Den Auftakt der Gesprächsreihe bildet am Montag, 26. November ein Dialog mit dem Titel "Flucht und Migration: Von der Bibel bis heute" mit der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak und dem Wiener Bibelwissenschaftler Ludger Schwienhorst-Schönberger.
Den Auftakt der Gesprächsreihe bildet am Montag, 26. November ein Dialog mit dem Titel "Flucht und Migration: Von der Bibel bis heute" mit der Wiener Pastoraltheologin Regina Polak und dem Wiener Bibelwissenschaftler Ludger Schwienhorst-Schönberger.
Am Montag, 26. November, 18 Uhr diskutieren Prof. Regina Polak (Pastoraltheologie) und Prof. Ludger Schwienhorst-Schönberger (Altes Testament) in der neuen Gesprächsreihe „Theologie im Gespräch“ über Fragen zu Migration und Grenzen aus theologischer Perspektive im Priesterseminar Wien (Strudlhofgasse 7, 1090 Wien).
Theologie im Gespräch soll einen Ort der Diskussion und des Austausches in polarisierenden Zeiten schaffen.
Auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist, kann man diese immer fair ausdiskutieren“, sagt Eva Puschautz (Fakultätsvertretung Theologie). „Professorinnen und Professoren aus unterschiedlichen theologischen Fachbereichen forschen zu ähnlichen Themen und kommen dabei auf unterschiedliche Ergebnisse.
Bei Theologie im Gespräch sollen sie miteinander diskutieren und vorleben, dass ein gepflegter Diskurs auch bei unterschiedlicher Meinung möglich und erstrebenswert ist“, betont Puschautz.
Die Veranstaltungsreihe ist eine Kooperation zwischen der Fakultätsvertretung Katholische Theologie, dem Priesterseminar der Diözesen Wien, St. Pölten und Eisenstadt, sowie dem Zentrum für Theologiestudierende der Erzdiözese Wien. Puschautz: „Diese Institutionen rund um die Katholisch-Theologische Fakultät wollen zeigen, dass Zusammenarbeit, Kommunikation und Kooperation auch unter Studierenden immer der fruchtbarste Weg sind, über den dann spannende Projekte wie dieses zustande kommen können.“
Stellvertretend für diese Institutionen arbeiten Magdalena Pittracher (Zentrum für Theologiestudierende), Eva Puschautz (Fakultätsvertretung) und Michael Semmelmeyer (Priesterseminar) an Theologie im Gespräch.
DER SONNTAG fragte Regina Polak und Ludger Schwienhorst-Schönberger nach ihren Positionen in dieser Frage.
Fordert das Christentum hinsichtlich der Migrationsbewegungen unterschiedslose Nächstenliebe? Müssen wir allen unterschiedslos helfen?
Regina Polak: Die Antworten auf Migration sind - wie „das“ Christentum - vielfältig. Die Katholische Kirche verpflichtet in ihrem Dokument „In Flüchtlingen und gewaltsam Vertriebenen Christus aufnehmen“ (2013, Nr. 10) ihre Gläubigen sogar zum Teilen: „Die Menschheit ist also eine Familie; (…)
Aus dieser Sicht können wir sagen, dass Flüchtlinge, Migranten, Menschen unterwegs und die ortansässige Bevölkerung alle eine einzige Familie bilden. Aus diesem Grund dürfen Solidarität und Nächstenliebe keinen Einzelnen, keine Kultur und kein Volk ausschließen (vgl. KKK 361).
Die besonders schutzbedürftigen Menschen, sind nicht einfach Menschen in Not, für die wir uns aus Solidarität großmütig einsetzen, sondern sie sind Mitglieder unserer Familie, und es ist unsere Pflicht, die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, mit ihnen zu teilen.“
Die Kirche leitet das Gebot der universalen Nächstenliebe also aus der biblischen Botschaft von der Einheit der Menschheit ab. Sie weitet die Nächstenliebe nicht einfach aus, wie Kritiker fälschlich behaupten. In der Stammesgesellschaft der Bibel ist der Begriff des Nächsten noch eng auf die „eigenen Leute“ bezogen.
Umso bemerkenswerter ist daher, dass das singuläre Gebot der Nächstenliebe (Lev 19,18) im Alten Testament zwei Gestalten kennt: „Der Fremde, der sich bei dir aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst.“ (19,34).
Freilich kann man daraus in einer nationalstaatlich organisierten Welt nicht unmittelbar politische Maßnahmen ableiten. Das tut die Kirche aber ohnedies nicht. Politische Schlussfolgerungen benötigen politologische Kompetenz, das gilt auch für Theologen. Wer vor Ort Hilfe braucht, dem muss jedenfalls geholfen werden.
Danach gilt es gemäß Katholischer Soziallehre, rechtliche und politische Maßnahmen zu entwickeln, die sowohl den Interessen der Migranten als auch jenen der aufnehmenden Gesellschaften gerecht werden. Papst Paul VI. hat übrigens Politik als die wichtigste Form der Nächstenliebe bezeichnet.
Besitzt der Satz von Papst Johannes Paul II., die Kirche kenne keine Ausländer, heute noch Gültigkeit?
Dies ist keine Aussage über Staatsbürgerschaften, sondern eine theologisch selbstverständliche ethische Norm: Für Christen hat die Zugehörigkeit jedes einzelnen Menschen zu der einen Menschheit Vorrang gegenüber allen sozialen, kulturellen, religiösen und nationalen Unterschieden.
Damit sind die Unterschiede nicht beseitigt, wohl aber jegliches nationalistische Stammes-Denken als Ausgangspunkt politischer Beiträge der Kirche. Wie man mit den Spannungen politisch umgeht, die dieses ethische Prinzip erzeugt, stellt die Kirche heute vor neue Herausforderungen. Nationalistische Retro-Politik hilft jedenfalls nicht, sie verschiebt das Problem nur auf Kosten der Zukunft.
Die katholische Lehre von der „Ordnung der Nächstenliebe“ mag dem Einzelnen Orientierung geben, ersetzt aber in einer Welt, in der nahezu alle großen Probleme – Armut, Klimawandel, Migration – nur mehr transnational gelöst werden können, nicht das Nachdenken über neue migrationspolitische Konzepte.
Was sagt die Bibel zur Stellung von Fremden und Ausländern in Israel?
Diese Frage kann der Bibliker besser beantworten. Für politische Schlussfolgerungen scheint mir aber Folgendes bedenkenswert. Die permanente biblische Erinnerung, selbst Fremde gewesen zu sein – als Begründung für den Einsatz für Fremde - gehört auch zu einem christlichen Selbstverständnis.
Sesshafte Christen, viele an den Wohlstand gewöhnt, müssen sich dessen wieder bewusst werden. Diese Erinnerung verpflichtet zu einer besonderen Aufmerksamkeit für Migranten und Flüchtlinge. Zu den anspruchsvollen „Pointen“ der biblischen Erkenntnisse gehört die Erfahrung, dass Armut, Rechtlosigkeit und der Verlust an Teilhabe am sozialen Leben Fremde in ihrer Würde in besonderer Weise verletzbar machen, und daher eine rechtliche Antwort verlangen.
Natürlich kann man das Fremdenrecht Israels nicht 1:1 auf heute übertragen. Aber man muss sich an seiner ethischen und politischen Stoßrichtung orientieren: Armut bekämpfen, Rechte stärken und Teilhabe ermöglichen.
In der Weltgerichtsrede des Evangelisten Matthäus entscheidet sich alles an der Hilfe für Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene (Matthäus, Kapitel 25). Wer sind diese „geringsten Brüder“ (und Schwestern)?
Es gibt keine absolut „objektive“ Definition des Nächsten. Der „Nächste“ ist vielmehr jener, der aus der sozialen Gemeinschaft ausgeschlossen und dessen Recht auf ein Leben in Würde bedroht ist. In der überschaubaren Welt der Bibel sind dies zunächst die Volksangehörigen; in einer globalen Welt jene, die „überflüssig“ gemacht zu werden drohen.
Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) ist sogar jener der Nächste, der hilft: Man macht sich also selbst zum Nächsten!
Angesichts von Millionen Menschen in Flüchtlingslagern rund um Europa: Was ist zuerst Aufgabe des Staates und worin besteht die Aufgabe für uns Christen?
Die Fragestellung legt nahe, zuerst müsse der Staat, dann erst ich handeln. Die Katholische Kirche nimmt aber immer beide in die Pflicht und betont die persönliche Verantwortung. Konkret: Staaten sind heute verpflichtet, Migrationen als Tatsache anzuerkennen und die damit verbundenen Veränderungen ihren Bürgern zuzumuten sowie mit ihnen gemeinsam eine neue, inklusive Gesellschaft zu entwickeln, in die sich alle integrieren müssen.
Zugleich gilt es, die Ursachen von Migration und Flucht entschieden zu reduzieren – globale Armut und Ungleichheit, politisches Unrecht, auch den ressourcenzerstörerischen Lebensstil des reichen Westens. Dies verlangt internationale, solidarische Kooperation. Darauf zielt übrigens auch der Globale Migrationspakt.
Viele Christen engagieren sich dabei schon lange: in der Integrationsarbeit, in der Entwicklungszusammenarbeit, durch ein ökologisch und ökonomisch verantwortungsbewusstes Leben.
Die Regierungen müssten „angemessenere und wirksamere Antworten“ auf die Herausforderung der Einwanderung geben, sagte Papst Franziskus heuer im Frühjahr. Welche Rolle kann dabei die Katholische Soziallehre einnehmen?
Die Katholische Kirche engagiert sich seit den 50er-Jahren (!) im Bereich Flucht und Migration. Sie hat dazu unzählige Materialien entwickelt. Zuletzt hat sie sich bei der Erstellung des Globalen Migrationspaktes intensiv eingebracht.
Instruktionen wie „Erga migrantes caritas Christi“ bieten soziale und politische Vorschläge. Die Deutsche Bischofskonferenz hat eine Migrationskommission. Warum wird dies bei uns so wenig bekannt gemacht?
Die vatikanische Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“ sagt schon im Jahr 2004: „Die Aufnahme des Fremden gehört also zum Wesen selbst der Kirche und bezeugt ihre Treue zum Evangelium“. Haben wir Katholiken diese Aussage verinnerlicht?
Für viele Katholiken ist diese Sicht selbstverständlich: Ordensgemeinschaften, die Caritas und unzählige Gemeinden engagieren sich für Migranten und Flüchtlinge. Allein in der Erzdiözese Wien betreuen derzeit immer noch 200 Pfarren geflüchtete Menschen. Freilich gibt es jede Menge Katholiken, denen eine solche Sicht (noch) fremd ist. Das sind nicht selten jene, die noch nie mit diesem Feld Kontakt hatten, aber dann besonders heftig kritisieren.
Sind wir nicht immer schon auch Migranten? Auf dem Weg zur Ewigkeit?
Ich habe zu viele dramatische Geschichten über das Leid geflüchteter Menschen gehört, als dass ich mich selbst in diesem metaphorischen Sinn als Migrantin bezeichnen möchte. Ich verstehe mich als Seßhafte, die auf die Botschaft der Migranten zu hören versucht. Als Christen hören wir mit der Bibel seit Jahrhunderten auf Menschen, die mit Nomadentum, Flucht, Vertreibung, Exil, Leben in der Diaspora und Fremde Erfahrungen gemacht haben.
Insofern gehört Migration tatsächlich unverzichtbar zur Identität jedes Christen. Deshalb verstehen sich Christen auch als „Fremde“ und „Gäste“ auf Erden (Hebr 11,13; 1 Petr 2,11), deren wahre Heimat der Himmel ist.
Zum Glauben gehört auch die Erfahrung, aus den gewohnten Lebensverhältnissen aufbrechen zu müssen, manchmal auch vertrieben zu werden. Auch Jesus ist mit Heimatlosigkeit vertraut (Mt 8,20). JHWH, der Gott von Migranten, steht uns dabei immer treu zur Seite.
Fordert das Christentum hinsichtlich der Migrationsbewegungen unterschiedslose Nächstenliebe?
Ludger Schwienhorst-Schönberger: Die Liebe als Gesinnung gilt allen Menschen in gleicher Weise (ethischer Universalismus). Die Liebe als Tat bedarf der Unterscheidung zwischen dem Nahen, dem Näheren und dem Nächsten.
Bei der Unterscheidung geht es um die Abwägung konkurrierender Güter und um die Bewertung der Folgen einer Handlung. Nach katholischer Lehre bleibt die Liebe als Tat auf den abgestuften Kreis derer beschränkt, die der Hilfe am meisten bedürfen und für deren Wohl der Handelnde am besten zu sorgen imstande ist.
Nach diesem Prinzip handelt auch der barmherzige Samariter. Er orientiert sich am ethischen Universalismus, beschränkt seine Hilfsbereitschaft also nicht auf die Angehörigen des eigenen Volkes oder der eigenen Religion, und hilft demjenigen, welcher der Hilfe in besonderer Weise bedarf, weil kein anderer bereit oder in der Lage ist, ihm zu helfen.
Wenn Christen in besonderer Weise gefährdet sind und niemand ihnen hilft, darf ich mich als Christ auch in besonderer Weise um diese Gruppe kümmern. In diesem Fall ist die präferenzielle Option für eine bestimmte Gruppe kein Rückfall in ein archaisches Stammesdenken, wie einige lauthals verkünden, sondern Ausdruck einer aufgeklärten und zugleich katholischen Moral. Im Galaterbrief fordert der Apostel sich und seine christlichen Adressaten auf: „Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes zu tun, besonders aber den Glaubensgenossen“ (Gal 6,10).
Die christliche Tradition spricht von der Ordnung der Liebe. „Selbst Liebe ist nicht ohne Gefahr; sie kann maßlos werden ... Man muss auch der Liebe Zügel anlegen und darf ihr nicht erlauben, so frei auszuschweifen, dass sie schließlich in einen jähen Abgrund stürzt“, schreibt der Theologe Origenes. Die theologische Tugend der Liebe (caritas) ist mit den philosophischen Tugenden der Klugheit (prudentia) und der Gerechtigkeit (iustitia) zu verbinden.
Müssen wir allen unterschiedslos helfen?
Wir müssen es nicht, weil wir es nicht können. Man kann, so sagt der katholische Moraltheologe Bruno Schüller SJ, das Gebot der Nächstenliebe gar nicht erfüllen, ohne dass man sich zugleich die Vorzugsregeln für sein Tun und Lassen zu eigen macht. Im Alltag befolgen wir sie intuitiv.
Jesus hat vielen geholfen, aber nicht allen. Deshalb sollten wir kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir nicht allen helfen können. Wohl jedoch können wir am Aufbau gesellschaftlicher Verhältnisse und an der Formung mentaler Einstellungen arbeiten, so dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass immer jemand bereit und in der Lage ist, Menschen zu helfen, wenn sie der Hilfe bedürfen.
Besitzt der Satz von Papst Johannes Paul II., die Kirche kenne keine Ausländer, heute noch Gültigkeit?
Die Aussage hat der Papst am 2. Mai 1987 im Ruhrgebiet (Deutschland) zur Welt der Arbeit gemacht. Sie ist ein Plädoyer für die Anerkennung der Leistungen, die ausländische Arbeitnehmer in den reichen Ländern erbracht haben; ihr ist vorbehaltlos zuzustimmen. Richtig ist, dass nach christlichem Verständnis das Volk Gottes nicht mit irgendeiner ethnischen oder nationalstaatlichen Größe zusammenfällt. Die Bibel kennt viele Völker und Nationen. Der Auftrag des Auferstanden richtet sich an seine Jünger, zu all diesen Völkern zu gehen und sie zu seinen Jüngern zu machen.
In diesem Sinne kann das Volk Gottes nur ein Volk sein. Es gibt nach biblischem Sprachgebrauch nicht mehrere „Gottesvölker“. Damit wird allerdings die soziale und politische Wirklichkeit unterschiedlicher Staats- und Volkszugehörigkeiten nicht aufgehoben. Nur wenige Personen besitzen einen vatikanischen Pass.
Was sagt die Bibel zur Stellung von Fremden und Ausländern in Israel?
Von Abgrenzung bis Integration findet sich im Alten Testament eine breite Palette an Einstellungen. Das Alte Testament unterscheidet zwischen dem Fremden (ger) und dem Ausländer (nokri).
Mit dem Fremden ist vor allem der innerisraelitische Immigrant gemeint. Der häufig zitierte Satz: „Einen Fremden (ger) sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn Fremde seid ihr gewesen im Lande Ägypten“ (Ex 22,20) bezieht sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht auf Angehörige anderer Völker, sondern auf Angehörige des eigenen Volkes.
Ihnen gegenüber gilt das Gebot der Gastfreundschaft: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn Fremde seid ihr gewesen im Lande Ägypten“ (Lev 19,33f). In Folge der assyrischen und babylonischen Kriege gab es viele Flüchtlinge in Juda und Israel. Sie waren Fremde im lokalen Milieu und sie galt es in den jeweiligen Ortschaften zu integrieren. Anders wird der Umgang mit Ausländern (nokri) geregelt.
Der Ausländer ist jemand, „der nicht von deinem Volk Israel ist und aus einem fernen Land kommt“ (1 Kön 8,41). Auch die Ausländer sind in Israel nicht schutzlos, sie sind jedoch dem „Bruder“ im eigenen Volk rechtlich nicht gleich gestellt. Auch das Neue Testament kennt Innen- und Außen-Diskurse. Die Aufforderung zur Gastfreundschaft gehört zum Innen-Diskurs.
Wenn es im Römerbrief heißt: „Nehmt Anteil an den Nöten der Heiligen; gewährt jederzeit Gastfreundschaft“ (Röm 12,13), dann geht es um Gastfreundschaft gegenüber durchreisenden Christen. Ähnlich 1 Petr 4,9: „Seid untereinander gastfreundlich.“ Gegenüber Außenstehenden heißt es: „Vergeltet niemandem Böses mit Bösem! Seid allen Menschen gegenüber auf Gutes bedacht. Soweit es möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden!“ (Röm 12,18). Christliches und jüdisches Ethos liegen hier eng beieinander.
In der Weltgerichtsrede des Evangelisten Matthäus entscheidet sich alles an der Hilfe für Hungrige, Durstige, Fremde, Nackte, Kranke, Gefangene (Matthäus, Kapitel 25). Wer sind diese „geringsten Brüder“ (und Schwestern)?
Der Satz „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ aus Mt 25,40 wird in der Öffentlichkeit gewöhnlich in einem universalistischen Sinn verstanden. Man meint, mit den geringsten Brüdern seien alle Menschen gemeint. Dieses Verständnis ist jedoch mit ziemlicher Sicherheit falsch. Mit den geringsten Brüdern sind die Angehörigen der christlichen Gemeinde gemeint. Das geht aus der Verwendung des Wortes „Bruder“ im Matthäusevangelium eindeutig hervor.
Angesichts von Millionen Menschen in Flüchtlingslagern rund um Europa: Was ist zuerst Aufgabe des Staates und worin besteht die Aufgabe für uns Christen?
Meinem Eindruck nach entsteht ein großer Teil der Probleme dadurch, dass eine rechtsstaatliche Ordnung zusammenbricht oder gar nicht erst besteht. Viele Hilfsorganisationen sind auf gesellschaftlicher Ebene angesiedelt.
Wenn aber die grundlegenden staatlichen Rahmenbedingungen, wie die Monopolisierung der Gewalt, die Bindung der Gewalt an das Recht und die Herausbildung eines Amtsverständnisses, wonach die dem Inhaber eines Amtes anvertraute Aufgabe unbestechlich und „ohne Ansehen der Person“ (vgl. Dtn 16,19) auszuüben ist, fehlen, bleibt die gewährte Hilfe auf Dauer prekär. Auch die Bibel weiß um die zivilisatorische Errungenschaft des Rechtsstaates (vgl. Ri 21,25; Ps 72; Röm 13,1-7; 1 Petr 2,13-17). Vielleicht sollten wir in Zukunft verstärkt Hilfen anbieten, rechtsstaatliche Ordnungen zu etablieren.
Was Europa für viele Migranten attraktiv macht, scheint mir die Verbindung von Recht, Ordnung, Freiheit, Friede und wirtschaftlichem Wohlstand zu sein. Das sind kulturelle Errungenschaften, die wir nicht für uns behalten sollten.
Die Regierungen müssten „angemessenere und wirksamere Antworten“ auf die Herausforderung der Einwanderung geben, sagte Papst Franziskus heuer im Frühjahr. Welche Rolle kann dabei die Katholische Soziallehre einnehmen?
Da kann ich dem Papst nur zustimmen. Meiner Ansicht nach bietet die Katholische Soziallehre die besten Voraussetzungen für eine gedeihliche gesellschaftliche und staatliche Entwicklung.
Was ich an ihr besonders schätze, ist die Idee der Ordnung, sowohl der Person als auch der Gesellschaft. Sie warnt vor einem Sozialutopismus ebenso wie vor einem spiritualistischen Ghetto-Christentum und traut dem christlichen Glauben zu, eine Ordnungskraft im gesellschaftlichen Bereich zu sein (Joseph Höffner). In der Konzilskonstitution Gaudium et spes (3) heißt es, dass die Person des Menschen zu heilen und die menschliche Gesellschaft zu erneuern sei.
Die vatikanische Instruktion „Erga migrantes caritas Christi“ sagt schon im Jahr 2004: „Die Aufnahme des Fremden gehört also zum Wesen selbst der Kirche und bezeugt ihre Treue zum Evangelium“. Haben wir Katholiken diese Aussage verinnerlicht?
Ja, mein Eindruck ist, dass viele Katholiken diese Aussage verinnerlicht haben und bei der Aufnahme und Integration von Migranten Großartiges getan haben und weiterhin tun. Was vielleicht noch fehlt, sind differenzierte Kenntnisse ethischer Argumentationen und eine ausgewogene Sicht der biblischen Tradition, um denen, die im migrationspolitischen Diskurs nur mit Schlagworten operieren und biblische Sätze aus dem Zusammenhang reißen, „Rede und Antwort zu stehen“ (1 Petr 3,15).
Andernfalls besteht die Gefahr, dass Theologen zu blinden Führern werden und den Menschen Lasten auferlegen, die sie gar nicht tragen können. In dieser politisch umstrittenen Frage die rechte Balance zu finden – in der Sache ebenso wie in der Wortwahl –, dürfte die beste Voraussetzung dafür sein, denen Wind aus den Segeln zu nehmen, die nicht bereit sind, anderen Menschen zu helfen, nur weil sie Ausländer sind.
Sind wir nicht immer schon auch Migranten? Auf dem Weg zur Ewigkeit?
In der Tat: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern wir suchen die zukünftige“ (Hebräer-Brief 13,14).
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Aktiv bei „Theologie im Gespräch“: Michael Semmelmeyer (Priesterseminar), Magdalena Pittracher (Zentrum für Theologiestudierende) und Eva Puschautz (Fakultätsvertretung Katholische Theologie).
Päpstlicher Rat der Seelsorge für Migranten und Menschen unterwegs:
Einladung zur Präsentation des MIGRATIONSKOMPASS: „Von Angst bis Zuversicht“:
die Zeitung der Erzdiözese Wien
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