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31.10.2023 · Österreich & Weltkirche

Shevchuk: Hauptaufgabe der Kirche ist es, die Wunden zu heilen

Unser pastorales Motto lautet: „Deine Kirche ist immer und überall bei Dir!"

Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk, Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, im Gespräch bei der Bischofssynode in Rom: Synode, Krieg in der Heimat, Israel-Konflikt, Vorbereitung auf "Zeit nach dem Krieg". - Georg Schimmerl

Wir haben Großerzbischof Sviatoslav Shevchuk, das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche am Rand der Bischofssynode in Rom zu einem Gespräch getroffen. Der 53jährige ist seit 2011 Oberhaupt der größten katholischen Ostkirche. Neben seinen Eindrücken von der Synode ging es natürlich um den Krieg in seiner Heimat, auch auf dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzungen in Israel und wie sich seine Kirche auf die „Zeit nach dem Krieg“ vorbereitet

 

"Welche Eindrücke nehmen Sie von der Bischofssynode mit? Konnten die katholischen Ostkirchen ihre synodale Erfahrung einbringen und wurde ihnen zugehört?

Shevchuk: Ja, wir haben auf dieser Synode wirklich eine große Wertschätzung für unsere Tradition, für unsere Identität, insbesondere für unsere synodale Tradition erfahren. Die lateinische Kirche entdeckt nun die Synodalität wieder, die wahrlich keine moderne Erfindung ist. Die Ostkirchen haben das synodale Prinzip seit den Anfängen der Kirche bewahrt. Wir kennen ein doppeltes Prinzip: Auf der einen Seite haben wir die synodalen Versammlungen, und auf der anderen Seite die Synode. Versammlungen sind ein Raum des Zuhörens. Aber die Bischofssynode ist der Ort der Unterscheidung. Das eine kann nicht ohne das andere existieren, denn eine patriarchale Versammlung braucht die Synode, die gleichzeitig ein beratendes und ein gesetzgebendes Organ ist. Wenn alles besprochen wurde, muss jemand unterscheiden und alle Befugnisse haben, die Entscheidungen in verbindlichen Normen zu fassen. Eine synodale Versammlung ohne die gesetzgebende Synode wäre nur ein Haufen von Schwätzern. Die Kollegialität der Bischöfe beruht auf der Berufung Jesu, der die Bischöfe mit der Lehr-, Leitungs- und Heiligungsvollmacht ausgestattet hat. Aber Bischöfe, die nicht auf das Volk Gottes hören, können keine tauglichen Entscheidungen treffen. Die Beschlüsse der Versammlung sind das Material für die Beratungen der Synoden, und so entsteht das jeweilige Recht jeder einzelnen katholischen Ostkirche.

Mit diesem Zeugnis und dieser Erfahrung sind wir in die Synode gekommen. Ich denke, es ist gut, wenn die lateinische Kirche versteht, dass die Synodalität eine gesunde Dezentralisierung fördert und hilft, aus einem geschlossenen Klerikalismus herauszukommen, aber auch davor bewahrt, Laien zu klerikalisieren. Das Zeugnis unserer Kirchen geht, wie gesagt, auf die Ursprünge der Kirche zurück.

 

Auch der Ukraine-Krieg war wiederholt Thema auf der Synode. Er geht weiter, auch wenn er in der weltweiten Berichterstattung nicht mehr so prominent erscheint. Wie würden Sie die aktuelle Situation beschreiben?

Shevchuk:Der Krieg in der Ukraine ist gerade in den letzten Wochen stark eskaliert, vor allem im Donbass-Gebiet um die Stadt Awdijiwka. Unseren Informationen zufolge verliert die russische Armee allein in diesem Ort fast 1000 Soldaten pro Tag. Das Ausmaß der Verachtung menschlichen Lebens gegenüber, das Russland an den Tag legt, ist erschütternd, nicht nur gegenüber dem Leben von Zivilisten, sondern auch dem ihrer eigenen Leute. Hochrangigen US-Beamte zufolge erschießen Russen ihre eigenen Soldaten, wenn sie nicht vorankommen. Die Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung lässt uns das Blut in den Adern gefrieren.

 

Gibt es irgendeinen „Strohhalm von Hoffnung“ auf eine Lösung?

Shevchuk: Leider haben wir überhaupt keine Aussicht auf ein Ende. Im Gegenteil, wir sehen die Herausforderung des kommenden Winters auf uns zukommen, der noch schwieriger sein wird als im letzten Jahr. In diesem Winter geht es um das nackte Überleben der Zivilbevölkerung. Im vergangenen Jahr hat Russland 60 Prozent des ukrainischen Stromnetzes zerstört. Heuer werden sie versuchen, die restlichen 40 Prozent zu zerstören. Viele Städte werden während des kommenden Winters zu Bedrohung für das Überleben der Zivilbevölkerung werden. Ich kann von der Hauptstadt Kiew bezeugen, wie schlimm es ist, wenn es in einem Wohnhaus mit zwölf oder 13 Stockwerken keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser gibt. Da wird das Leben praktisch unmöglich. Daher ist eine Flüchtlingswelle zu erwarten. Menschen werden nicht nur vor Bombardierungen fliehen, sondern besonders auch vor der Kälte.

 

Nun richten sich mittlerweile die Augen der Welt auf den neuentbrannten Nahostkonflikt. Welche Auswirkungen wird das Ihrer Meinung nach auf den Ukraine-Krieg haben?

Shevchuk: Für uns in der Ukraine wird es immer offensichtlicher, dass Russland mit seinen Verbündeten, etwa dem Iran, den Krieg auf die ganze Welt auszubreiten versucht. Das gilt auch für Israel. Gerade in diesen Tagen ist eine Delegation von Hamas in Moskau. Die Vermutung liegt nahe, dass es eine Verbindung zwischen Russland und dieser Organisation gibt, die international als Terrorgruppe eingestuft wird. Nachdem es nicht möglich war, die Ukraine schnell einzunehmen, sucht Russland auf der ganzen Welt Verbündete.

Wir sehen, dass das Thema Krieg auch zum Thema der Innenpolitik vieler europäischer Staaten, aber auch der Vereinigten Staaten wird. Es liegt auf der Hand, dass die Taktik darin besteht, die Weltmedien zum Thema Ukraine zum Schweigen zu bringen, indem man die Aufmerksamkeit der internationalen Gesellschaft auf das Heilige Land lenkt. Natürlich geht es heute um das Heilige Land. Das Land, die Stadt Jerusalem, heilig für alle drei großen Weltreligionen.

Der Gazastreifen ist so groß wie die Hälfte der Hauptstadt der Ukraine. Die Dimensionen dieser beiden Kriege sind unvergleichlich. Als Ukrainer fühlen wir uns mit den Menschen im Hl. Land aber tief verbunden und beten mit ihnen um Frieden.

 

In der Folge des Krieges in der Ukraine ist eine große ukrainische Diaspora entstanden, die auch ihre Kirche betrifft. Was bedeutet das konkret für Ihre Pastoral und Ihre Kirchenstruktur?

Shevchuk: Ich möchte das in einen größeren Kontext stellen. Es ist eine interessante Tatsache, dass fast alle katholischen Ostkirchen unter Kriegsbedingungen leben: in der Ukraine, Armenien, Syrien, im Libanon, im Irak, jetzt im Heiligen Land, in Eritrea. In vielen Ländern gibt es ein „Aderlass" kirchlichen Lebens auf den ursprünglichen kirchlichen Territorien. Manche Patriarchen und Großerzbischöfe haben mehr Gläubige außerhalb ihres kanonischen Gebietes als zu Hause, zum Beispiel mein chaldäischer Mitbruder im Irak. Auch aus dem Heiligen Land, Palästina, Syrien und dem Libanon fliehen Christen.

 

Und die Ukraine?

Shevchuk: Es ist offensichtlich, dass unsere ukrainische griechisch-katholische Kirche- die größte katholische Ostkirche- unter einer massiven Auswanderung leidet. Wir bluten nicht nur wegen der militärischen Angriffe der Russen aus, sondern auch wegen der damit verbundenen Emigration. Um das Ausmaß dieser Tragödie zu beschreiben, möchte ich einige Zahlen nennen. Vor Beginn des Krieges hatten wir in der Ukraine 46 Millionen Einwohner. Seit Ausbruch des Krieges waren bereits 14 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen - ein Drittel der Bevölkerung. Von diesen 14 Millionen haben 6 Millionen die Ukraine verlassen. Die Zurückgebliebenen sind als Binnenflüchtlinge in anderen Teilen des Landes untergekommen.

 

Wie reagieren Sie als Kirche auf diese Herausforderung?

Shevchuk: Unser pastorales Motto lautet: „Deine Kirche ist immer und überall bei Dir!" Das heißt: wir suchen unsere Gläubigen überall auf, wo sie sich befinden. Das ist vor allem in Polen, Mitteleuropa und Italien. Die letzte Sitzung der Bischofssynode unserer Kirche im September hat sich hauptsächlich mit der kriegsbedingten Auswanderung der Ukrainer und ihrer Begleitung beschäftigt. Wir haben eine soziologische Studie über die neuen ukrainischen Flüchtlinge in Europa in Auftrag gegeben, um die Lage besser zu verstehen. Welche Dynamik ist in dieser Welle enthalten? Wo wollen unsere Gläubigen hin und wie planen sie ihre Zukunft? Zunächst stellt sich heraus: der Großteil unserer ausgewanderten Gläubigen befindet sich hauptsächlich in Polen und Deutschland. Offiziell spricht man in Deutschland von mehr als 2 Millionen Ukrainern, wobei die Angaben schwanken. Vor dem Krieg zählte unsere ukrainische griechisch-katholische Kirche dort 200.000 Gläubige. Einige waren nach dem Zweiten Weltkrieg geblieben. Einige kamen nach dem Fall des Sowjetkommunismus. Aber laut der jüngsten Studie haben wir jetzt 1.200.000 Ukrainer in Deutschland. Wer sind diese Millionen? Es sind vor allem die Frauen mit ihren Kindern. Männer dürfen bekanntlich die Ukraine nicht verlassen. 50 % der Kinder sind unter 16 Jahre alt. Fast 63 % dieser Frauen haben eine Hochschulausbildung.

 

Kurz: der bestausgebildete Teil unserer Gesellschaft lebt nun in Mitteleuropa. Zugleich ist diese Gruppe auch die vulnerabelste. Bei dieser Gelegenheit möchte ich auch den europäischen Nationen danken, die ihre Häuser und ihre Herzen geöffnet haben. Denn mehr als 80 Prozent dieser 6 Millionen wurden von Familien aufgenommen. Es gibt keine Flüchtlingslager für Ukrainer. Das ist wirklich beeindruckend.

 

Wie sieht die Zukunft aus? Wie sehen die Zukunft dieser Frauen und ihrer Kinder aus? Wir haben viele von ihnen über ihre Zukunftspläne befragt. Interessant ist, dass fast alle von ihnen die Entscheidung über ihre Zukunft ihren Kindern überlassen. Wenn die Kinder sich gut in die Schulen in Polen, Deutschland, Österreich und Italien integrieren, werden sie vermutlich bleiben? Fast die Hälfte derer, die wir befragt haben, geht davon aus, nicht mehr in die Ukraine zurückzukehren. Der größte Kummer unserer Gläubigen im Ausland ist die Trennung von den Vätern. Wenn eines Tages der Krieg zu Ende ist, wird sich die drängende Frage der Familienzusammenführung stellen. Wir werden die Hilfe und das Verständnis der europäischen Staaten brauchen, um diese zu erleichtern. Natürlich werden unter diesen Vätern auch viele an der Front schwer verwundete Männer sein. Das Phänomen des Kriegstraumas, das unser Volk gerade erlebt, wird also früher oder später auch mitten in Europa ankommen.

 

Sie sprechen die Kriegstraumata an. Wird das nicht die größte Herausforderung für Ihre Seelsorge in der Zukunft sein?

Shevchuk: Die Traumatisierung wird zur bei weitem größten pastoralen Herausforderung für unsere Kirche. Das zeichnet sich längst ab. Der WHO zufolge ist ein Trauma „ein belastendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. In diesem Sinn sind fast achtzig Prozent der Ukrainer in unterschiedlichem Ausmaß traumatisiert. Ich kann auch persönlich bezeugen, dass man, wenn man einmal im Leben persönlich ein Bombardement erlebt hat, diese Erfahrung nur schwer loswird. Natürlich ist die Erfahrung des Krieges regional, aber auch persönlich unterschiedlich. Die Vielfalt dieser Erfahrung führt in der ukrainischen Gesellschaft schon jetzt zu Spaltungen. Ein verwundeter Soldat kehrt im besten Fall physisch nach Hause zurück. Auf psychischer Ebene ist es fast unmöglich, aus dem Krieg zurückzukommen. Oder nehmen wir das Beispiel der Hauptstadt Kiew: Einige sind geblieben, einige sind vor der anrückenden Armee geflohen und später zurückgekehrt. Die Verbliebenen verstehen sich nun mit den Rückkehrern nicht und machen ihnen Vorwürfe. Viele andere Bruchlinien in der Gesellschaft treten bereits jetzt auf und sind Vorboten, möglicher künftiger sozialer Verwerfungen. Deshalb wird die Seelsorge der Kirche für Jahrzehnte eine Seelsorge der Heilung von unterschiedlichen Kriegsverwundungen sein. Schon jetzt haben wir eine verpflichtende Ausbildung für alle Priester begonnen, einen zertifizierten Kurs, damit sie gut dafür gerüstet sind, pastoral, aber auch psychologisch und spirituell die Menschen begleiten zu können.

 

Haben Sie als Ukrainer und Oberhaupt der ukrainischen katholischen Kirche den Eindruck, dass man in Europa diesen Krieg in seiner ganzen Tragweite verstanden hat?

Shevchuk: Ich glaube, dass Europa mittlerweile langsam zu verstehen beginnt, dass das kein ukrainischer ist, sondern ein neokolonialer Krieg in Europa ist. Er muss beendet werden. Dieser Krieg wird aber auch zum Katalysator für viele Veränderungsprozesse sowohl in Europa als auch in Russland. Wir hoffen wirklich, dass der Aggressor bald die Angriffe beendet, aber wir müssen ihn alle gemeinsam aufhalten. Und dabei geht es nicht nur um Waffen. Es geht um die Wahrheit und um die Prioritäten in Europa als demokratischem Kontinent, für den das menschliche Leben und die Achtung der Würde der menschlichen Person einen der höchsten Werte darstellt. Die Menschenwürde ist kein Verhandlungsgegenstand. Die Europäer müssen verstehen, dass jeder Cent, den sie Russland im Austausch für billiges Gas, Öl oder Erdöl geben, in Waffen umgewandelt wird. Kein System von Sanktionen wird den Krieg stoppen, wenn man die grundlegenden Werte außen vorlässt. Die europäischen Grundwerte müssen im Vordergrund stehen, wenn wir über eine Zukunft für die Ukraine, für Russland, aber auch für Europa selbst sprechen. Es ist offensichtlich, dass dieser Krieg katastrophale Zerstörungen verursacht, aber in erster Linie zerstört er den Menschen und die Menschenwürde.

erstellt von: Georg Schimmerl aus Rom
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Persönlichkeiten wie Bürgermeister Michael Ludwig, der ernannte Erzbischof Josef Grünwidl, Christa Kummer und Gery Keszler geben am 1. Dezember Impulse bei einem Gebetsabend für den Frieden in der Welt.

Licht ins Dunkel

Antworten von Kardinal Christoph Schönborn in der Tageszeitung HEUTE am 28.11. 2025

Regina Polak neue Präsidentin des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit

Wiener Pastoraltheologin übernimmt Leitung des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit – Seit 1956 engagiert für den Dialog zwischen den Religionen.

Grünwidl: "Wir müssen offensiver auf die Menschen zugehen"

Designierter Wiener Erzbischof im Interview mit neuem Kirchenzeitungsmagazin über Kirchenmitgliedsbindung und Bringschuld der Kirche: Müssen Schätze der Kirche heben und den Menschen anbieten.

Konzil lebt weiter: Synodaler Prozess als neue Ära der Kirche

Synodalität als Konzils-Erbe: Die Kirche öffnet sich für mehr Beteiligung und eine neue Kultur des Miteinanders. Aufbruch zu einer Kirche, in der alle Getauften Verantwortung tragen.

Gemüse in der Wüste – Hoffnung für Turkana

Landwirtschaft statt Hunger: Ein Projekt verwandelt Kenias Wüste in fruchtbares Land. Am 2. Dezember besucht eine Gruppe von Aktivisten Wien und berichtet von ihrer Arbeit

„In unitate fidei“ – Papst Leo XIV. ruft zur Einheit der Christen auf

Christologische Grundlagen des Konzils von Nizäa als Kompass für die Zukunft der Kirche und für die ökumenische Versöhnung.

Erstmals Frau an der Spitze der Österreichischen Ordenskonferenz

Priorin Sr. Franziska Madl OP übernimmt als erste Frau den Vorsitz der Österreichischen Ordenskonferenz.

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