Die ORF-Silvesteransprache von Kardinal Schönborn hat folgenden Wortlaut:
"Das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends geht heute um Mitternacht zu Ende. Ein neues, zweites Jahrzehnt des neuen Millenniums beginnt. Wie war das erste, wie wird das zweite sein? Sorgenvoll blicken wir auf die letzten Jahre zurück: die weltweite Finanzkrise, wirtschaftliche Schwierigkeiten. Vor allem aber die Perspektiven in die kommenden Jahre sind schwierig: Die demografische Entwicklung vor allem in Europa, die Bevölkerung altert, wie werden die Pensionen bezahlt werden? Wie wird es weiter gehen mit den Ressourcen, die knapper werden? Wie wird die Entwicklung mit den Fremden, mit den Zuwanderern aussehen? Alles Fragen, die uns Sorgen bereiten für das neue Jahrzehnt.
Und doch möchte ich Ihnen heute eine Hoffnung sagen, die ich im Herzen trage. Ich möchte sie kleiden in eine Geschichte, die ich bei Elie Wiesel, dem jüdischen Schriftsteller, gelesen habe. Der berühmte Rabbi Baruch hatte einen Enkel. Dieser kam einmal heulend zu ihm ins Zimmer; er fragt ihn: Was ist denn los? Der Enkel erzählt: Ich habe mit meinem Freund verstecken gespielt. Ich hatte ein sehr gutes Versteck gefunden. Er hat mich nicht gefunden, und dann ist er einfach weggelaufen und hat nicht weiter gesucht. Der alte Rabbi streichelt ihm über die Haare und sagt - und es kommen ihm dabei Tränen in die Augen: Siehst du, mein Lieber, so geht es auch Gott. Er hat sich versteckt. Und wir suchen ihn nicht. Diese Geschichte von Elie Wiesel bewegt mich. Denn sie bewegt mich mit der Frage: Wie steht es eigentlich mit dem Glauben in unserem Land? Viele sagen, die Religion verliert immer mehr an Bedeutung. Meine große Hoffnung ist, dass wieder eine Zeit der Gottsuche kommt.
Viele Menschen sind heute unterwegs. Das Pilgern ist eine wahre Mode geworden. Viele pilgern bis nach Santiago de Compostela, sie sind auf der Suche.
Die wirtschaftlichen Perspektiven werden enger. Das Herz darf nicht enger werden. Ich wünsche mir, ich hoffe, dass wir ein suchendes Herz bewahren, ein Herz, das auf die Spuren Gottes in unserem Leben achtet. Ich wünsche mir, dass wir ein waches Herz bewahren für die Not des anderen, offen für die Nöte unseres Nächsten. Und ich wünsche mir, dass wir ein dankbares Herz bewahren. Dankbar auch in schwierigen Zeiten für das, was der oft verborgene Gott uns doch wirklich auch gegenwärtig schenkt.
Das ist meine Hoffnung für mich. Darf ich diese Hoffnung auch Ihnen zusprechen für das beginnende Jahr 2011, Ihnen hier im Dom- und Diözesanmuseum in Anwesenheit dieser ehrwürdigen jüdischen Bibelrolle den Segen Gottes wünschen für ein gutes, gelungenes Jahr 2011."
Die Silvesteransprache Kardinal Schönborns wurde im Wiener Dom- und Diözesanmuseum aufgenommen, wo derzeit eine Bibelausstellung unter dem Titel "Expedition Bibel - Entdeckungsreise mit allen Sinnen" gezeigt wird.

