Der Urteilsspruch, die religiöse Beschneidung von Buben sei als "schwere und irreversible" und somit strafbare Körperverletzung zu werten, sei ein massiver Eingriff in die Religionsfreiheit, erklärten sowohl christliche als auch jüdische Stimmen in Österreich.
Von einem "eklatanten Eingriff" in die Religionsfreiheit sprach der Präsident des österreichischen Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Martin Jäggle, am Mittwoch, 4. Juli 2012. Das Kölner Urteil habe zwar für Österreich keine rechtlichen, könne aber sehr wohl gesellschaftspolitische Folgen haben. Es zeige sich darin eine "westliche Grundhaltung" gegenüber Ritualen generell, so Jäggle. "Wer davon ausgeht, dass nur die innere Einstellung zählt, wird Rituale nie verstehen und als bloß 'äußerlich' abtun", so Jäggle. Diese Sichtweise sei mittlerweile so verbreitet, dass ihre Begrenztheit für Betroffene schwer zu erkennen sei.
Außerdem verwies Jäggle auf den Widerspruch zwischen der Einstufung von Beschneidung als "Körperverletzung" und dem zugleich in vieler Hinsicht "normativen Umgang mit dem Körper in unserer Gesellschaft" hin. Das Durchstechen von Ohrläppchen etwa dem Schönheitsideal entsprechende Eingriffe seien akzeptiert, während bei einer uralten identitätsstiftenden Symbolhandlung auf "Unversehrtheit" gepocht werde.
Ähnlich argumentiert Schlomo Hofmeister, Gemeinderabbiner von Wien: Beschneidung sei ein Eingriff, der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) als Präventivmaßnahme empfohlen wird. Hofmeister sieht in dem Urteil "den säkularistischen Versuch, religiöses Leben in Deutschland gesellschaftlich zu delegitimisieren". Wäre dem nicht so, müssten auch auf andere Akte der "Körperverletzung" wie Zahnregulierungen etwa strafwürdig erscheinen.
Für Juden sei die Beschneidung von Buben am achten Tag nach der Geburt "essenzieller Bestandteil unserer religiösen Praxis, und es ist das Recht des neugeborenen Juden, dass ihm seine Eltern dieses ermöglichen" - noch dazu in einem Alter, da dieser Eingriff "eine Bagatelle" darstelle. Von diesem Ritual seien Juden auch im Alten Rom nicht abgerückt, als die Beschneidung unter Todesstrafe gestellt wurde. "Dieser Spruch eines untergeordneten Gerichts hat weder legislative Autorität noch einen präjudiziellen Charakter, und wird mich keinesfalls davon abhalten, auch weiterhin jüdische Beschneidungen in Deutschland durchzuführen", so Hofmeister.
"Das Verbot einer medizinisch nicht indizierten Beschneidung männlicher Knaben greift massiv und nicht gerechtfertigt in die Religionsfreiheit der Israelitischen Religionsgemeinschaft ein und auch in die Religionsfreiheit der Islamischen Glaubensgemeinschaft": Das betonte auch der Präsident der Generalsynode der Evangelischen Kirche A.B. und H.B. in Österreich, Peter Krömer. Durch das Erkenntnis des Landesgerichtes Köln stehe das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften auf dem Spiel. Diese Entwicklung "macht mich aus der Sicht der Religionsfreiheit äußerst betroffen", so Krömer.
In Deutschland hat ein breites Bündnis muslimischer Organisationen die Politik aufgefordert, "schnellstmöglich zu handeln" und Rechtssicherheit in Form eines Gesetzes für die religiöse Beschneidung von Jungen zu schaffen. Denkbar sei zum Beispiel, die Beschneidung im Strafgesetzbuch vom Tatbestand der Körperverletzung auszuschließen, erklärte das Bündnis aus rund zwei Dutzend Organisationen unter Führung des Koordinationsrates der Muslime in Deutschland.