"Wir können nicht das Leid der ganzen Welt tragen. Aber wir können wie Jesus hinschauen, stehen bleiben, Leid wahrnehmen, trösten", so Kardinal Christoph Schönborn.
"Wir können nicht das Leid der ganzen Welt tragen. Aber wir können wie Jesus hinschauen, stehen bleiben, Leid wahrnehmen, trösten", so Kardinal Christoph Schönborn.
Gedanken von Kardinal Christoph Schönborn zum Evangelium am Sonntag, 5. Juni 2016 (Lk 7,11-17)
Um Mitgefühl geht es im heutigen Evangelium. Berührt uns das Leid anderer? Lassen wir uns davon berühren? Wie weit kann und soll das gehen? Ich kann ja nicht das Leid der ganzen Welt in mich aufnehmen! Wieviel Mitleid ist möglich? Wieviel ist lebbar? Und was ist das eigentlich: echtes Mitleid?
Jesus hat oft Mitleid gezeigt. Wie hat er das gelebt? Sicher nicht als eine Art Allerweltsgefühl. Einen Weltschmerz über all das Leid, das das Leben auf dieser Erde prägt. Jesu Mitleid ist immer konkret. Und das beginnt damit, dass er Menschen in ihrem Leid wahrnimmt. Er bemerkt es, sieht es, und geht nicht einfach daran vorbei.
Heute ist das besonders eindrucksvoll. Jesus ist unterwegs. Viele Leute begleiten ihn. Sie sind ganz auf ihn ausgerichtet, sind von ihm fasziniert, von seinen Worten, von den Heilungen, die durch ihn geschehen. Damals war die Begeisterung für Jesus noch groß. Nur so erklärt sich, warum eine so große Menschenmenge tagelang mit ihm unterwegs sein konnte. Die Leute waren voller Erwartung, wollten Wunder sehen, hofften auf Heilung. Später kam eine Zeit, wo die Begeisterung abflaute, weil Jesus nicht alle Erwartungen erfüllte, die an ihn herangetragen wurden. Was Jesus die Leute lehrte, war keine einfache Kost. Es war anspruchsvoll. Es forderte heraus, das eigene Leben zu ändern, und das war manchen zu viel verlangt.
Was im heutigen Evangelium berichtet wird, hat freilich vorerst dazu beigetragen, dass Jesus noch berühmter wurde und noch mehr Menschen sich ihm anschlossen. Und tatsächlich: Eine Totenerweckung mit eigenen Augen zu sehen, das war eine unglaubliche Sensation. Darüber wurde überall gesprochen. Das übertraf alle anderen Wunder, die von Jesus berichtet wurden. Aber darin lag auch die Gefahr des Missverständnisses: dass es bei den Leuten zu einer Art Wundersucht kam. Dass von Jesus vor allem immer spektakulärere Wunder erwartet wurden. Doch darum ging es Jesus nicht. Deshalb musste er früher oder später enttäuschen. Was aber war sein eigentliches Anliegen?
„Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte ihr: Weine nicht!“ Jesus hat mit einem Blick die Not dieser Frau erfasst. Sie ist Witwe, und da wird ihr einziger Sohn zu Grabe getragen. Er geht zur Bahre und heißt den jungen Toten aufzustehen. „Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück.“
Kein Wunder, dass dieses Wunder Jesus noch bekannter gemacht hat. Wer aber von Jesus vor allem Wunder erwartet, wird enttäuscht werden. Denn damals wie heute gab es viele tragische Todesfälle. Jesus hat sie nicht alle wieder auferweckt. Damals wie heute waren solche Wunder eine Ausnahme. Es gab und gibt sie, und das ist wichtig. Aber es ist nicht das Hauptanliegen Jesu.
Jesus „hatte Mitleid mit ihr“: Darum geht es. Jesus sieht die Not, er bemerkt sie und lässt sich davon berühren. Darum geht es damals wie heute. Wir können nicht das Leid der ganzen Welt tragen. Aber wir können wie Jesus hinschauen, stehen bleiben, Leid wahrnehmen, trösten. Und vor allem: Es darf nicht beim bloßen Mitgefühl bleiben. Das Mitleid muss zur helfenden Tat werden. Tote werden wir nicht auferwecken, aber Leid lindern, das können wir sicher.
In jener Zeit ging Jesus in eine Stadt namens Nain; seine Jünger und eine große Menschenmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, trug man gerade einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Dann ging er zu der Bahre und fasste sie an. Die Träger blieben stehen, und er sagte: Ich befehle dir, junger Mann: Steh auf! Da richtete sich der Tote auf und begann zu sprechen, und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns aufgetreten: Gott hat sich seines Volkes angenommen. Und die Kunde davon verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum.
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