Tierliebhaber, Naturschützer und Anwalt der Armen: Franz von Assisi ist so etwas wie der "Super-Heilige" der katholischen Kirche. Fast wäre er auch Gründer einer neuen Religion geworden. Auslöser war ein Ereignis vor 800 Jahren.
Es war der 14. September 1224, Fest der Erhöhung des Kreuzes Jesu Christi. Franziskus, anerkannter und beliebter Gründer des Ordens der Minderbrüder, meditiert in einer Einsiedelei auf dem Berg La Verna in der östlichen Toskana. Da erscheint ihm ein Seraph, ein Engel mit sechs Flügeln, wie an ein Kreuz geheftet. Während Franziskus über die seltsame Erscheinung nachdenkt, beginnen "an seinen Händen und Füßen die Male der Nägel sichtbar zu werden".
So zumindest beschreibt es Thomas von Celano in seiner 1228 verfassten ersten Lebensgeschichte des Franz von Assisi. Später schreibt er zwei erweiterte Fassungen. Mit der Vita beauftragt hatte ihn Papst Gregor IX. Und dem ging es dabei auch um politische Interessen, für die die Wundmale, Stigmata genannt, des erfolgreichen Ordensgründers wichtig wurden. Dabei sind Stigmata eher ein Phänomen der Moderne.
Erst im 19. und 20. Jahrhundert tauchen hundertfach Berichte auf von Menschen, die ständig oder zeitweise die Wundmale Christi an ihrem Körper tragen: an Händen, Füßen, Brust und Kopf. Oft sind es junge Frauen wie die "Mystikerin des Münsterlandes", Anna Katharina Emmerick (1774-1824), die bayerische Seherin Therese Neumann von Konnersreuth (1898-1962) oder die französische Mystikerin Marthe Robin (1902-1981).
Der Kapuzinermönch Pio von Pietrelcina (1887-1968), bekannt als Padre Pio, gilt neben Franz von Assisi als einer der ganz wenigen stigmatisierten Männer. Sofern es kein Betrug mit Selbstverletzung und Wundermittelchen ist, führen Experten Stigmata auf Auto- oder Fremdsuggestion zurück. Religiöse Fantasien hätten mehr Kraft, körperliche Symptome auszulösen, als andere Fantasien.
Im 13. Jahrhundert jedoch interessierten weniger medizinische Phänomene. Wichtiger war, was diese Zeichen bedeuten. Weswegen es bei Franziskus zu "einer brisanten theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzung" kam, wie der Schweizer Journalist und Franziskus-Biograf Paul Bösch in einem 2009 erschienen Aufsatz schrieb. Beteiligt am rund 180 Jahre dauernden Prozess der Verklärung des Franziskus zu einem "zweiten Christus" waren: der Franziskanerorden, dessen extremistische und traditionalistische Fraktionen, konkurrierende Orden, die Päpste sowie deren politische Verbündete und Gegner.
Begonnen hatte es mit einer kurzen Notiz über den Tod des Franziskus am 3. Oktober 1226. Leo von Assisi, Beichtvater und Sekretär von Franziskus, "der zugegen war, als er (Franziskus) nach seinem Tode vor dem Begräbnis gewaschen wurde", so ein Chronist, habe berichtet, dass Franziskus "genau so aussah wie ein Gekreuzigter nach der Kreuzabnahme". Dass an Händen und Füßen so etwas wie Wundmale zu sehen waren, dürfte sicher sein. Die sollen aber auch erst kurz vor seinem Tod aufgetreten sein, "am fünfzehnten Tag vor seinem Hinscheiden" - und nicht schon 1224, also zwei Jahre vor seinem Tod.
Bald nach dem Tod des Ordensgründers verkündete dessen Stellvertreter Elias von Cortona in einem Rundschreiben "eine große Freude und ein neues Wunder. Noch nie ist ein solches Zeichen vernommen worden außer beim Sohn Gottes, der Christus und Herr ist. Nicht lange vor seinem Tod erschien unser Bruder und Vater als Gekreuzigter mit fünf Malen an seinem Körper, die wahrhaft die Stigmata Christi sind. Denn seine Hände und Füße hatten gleichsam von beiden Seiten her die Löcher der Nägel, die Narben zurückließen und die Schwärze der Nägel zeigten. Seine Seite erschien wie von einer Lanze durchstoßen und schwitzte häufig Blut aus."
Mit dem "neuen Wunder", den "nie vernommenen Zeichen ... außer beim Sohn Gottes" und den "wahrhaften Stigmata Christi" begann die Verklärung des Mannes aus Assisi. Papst Gregor IX. selbst zweifelte zunächst. Ein Traum zerstreut die Skepsis, sprach Franziskus im Juli 1228 heilig und beauftragte Thomas von Celano mit einer neuen Heiligen-Vita.
Dennoch musste die Ordensleitung der Franziskaner einräumen: "Viele auf dem Erdenrund zweifeln an den Wundmalen." Der Bischof von Olmütz ermahnte die Gläubigen: "Nur der Sohn des ewigen Vaters ward zum Heil der Menschheit gekreuzigt, und nur dessen Wunden dürfen verehrt werden. Weder der heilige Franziskus noch sonst ein Heiliger der Kirche Gottes ist mit den Stigmata ausgezeichnet, und wer das Gegenteil sagt, sündigt ...".
Dagegen schärften päpstliche Dekrete den Glauben an die Stigmata ein, drohten Zweiflern mit Exkommunikation. Die Päpste brauchten den bei Volk und Fürsten einflussreichen Franziskanerorden auch als Verbündeten gegen politische Gegner. Zugleich sahen sie, wie die evangeliumsgemäßere Lebensweise der Minderbrüder das religiöse Leben wiederbelebte.
Rund 400 Jahre lang waren die Stigmata das besondere Privileg des Franziskus. Erst 1630 anerkannte die Kirche offiziell, auch Katharina von Siena (1347-1380) habe solche Male am Körper getragen. Dabei waren Stigmata im 13. Jahrhundert nicht ganz unbekannt. Sie fanden sich aber bei Menschen, die sich die Wunden selbst beigebracht hatten, um mit Christus mit zu leiden. Sie durften sich nur nicht anmaßen, Christus ähnlich zu sein.
Um Franziskus einem solchen Vorwurf zu entziehen, hieß es immer öfter, Gott selbst habe Franziskus ausgewählt und ausgezeichnet. Autoren zählten mehr und mehr Ähnlichkeiten und Parallelen im Leben Christi und des Franziskus, sodass der Mann aus Assisi wiederholt als "anderer oder neuer Christus" bezeichnet wurde. Am Ende wurde gar debattiert, ob seine Wundmale mehr zur Erlösung der Menschen beitrügen als Passion, Tod und Auferstehung Christi.
Radikale Franziskaner-Gruppen wie Spirituale und Fratizellen sahen in solcher Franziskus-Verklärung die Möglichkeit, sich mit einem neuen Erlöser von der verhassten und reichen Papstkirche abzuwenden. Was wäre passiert, hätten sie sich durchgesetzt, fragt Franziskus-Biograf Bösch: Wäre eventuell eine neue Religion entstanden? Wie bei der Abspaltung der Christen vom Judentum oder der Muslime von Juden- und Christentum? Nun - die Franziskaner blieben kirchentreu - und Franziskus nur ein menschlicher Heiliger.