"Die wichtigsten Menschen auf Erden" beleuchtet geistlichen Missbrauch in katholischer Gemeinschaft - Autor Walter Ender betont in historischer Aufarbeitung aktuelle Relevanz.
Eine historische Analyse spirituellen Missbrauchs hat der Religionspädagoge Walter Ender mit dem Buch "Die wichtigsten Menschen auf Erden" vorgelegt. Die Neuerscheinung analysiert spirituellen Missbrauch in der Frühzeit der Katholischen Glaubensinformation (KGI) - einer Einrichtung der Erzdiözese Wien - und der zugehörigen Jüngergemeinschaft. Ender, der als Theologe und schulischer Fachinspektor für Religion bis 2023 in Wien und Niederösterreich tätig war, beschreibt anhand historischer Fälle aus den 1960er- bis frühen 1990er-Jahren, wie manche Dynamiken und Strukturen bis heute fortwirken. Sein Buch versteht er als Hilfestellung für Betroffene "damals wie heute": Ziel sei es, "Deutungswerkzeuge an die Hand zu geben", um missbräuchliche Muster zu erkennen, so Ender im Kathpress-Interview.
Der Religionspädagoge, der selbst knapp 20 Jahre Teil der Gemeinschaft war, beschreibt anhand historischer Fälle aus den 1960er- bis frühen 1990er-Jahren, wie spiritueller Missbrauch funktioniert, warum er häufig kaum erkennbar ist und welche Gefahren insbesondere von religiösen Intensivgemeinschaften ausgehen. Erstmals habe er diese Phänomene 1998 in seiner Dissertation beschrieben, so Ender: "Etwas, was ich damals zwar als Phänomen aufgezeigt habe, nämlich die Dinge, die man jetzt Missbrauch nennt, dafür hat es damals aber keine Bezeichnung gegeben und ich habe es nicht ausreichend damals analysiert", so Ender. Erst spätere kirchliche Missbrauchsdebatten hätten frühere Mitglieder veranlasst, rückblickend zu fragen: "War das nicht geistlicher Missbrauch damals, was wir erlebt haben?"
Wachsende Sensibilität
Heute bestehe in der Kirche eine deutlich erhöhte Aufmerksamkeit für Missbrauchsdynamiken. "Es gibt jetzt eine weit größere Sensibilität für all das, was Missbrauch ist ... auch und gerade in der Kirche", sagt Ender. Die Auseinandersetzung nehme zu und das Thema werde auch in der österreichischen Bischofskonferenz ernst genommen. Dennoch sieht der Theologe strukturellen Verbesserungsbedarf: Intensivgemeinschaften bräuchten "eine wohlwollend kritische Begleitung".
Zudem fordert er eine theologische Überprüfung weiterhin verbreiteter KGI-Materialien wie Spruchplakate oder Glaubensbriefe: "Ich würde mir wünschen, dass es jemanden gibt, der sich verantwortlich fühlt für das, was hier geschrieben wird." Die KGI ist bis heute tätig - u.a. auch mit einer KGI-Jugend - ihr Zentrum liegt in Schwarzau am Steinfeld (NÖ); regelmäßig werden etwa Glaubensbriefe und Glaubensbüchlein veröffentlicht.
Wie spiritueller Missbrauch entsteht
Missbrauch beginne selten abrupt, sondern sei "ein schleichender Prozess", erklärt Ender, der einen stufenhaften Prozess ausmacht: Zunächst erlebe man eine offene, zugewandte Atmosphäre. In einem zweiten Schritt komme es zu ersten Verpflichtungen; letztlich stehe häufig das Ziel eines Ordenseintritts im Raum: "In der dritten Ebene kommt dazu, eigentlich geht es darum, dass ich in einen Orden eintrete."
Zu den zentralen Warnsignalen zählen laut Ender Situationen, in denen spirituelle Autorität mit göttlichem Anspruch verknüpft, also sakralisiert werden. "Überall dort in einer Gemeinschaft, wo die Person, die die anderen begleitet, den Anspruch erhebt, dass das, was sie sagt, ident ist mit dem Wort Gottes, wäre für mich ein gefährlicher Punkt."
Problematisch sei auch, wenn wichtige Lebensentscheidungen in emotional aufgeladenen Gottesdiensten gefällt würden statt auf Basis von Argumenten. Manipulation spiele ebenfalls eine große Rolle. Und auch die Bibel werde "eingesetzt, um zum Ziel zu kommen, das man möchte".
Junge Menschen gerieten dadurch in starke Abhängigkeiten, verpflichteten sich durch Weihen oder Versprechen und würden innerlich wie äußerlich gebunden. Besonders wirkmächtig sei dabei die spirituelle Dimension: "Wenn ich weggehe, dann entfremde ich mich diesem Gott oder ich entscheide mich gegen ihn", erklärt Ender die Dynamik der Abhängigkeit.
Abstand ermöglicht klareren Blick
Wer den Eindruck habe, in missbräuchliche Strukturen geraten zu sein, solle sich an unabhängige Stellen wenden, rät Ender und nennt die Stabsstelle für Prävention von Missbrauch und Gewalt in der Erzdiözese Wien. Auch ein externer Seelsorger könne hilfreich sein. Dieser sei dem Autor in seiner damaligen Gemeinschaft untersagt worden, wie er berichtet.
Die Dauer der Aufarbeitung sei individuell sehr unterschiedlich; verzerrte Gottesbilder wirkten oft jahrelang nach: "Ich war ja nur sehr kurz im Orden, aber das hatte ganz lange noch nachgewirkt." Das Erlernte und Praktizierte könne nicht einfach abgestreift werden und wirke teils noch in weiteren Lebensabschnitten fort. Auch die Rückschau sei noch viele Jahre später durch die Arbeit an dem Buch belastend gewesen.
Sammelbegriff
"Geistlicher Missbrauch" bzw. "spirituelle Gewalt" ist ein bisher nicht klar definierter Sammelbegriff. Meist geht es um Missbrauch geistlicher Autorität oder Machtmissbrauch im religiös-spirituellen Zusammenhang. Gemeint ist, dass Personen aus Seelsorge, Religionsunterricht, geistlicher Begleitung oder Verantwortliche in Kirchen, Orden und geistlichen Gemeinschaften andere Menschen manipulieren und sie ausnutzen - vorgeblich im Namen Gottes oder der Religion.
Der Missbrauch kann nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch von ganzen Gemeinschaften ausgehen. Manchmal können diese Grenzverletzungen auch mit sexualisierter oder mit anderen Formen körperlicher Gewalt verbunden sein.
Buch: Die wichtigsten Menschen auf Erden. Geistlicher Missbrauch in der Frühzeit der Katholischen Glaubensinformation und der Jüngergemeinschaft; Autor Walter Ender, ISBN 978-3-643-51248-2, LIT-Verlag.