür dafür haben, was richtig ist.
Das Kind hat ein Empfinden dafür, wie es sein möchte – es möchte als Subjekt gesehen werden, es möchte dazugehören, es möchte in seiner Einzigartigkeit gewürdigt werden.
Wenn das Kind in der Familie die Erfahrung macht, dass es, so wie es ist, richtig ist, dass man es in seiner Einzigartigkeit wertschätzt, ihm was zutraut, ihm Verantwortung überträgt, dann erlebt sich das Kind als jemand, der was kann, der bedeutsam ist. Es erlebt sich in seiner Subjekthaftigkeit und Würde.
Nun wissen wir aber, dass das so meist nicht funktioniert. Kinder werden – manchmal schon von den eigenen Eltern, manchmal im Kindergarten, spätestens aber in der Schule – zum Objekt gemacht. Diese große Einrichtung Schule kann im Grunde genommen nicht anders funktionieren, so wie wir sie im Augenblick kennen – sie kommt ja aus dem 19. Jahrhundert. Und so, wie sie damals aufgebaut worden ist, existiert sie eben noch heute. Dort hat sich ein junger Mensch daran zu gewöhnen, dass er zum Objekt von Belehrungen und Bewertungen wird.
Kann mir überhaupt jemand die Würde nehmen? Oder kann das nur ich selbst tun?
Das ist sehr interessant. Wenn ich jemand bin, der keinen anderen zum Objekt macht und sich selbst auch nicht als Objekt zur Verfügung stellt, nicht einmal als Objekt für die eigenen verrückten Ideen – Stichwort Selbstoptimierung – dann bin ich jemand, der sich nicht mehr verführen lässt.
Wenn nun jemand kommt, der mich verletzen will, zum Beispiel indem er mir etwas Negatives sagt, muss ich mich nicht gekränkt fühlen. Ich kann sagen: „Dieser Mensch kennt mich gar nicht. Er weiß nicht, was er sagt.“
Vielleicht gehe ich auf diesen Menschen zu und frage ihn: „Hast du dir überlegt, was du da eigentlich sagst? Meinst du das wirklich?“
Man merkt schnell, dass man gut auf seine eigene Würde aufpassen kann. Aber natürlich nur, wenn man sich seiner eigenen Würde bewusst ist.
Ich glaube, dass es sehr viele Menschen gibt, die gerade noch so ein bisschen ein Gefühl für ihre eigene Würde haben. Aber wenn man sie fragt, was das ist, die eigene Würde, und wann die verletzt wird, wissen sie es nicht mehr. Und gar ein Bewusstsein ihrer eigenen Würde haben nur ganz wenige.
Haben Sie sich schon einmal würdelos verhalten?
Ich schleppe ein Thema mit mir herum, das bis heute weh tut. Ich bin ja aus dieser ehemaligen DDR abgehauen. Ich muss ehrlich gestehen, ich habe es nicht mehr ausgehalten!
Ich war damals verheiratet, wir hatten einen kleinen Jungen. Er war drei, als ich abgehauen bin.
Ich glaube, das würde ich heute nicht mehr machen. Ein Kind zurücklassen, das an seinem Vater hängt, nur weil der Vater der Meinung ist, dass er unter diesen politischen Verhältnissen nicht länger leben kann.
Eine schwierige Situation …
Ja, manchmal wehrt man sich gegen etwas – und verletzt dabei die Würde anderer.
Was könnte da helfen?
Wenn man sich dem anderen als Subjekt zeigt und sagt: „Ich kann Fehler machen!“ Dann zeigt sich der andere auch, kommt aus seinem Panzer rausgekrochen, aus der Angriffs- oder Verteidigungshaltung – und wird Mensch! So begegnen einander zwei Menschen.
Geboren am 15. Februar 1951 in Emleben, in der DDR
Von meinen 3 Kindern habe ich gelernt, die Welt anders zu betrachten.
Im Sommer höre ich gerne: Mozart-Arien aus der Zauberflöte.
Ich ärgere mich über: Ignoranz. Damit schützen sich Menschen vor Erkenntnissen, die ihre eigene Lebensweise und Haltungen in Frage stellen. Ignoranz wertet den anderen ab.
Wichtig ist mir: die Natur. Als Junge habe ich mich in die Natur verliebt. Die Vielfalt des Lebendigen habe ich als so berauschend empfunden, dass ich wohl deshalb Biologie studiert habe. Ich wollte jemand sein, der sich dafür einsetzt, dass diese Vielfalt erhalten bleibt.
Leben ist …
das größte Wunder, das im Universum möglich geworden ist.
Sonntag ist …
ein besonderer Tag, der einen aus der Mühsal der alltäglichen Arbeit heraushebt. Aber ich gehe davon aus, dass Tätig-Sein – ich spreche nicht von Lohnarbeit – ein tiefes Grundbedürfnis des Menschen ist. Wer tätig sein darf, braucht keine
Sonntagsregelung.
Glaube ist …
alles, was uns für die Gestaltung unseres Lebens Hoffnung und Zuversicht gibt. Auch jemand, der an wissenschaftlichen und technischen Fortschritt glaubt, ist ein Gläubiger.
Glaube hat für mich nichts mit Religion zu tun, aber mit Spiritualität. Im Grunde ihres Herzens sind alle Menschen spirituell.
Gerald Hüther im Sommergespräch auf radio klassik Stephansdom am
Montag, 23. Juli um 17.30 Uhr,
DaCapo am Sonntag, 29. Juli, 17.30 Uhr.
die Zeitung der Erzdiözese Wien
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