Schier endlos zieht sich die holprige schnurgerade Straße durch die verschneite weißrussische Ebene und zerschneidet riesige Waldflächen. Der Osten Weißrusslands ist nur sehr dünn besiedelt, alle 15 bis 20 Kilometer führt die Straße durch ein kleines Dorf oder eine Abzweigung zu einer noch verlasseneren Gegend. Zum Beispiel nach Surawitschi. Hier, weitab von jeder Stadt, steht ein staatliches Heim für behinderte Kinder, das von der Caritas seit Mitte der 1990er Jahre unterstützt wird.
Als Surawitschi "entdeckt" wurde
Damals, vor mehr als 15 Jahren, sei es ein Schock gewesen, hierher zu kommen, erzählt Sigried Spindlbeck den Teilnehmern an einer Caritas-Reise anlässlich der diesjährigen Kinderkampagne. Sie ist in der Caritas Oberösterreich für die Hilfsprojekte in Weißrussland zuständig. 400 Kinder seien in dem verfallenen Heim unter unmenschlichen Bedingungen regelrecht "aufbewahrt" worden. "Zu Essen gab es nur mehr einige Säcke Kartoffeln und Karotten", schildert Spindlbeck die damaligen Zustände. "Der Putz bröckelte von den Mauern, die Räume waren eiskalt."
Der katholische Pfarrer der zweitgrößten weißrussischen Stadt Gomel, Pater Slawomir, war von Pfarrangehörigen auf das weithin unbekannte Heim aufmerksam gemacht worden. Er setzte sich ins Auto, fuhr eineinhalb Stunden nach Surawitschi und fand die entsetzlichen Zustände vor. Er holte rasch einige polnische Ordensschwestern mit entsprechender Ausbildung ins Land, die fortan die völlig überforderten Betreuer des Heims unterstützen, erzählt die Caritas-Mitarbeiterin Spindlbeck: "Pater Slawomir und die Schwestern haben sich erstmals mit den Kindern beschäftigt. Bis dahin wurden sie ja nur gefüttert, gewaschen und dann in ihren Betten einfach liegen gelassen." Mit der Hilfe der Schwestern konnten die Kinder erstmals ins Freie hinaus, "Gras unter den Füßen, Sonne auf der Haut, einfach das Leben spüren".
Veränderung auch in den Köpfen der Betreuer
Rund 200 Hilfsprojekte betreibt die Caritas in den ärmsten Ländern Osteuropas, 30 davon in Weißrussland. Viele dieser Projekte kommen vor allem Kindern zugute. Das Heim in Surawitschi erreichten im Laufe der Jahre zehn LKW-Ladungen voll mit Hilfsgütern - von Kleidung über Rollstühlen bis zu Nahrungsmitteln.
Das Haus wurde renoviert, Sanitär-, Wohn- und Gruppenräume aber auch Werkstätten und Therapieräume völlig neu hergerichtet und gestaltet. Doch was noch viel wichtiger sei, betont Spindlbeck: "In den Köpfen der Betreuer hat eine Veränderung eingesetzt."
Heute: ein farbenfrohes Haus
Heute, nach gut 15 Jahren, kann Direktorin Natalja Sitschkowa ihre Besucher stolz durch ein farbenfrohes, lebendiges Haus für nur mehr 200 Kinder führen. 100 davon besuchen sogar eine eigene Schule im Heim. In den Gängen wird Tischtennis gespielt, in einer Werkstätte werden Perlenstickereien hergestellt. Im Freien wurde ein großer Garten mit Spielplatz angelegt. Die Kinder und jungen Erwachsenen bauen ihr eigenes Gemüse an, auch eine eigenen Schweinezucht gehört zum Heim.
220 gut ausgebildete Mitarbeiterinnen von Pflegerinnen über Lehrer bis zu Ärzten sorgen für die Kinder. "Wir versuchen so gut es geht eine familiäre Atmosphäre zu schaffen", sagt die Direktorin. Trotzdem: Alles Leid können Sitschkowa und ihr Team und auch die drei polnischen Ordensschwestern, die nach wie vor ehrenamtlich im Heim tätig sind, auch nicht aus der Welt schaffen.
"Es bleibt noch viel zu tun"
Surawitschi liegt nicht zufällig abseits auf dem Land. Zur Sowjet-Zeit sollten Behinderte vor der Gesellschaft verborgen bleiben, weiß Caritas-Präsident Franz Küberl; er nimmt das harte Wort "Isolationshaft" in den Mund. Die behinderten Kinder seien in einer solchen Haft gehalten worden - und ihre Betreuer gleich mit. Diese Mentalität sei immer noch nicht ganz überwunden, doch ein Umdenken sei im Gang, meint Küberl.
Das merkt man in Ansätzen auch daran, dass jedes Jahr mehr Eltern ihre Kinder besuchen kommen. In der Vergangenheit alles andere als eine Selbstverständlichkeit, und auch jetzt sind es erst 70 von rund 200. Küberls Resümee: "In Surawitschi hat sich bereits vieles zum Besseren gewendet, doch es bleibt noch viel zu tun."
Vorzeigeprojekt entsteht in Gomel
Pater Slawomir berichtet über ein massives Problem im weißrussischen Sozialsystem: Die behinderten Kinder werden jeweils mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters von Heim zu Heim weitergeschoben. Mit 31 Jahren endet die Reise gewöhnlich in einem Altersheim. In Surawitschi können die Kinder und jungen Erwachsenen inzwischen zwar etwas länger bleiben, die Situation sei aber nach wie vor unbefriedigend, sagt der Priester.
Deshalb hat er mit seinen polnischen Ordensschwestern ein neues Projekt gestartet: Ein Heim für behinderte Kinder in Gomel. Ein Heim, in dem die Kinder in kleinen familiären Gruppen ihr gesamtes Leben verbringen können.
Spenden aus Österreich
Das Kinderzentrum wird im Mai 2011 in Betrieb gehen und soll für das ganze Land zum Modell werden. In fünf Häusern werden 60 schwerstbehinderte Kinder wohnen. Fünf polnische Benediktinerschwestern sollen das Projekt leiten. Insgesamt werden die Kinder von mehr als 70 Personen betreut. In einem zweiten Ausbauschritt ist auch noch die Errichtung einer Werkstätte und eines kleinen geistlichen Zentrums geplant, erzählt Pater Slawomir, der seit 1990 in Gomel tätig ist. Die Baukosten für das Heim betragen 2,8 Millionen Euro. Finanziert wird es mit Spenden aus Österreich.
Weißrussischen Behörden würdigen Caritas-Arbeit
Pater Slawomir lobt bei diesem Projekt die sehr gute Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen und Einrichtungen - in Weißrussland keine Selbstverständlichkeit: Die Stadtgemeinde Gomel hat das Grundstück zur Verfügung gestellt, die Sozialbehörden garantieren denselben Zuschuss für die Betriebskosten wie bei staatlichen Heimen. Auch mit dem nahe gelegenen Krankenhaus wurden bereits Vereinbarungen über die Behandlung und Therapien für Kinder getroffen. "Die Behörden erkennen immer mehr das viele Gute, dass die Caritas hier leistet", so Pater Slawomir.
Caritas-Spendenkonten: PSK 7.700 004, BLZ 60.000, Kennwort: Kinder in den ärmsten Ländern Europas. Online-Spenden: www.caritas.at