Wer viel hat, muss viel loslassen
Wer viel hat, muss viel loslassen
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn
zum Evangelium am 28. Sonntag im Jahreskreis,
14. Oktober 2012 (Mk 10,17-30)
Dieser Tage habe ich wieder einmal in den ersten „Gedanken zum Sonntagsevangelium“ (2.9.2001) rein gesehen. Seither durfte ich viele hunderte Male in der Kronen Zeitung am Sonntag das Evangelium auslegen. Immer noch macht es mir große Freude, und stets bewahre ich Hans Dichand, dem Gründer dieser Zeitung, meine Dankbarkeit, dass er mir und all den vielen, die die Kronen Zeitung lesen, die Möglichkeit eröffnet hat, das Wort der Frohen Botschaft Sonntag für Sonntag zu lesen und zu bedenken.
Damals begründete Hans Dichand, warum in seiner Zeitung dem Evangelium ein wichtiger Platz gegeben wird: „Das Wort, das die Evangelisten aufgezeichnet haben, gilt für alle, für fromme Christen wie für die vielen, die die Kirche nur von außen sehen oder höchstens bei Taufen, Hochzeiten oder ähnlichen Anlässen. Die Botschaft hat nichts von ihrer Aktualität verloren, sie ist heutig, gehört zum Tag, zum Leben. Sie soll uns leben lehren und leben helfen. Sie ist eine Antwort, auf die ständig wachsende Ratlosigkeit der Menschen.“
So erlebe ich das Evangelium für mich selber: Es ist eine unerschöpfliche Quelle des Rates, der Orientierung. Es gehört zu meinem Leben und hilft mir. Das kann es nur, wenn es bekannt ist, wenn viele es lesen. Das Evangelium gehört zu unserer Kultur. Es hat sie jahrhundertelang geprägt und soll sie weiter prägen.
Das heutige Evangelium ist ein schönes Beispiel dafür. Es ist Allgemeingut unserer Kultur geworden, zum Sprichwort. „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in die das Reich Gottes gelangt.“
Anlass für dieses Bildwort war die schmerzliche Erfahrung, dass ein Mann nicht vom Reichtum loslassen konnte, um Jesus frei und arm nachzufolgen. Offenbar hatte dieser „reiche Jüngling“ eine große Sehnsucht im Herzen. Er wollte mehr als Geld und Erfolg. Jesus sah ihn liebevoll an, lud ihn ein, alles loszulassen und sich ganz auf ihn, Jesus, und seinen Weg einzulassen. Doch das war dem Mann zu steil. So ging er traurig weg.
Wie schwer ist es doch, loszulassen! Wer viel hat, muss viel loslassen. Daher Jesu schockierendes Wort vom großen Kamel und dem kleinen Loch einer Nadel. Kann ich loslassen? Diese Frage stellt das Evangelium heute mir – und jedem, der es hört. Mir fällt es nicht leicht. So frage ich mit den damaligen Jüngern: „Wer kann dann noch gerettet werden?“ Jesu Antwort ist klar: Niemand! Keiner kann sich selber retten! Kein Reicher – und kein Armer. Der Arme weiß es nur deutlicher. Gott alleine kann uns retten. Durch das enge Tor zum Leben komme ich nur an Seiner Hand. Er reicht sie mir. Ich muss sie nur ergreifen.
In jener Zeit lief ein Mann auf Jesus zu, fiel vor ihm auf die Knie und fragte ihn: Guter Meister, was
muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?
Jesus antwortete: Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut außer Gott, dem Einen. Du kennst doch die Gebote: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsch aussagen, du sollst keinen Raub begehen; ehre deinen Vater und deine Mutter!
Er erwiderte ihm: Meister, alle diese Gebote habe ich von Jugend an befolgt. Da sah ihn Jesus an, und weil er ihn liebte, sagte er: Eines fehlt dir noch: Geh, verkaufe, was du hast, gib das Geld den Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach!
Der Mann aber war betrübt, als er das hörte, und ging traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen.
Da sah Jesus seine Jünger an und sagte zu ihnen: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Die Jünger waren über seine Worte bestürzt. Jesus aber sagte noch einmal zu ihnen: Meine Kinder, wie schwer ist es, in das Reich Gottes zu kommen! Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Sie aber erschraken noch mehr und sagten zueinander: Wer kann dann noch gerettet werden?
Jesus sah sie an und sagte: Für Menschen ist das unmöglich, aber nicht für Gott; denn für Gott ist alles möglich. Da sagte Petrus zu ihm: Du weißt, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt.
Jesus antwortete: Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen: Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser, Brüder, Schwestern, Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben.