Dr. Martin Prein: "Die Biologie des Körpers möchte nicht sterben. Die Angst davor dürfte eine anthropologische Konstante, ein universelles Empfinden sein."
Dr. Martin Prein: "Die Biologie des Körpers möchte nicht sterben. Die Angst davor dürfte eine anthropologische Konstante, ein universelles Empfinden sein."
Martin Prein kennt den Tod aus unterschiedlichsten Erfahrungen. Als Bestatter in der direkten Auseinandersetzung mit dem Leichnam und dem Schmerz der Hinterbliebenen, als Sanitäter beim Roten Kreuz oder als Notfallpsychologe.
In Kursen und Vorträgen unterstützt er Menschen, eigene Erlebnisse mit dem Tod aufzuarbeiten, Berührungsängste abzubauen und den Tod als solches zu verstehen.
Bei seiner ersten Beerdigung ist Martin Prein vier Jahre alt. Es ist ein eiskalter Novembertag, als sein Opa am Friedhof begraben wird. „Meine Mama hat mich und meine Geschwister danach geschnappt und zuhause sofort in eine heiße Badewanne gesetzt“, erzählt Prein.
Seinen ersten Toten sieht Martin Prein, als ihn seine Oma in die Häuser der Nachbarn mitnimmt, wenn es dort Verstorbene zu beklagen gibt. Einmal, im Hochsommer, spannt sich ein Moskitonetz über das Totenbett eines Nachbarn, erinnert sich Prein: „Kerzen, Weihrauchduft, Blumen, dazu das Gitternetz und der verstorbene Altbauer – das war sehr unheimlich und mystisch.“
Prein wächst in Pollham auf, einem kleinen Ort in Oberösterreich. Am Wochenende wohnt er bei seiner Mama in der Wohnung, unter der Woche, wenn die Mama arbeitet, ist er bei seiner Oma am Selbstversorger-Bauernhof – hilft mit, Holz zu hacken, sammelt Hühnereier ein, spielt Briefträger oder Rauchfangkehrer.
„Ich erinnere mich noch gut daran, wie sehr mich dieser Rußgeruch fasziniert hat.“ So sehr ist Prein vom Beruf fasziniert, dass er selbst Rauchfangkehrer wird. Es ist der Start seiner Suche nach einem Platz in dieser Welt – und ein Ausprobieren von verschiedensten Jobs: vom Rauchfangkehrer zum Baustoffarbeiter, vom LKW-Fahrer zum Buschauffeur, bis hin zum Sanitäter im Ehrenamt – und zum Bestatter.
Der Tod ist sein Beruf – auch heute noch: Martin Prein ist mittlerweile Doktor der Psychologie und hat in Linz ein Institut für Thanatologie gegründet – der Wissenschaft des Todes, Sterbens und der Bestattung.
In seinen „Letzte Hilfe Kursen“ geht er den Fragen nach: Was macht der tote Körper mit uns Lebenden? Und wie umgehen mit dem Schmerz der Hinterbliebenen?
Wie können wir uns einen solchen Letzte-Hilfe-Kurs vorstellen?
Es geht darum, dass die Menschen in ihrem Trauerfall mehr Selbstbestimmung bekommen. „Ich möchte meinen Opa noch einmal anschauen – und das darf ich auch.“ Es kann sein, dass Betroffene in dieser Situation so überwältigt sind, dass sie das gar nicht mehr einfordern können.
Wie der Erste-Hilfe-Kurs möchte der Letzte-Hilfe-Kurs auf das Solidaritätsprinzip abzielen. Wenn Sie den Kurs besucht haben, dann können Sie für Ihre beste Freundin, deren Vater gerade verstorben ist, mit Rat und Hilfe zur Seite stehen: „Du weißt, du kannst deinen Papa noch einmal anschauen. Ich rufe bei der Bestattung an und begleite dich dorthin.“
Der zweite Teil beschäftigt sich damit, wenn wir vor der Herausforderung stehen, trauernden Mitmenschen zu begegnen. Denn wir treffen sie überall an: die Nachbarin, die beste Freundin, die Arbeitskollegin, deren Kind gestorben ist und jetzt wieder zum Arbeitsplatz zurückgekehrt ist.
Wir erarbeiten im Kurs, dass es bei der Begegnung mit Betroffenen um eine eigene innere Haltung geht. Ich darf genauso hilf- und sprachlos sein. Ich muss keinen klugen tröstenden Satz wissen. Wir reden hier von der akuten Phase, die ersten Stunden, Tage und Wochen.
Viele machen einen Erste-Hilfe-Kurs und müssen ihn vielleicht nie in ihrem Leben anwenden. Aber einen Letzte-Hilfe-Kurs braucht man garantiert, egal ob man Katholik, Buddhist oder Atheist ist. Im Familienkreis sterben die Altvorderen und auch im sozialen Umfeld sind stets Menschen vom Tod betroffen.
Wann sind Sie als Sanitäter erstmals mit dem Tod konfrontiert worden?
Wir wurden zu einem Bauernhof gerufen. Der alte Bauer lag schon reglos in der Bauernstube. Wir haben lange reanimiert. Ich habe die Herzmassage durchgeführt. Irgendwann sagte der Arzt: „Wir hören auf.“ Und ich habe den Handrücken des Mannes hochgehoben und hatte plötzlich ein anderes Gefühl, weil ich gewusst habe, ich habe jetzt einen toten Körper berührt. Der war, wie ich mit der Herzmassage begonnen habe, nicht toter als in diesem Moment.
Durch die Definition des Arztes, er ist tot, war eine andere Empfindung da. Es gibt diese Wirkmacht des Leichentabus. Das Berührungsverbot von Toten ist tief in der Menschenseele verankert.
Wie sind Sie als Bestatter mit der täglichen Konfrontation umgegangen?
Es passiert nach einer Zeit eine gewisse Gewöhnung. Aus Erfahrung kann man schon die Bilder voraussagen, die man vor Ort antreffen wird. Ins Schleudern bringen einem Dinge, die die Routine aus der Bahn werfen, wie etwa tote Kinder. Oder Selbsttötung ist immer etwas Massives, weil da so eine Gewalt dahinter steht, wenn sich jemand vor den Zug wirft oder sich erschießt.
Sie beschäftigen Sie so viel mit dem Tod. Hilft das dann, wenn ein Angehöriger stirbt?
Wenn ein geliebter Mensch von mir stirbt, zieht es mir genauso die Schuhe aus. Ich werde von den Trauerreaktionen umgriffen, von Schmerz und allem, was dazugehört.
Der Vorteil ist vielleicht, dass ich diese Belastungsreaktionen einordnen kann. In den ersten Stunden und Tagen ist man übererregt. Man hat Albträume, es können verschiedene Symptome auftauchen – etwa, dass man glaubt, man ist verrückt. Dass ich permanent das Bild des Toten vor mir sehe, wenn ich die Augen zumache, dass ich einen bestimmten Geruch rieche oder das Gepiepse des EKG-Gerätes vom Notarzt höre.
Ich wüsste, das ist eine ganz normale psychologische Reaktion. Das hilft mir, ehrlich gesagt, gar nicht so sehr. Ich bin genauso eine zerrissene, schmerzerfüllte Seele wie jeder andere.
Wenn man mit dem Sterben konfrontiert ist, kommen die großen Geheimnisse der Menschen zum Vorschein. Plötzlich fängt man an, über den Sinn des Lebens nachzudenken. Warum gibt es den Tod? Welche Gedanken machen Sie sich?
Mit der ständigen Beschäftigung geschieht auch eine Entzauberung der Weltbilder. Ich sehe die nackte Geworfenheit der Menschen in diese Welt. Diese Hilflosigkeit, diese Ohnmacht gegenüber der Natur des Körpers.
Wir sind einerseits Geist und Seele. Wir können uns entwerfen, in die Zukunft, in das Weltall. In Wahrheit sind wir nur Körper, der den Naturgesetzen unterworfen bleibt. Damit müssen wir zurechtkommen. Deshalb betreiben wir Kultur, Gesellschaft, Wissenschaft und Religion, um uns irgendwie zu entängstigen.
Kann Glaube und Religion einen Halt bieten?
Für manche Menschen ist es ein großer Halt, für viele fängt dann das Hadern erst an. Die Theodizee-Frage, warum lässt Gott Leid zu, hat sich die Kirche eingehandelt und kann sie nicht wirklich lösen. Der Atheist tut sich leichter. Er geht davon aus, da gibt es nichts. Wir sind Natur und Kreatur, kommen auf die Welt und sterben. Er ist auch voll des Schmerzes und der Trauer. Er braucht mit diesen Fragen nicht hadern. Ich kenne beide Ansichten.
Wenn man mit dem Tod so viel zu tun hat, geht man dann dem Leben anders um?
Ich bin auch nur eines der armen Würstel, die halt zu dieser Sache mehr lesen und denken. Ich beschäftige mich ausschließlich mit dem Thema, das ist nicht immer einfach. Man kann sich zwar mit vielen philosophischen Klimmzügen viel erdenken, aber wenn die Situation eintritt und ich stehe davor als Mensch, dann weiß ich nicht, wie es mit der Gelassenheit, Gleichgültigkeit oder Akzeptanz auf diesen Tod zuzugehen, aussieht. Es steht einem jedem zu, dass er nicht sterben möchte – bis zum Schluss.
Wenn wir uns mit dem Tod beschäftigen, müssen wir uns mit unserer Angst beschäftigen und was wir dagegen tun. Dann kommen wir drauf, das Einzige, was Sinn macht, sind Beziehungen zu Menschen, dass wir gegenseitig aufeinander aufpassen und dass wir gut miteinander umgehen. Wenn wir genau auf diese Angst schauen, würde niemand mehr einen anderen umbringen und wir würden uns nicht so sehr am Gängelband führen lassen.
Norbert Elias, ein berühmter Soziologe, hat einmal geschrieben: „Die Bewirtschaftung menschlicher Ängste ist die Quelle höchster Macht.“ Je bewusster wir uns dieser Angst werden, desto schwerer wäre dieser Zugriff von außen auf diese Angst.
Haben Sie sich schon Gedanken über das eigene Begräbnis gemacht?
Ich möchte beerdigt und nicht verbrannt werden. Wie der Sarg ausschaut, ist mir egal. Es könnte jemand daherkommen und sagen: „Der beschäftigt sich ja mit dem Tod, der hat bestimmt keine Angst.“ Das Gegenteil ist der Fall.
Ich kenne, wie sich Todesängste anfühlen. Ich hatte vor drei Jahren so etwas, man hat zunächst geglaubt, es wäre ein Herzinfarkt, es war aber keiner. Da weiß man wieder, wo man daheim ist, wenn einem die Todesangst überkommt. Schwere Beklemmungen haben, keine Luft mehr bekommen, in die Knie sinken.
Die Biologie des Körpers möchte nicht sterben. Die Angst davor dürfte eine anthropologische Konstante, ein universelles Empfinden sein.
Dr. Martin Prein
Geboren
1975 in Grieskirchen
Beruf
war als Rauchfangkehrer, Metallarbeiter, Bus- und LKW-Fahrer tätig, bevor es ihn ins Bestattungsgewerbe verschlug, in dem er 15 Jahre lang arbeitete. Heute arbeitet er als Thanatologe und Notfallpsychologe.
Ausbildung
Psychologie-Studium an der Alpen Adria Universität Klagenfurt, Abschluss mit Promotion, Dissertationstitel: Der Leichnam – Das (Un-)Begreifbare der menschlichen Endlichkeit.
Kurs
Der Letzte Hilfe Kurs bietet den Teilnehmern Wissen, Aufklärung und brauchbare Hilfestellungen für künftige Begegnungen mit dem Tod an.
Infos: www.letztehilfekurs.at
Buchtipp
Martin Prein
Letzte-Hilfe-Kurs: Weil der Tod ein Thema ist
Styria Verlag
ISBN: 978-3222136320
Radiotipp
Das ausführliche Interview mit Martin Prein ist im Podcast auf radio klassik Stephansdom unter „Perspektiven“ nachzuhören
Nicht alleine in der Trauer sein
Informationen und Angebote der Kirche, die Betroffenen durch diese schwere Zeit helfen.
weitere Informationen zu
E-Mail-Adresse: redaktion@dersonntag.at